Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Zeit in Zeiten von Corona: Vollbremsung mit Muße
> Corona entschleunigt. Auf einmal wäre Zeit für so vieles, die Ukulele zum
> Beispiel. Doch irgend etwas stimmt nicht. Hat die Autorin die Muße
> verlernt?
Bild: So, jetzt müsste man sich nur noch eine Ukulele aussuchen und üben, üb…
Zu meiner Kindheit gehörte die Langeweile. Sie war verlässlich, kam oft im
Matheunterricht, manchmal an Sonntagnachmittagen oder auch Feiertagen, eben
dann, wenn nichts los war auf dem Hof unseres Mehrfamilienhauses, alle
Nachbarskinder verreist, die Familie beschäftigt, die Uhr ohne Zeit.
Spätestens im Arbeitsalltag war sie allerdings verschwunden und stattdessen
begann die Raserei: tagsüber durch Projekte und Themenrunden, Konzepte,
E-Mails und Texte. Und nach Feierabend munter weiter auf ein Getränk mit
KollegInnen und Freunden, vielleicht eine Vernissage oder Lesung, Joggen im
Park, Netflix, das ungelesene Buch auf dem Nachttisch oder doch gleich ins
Bett, weil viel zu müde für all dies. Zu tun gab es immer reichlich – bis
es zur Vollbremsung kam.
Gerade mal fünf Wochen sind vergangen, seitdem ich meine letzte Kolumne
geschrieben habe. Nur 30 Tage, in denen die Zeit gehörig aus den Fugen
geraten zu sein scheint und viele von einer Zeitenwende sprechen, nun, da
wir realisieren, dass das Coronavirus wohl auch unsere Sommer- und
Herbstpläne kassieren wird.
PolitikerInnen haben inzwischen die „neue Normalität“ ausgerufen, derweil
SoziologInnen und ZeitforscherInnen von „Entschleunigung“ oder von der
„Entstrukturierung“ der Zeit sprechen. Gemeint ist unser aller Alltag mit
Mindestabständen, Kontaktverboten, Homeoffice und einer Zeitrechnung, in
der die Tage ohne die gewohnten Termine, Verabredungen, Wege und Routinen
zerfließen wie Schokoladeneis in der Sonne.
## Historisches Zeitgeschenk
Die neue Zeit ist ungleich verteilt. Während die einen bis zur Erschöpfung
Supermarktregale einräumen, kranke und alte Menschen pflegen,
Videomeetings absolvieren und nebenbei die Kinder beschulen, freuen sich
andere über das historische Zeitgeschenk.
So wie ich. Dank eines Arbeitsvertrags, einer Mietwohnung mit Mann,
Dachterrasse und Klopapier sowie gesunden Freunden und Eltern komme ich
gerade gut durch die Zeit. Das heißt: Ich bin zum Glück weder einsam, hege
keine existenziellen Sorgen und habe auch keine Angst vor einer Ansteckung
mit Covid-19.
Warum also nicht die Krise nutzen und aus der Not eine Tugend machen?
Endlich mal richtig Zeit zum Kochen, Sport treiben, Ukulele üben. War jetzt
nicht die Gelegenheit, eine neue Sprache zu erlernen? In die Tat umgesetzt
habe ich bisher allerdings wenig von alldem. Nicht dass ich mich auf der
Suche nach der sinnvollsten aller Beschäftigungen ständig für Zerstreuung
entscheiden würde. Es ist vielmehr so, dass mich die ungeahnten
Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung fordern oder überfordern. Habe ich die
Muße verlernt?
Wahrscheinlich scheitere ich an meinen „Resonanzerwartungen“, lese ich in
einem Interview mit dem Soziologen und Zeitforscher Hartmut Rosa. Denn
viele von uns urbanen Kreativ-, Lohn- und DigitalarbeiterInnen im
spätmodernem Hamsterrad des Kapitalismus hätten es schlicht verlernt, sich
auf eine Sache einzulassen, die innerlich berührt und bewegt, ohne dabei
To-do-Listen abzuarbeiten oder Dinge zu organisieren.
## Intensität des Augenblicks
Vielmehr erfahren wir in diesen Tagen, dass, während wir davon träumten,
endlich mal wieder ein Bild zu malen, wir uns eben nicht einfach so vor die
Staffelei im Arbeitszimmer stellen und von Glück berauscht loslegen.
Möglicherweise haben wir nicht mal mehr Lust dazu. SoziologInnen sprechen
dann von einer „Neujustierung der Resonanzsachen“, das heißt, wir müssen
unser Leben mit neuen Dingen füllen.
Ob uns dies gelingen wird, werden wohl die nächsten Wochen zeigen. Was uns
das Leben mit der Pandemie aber schon jetzt offenbart, ist der Blick hinter
die eigenen Kulissen. Vielleicht realisieren wir nun, da wir richtig
Leerlauf haben, wie stark unsere innere Uhr und unsere Beziehung zur
Außenwelt einer auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftslogik folgt, nach
der wir das Leben eher abarbeiten, anstatt es zu spüren und uns auf die
Intensität des Augenblicks einzulassen.
Doch vielleicht verhält es sich mit der neuen Zeit durch Corona auch so wie
bei unserer ersten Vollbremsung, damals als wir Fahrradfahren lernten: Wir
fallen um, richten uns wieder auf und fahren langsamer weiter.
3 May 2020
## AUTOREN
Julia Boek
## TAGS
Teilnehmende Beobachtung
Langeweile
Ukulele
Zeitdruck
Schwerpunkt Coronavirus
Teilnehmende Beobachtung
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Hausbewohner
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sommer vorm Balkon: Ein Abschied in glühenden Farben
Berlin im Winter ist nicht so dolle. Aber im Sommer! Selbst in
Corona-Zeiten. Eine – allerletzte – Kolumne unserer Autorin über ihre
Wahlheimat.
Rügen im Zeichen der Corona-Krise: Insel auf Zwangsurlaub
Normalerweise würde Roberto Brandt jetzt Hering fangen. Das Restaurant
Diavolo wäre voll. Doch Touristen ist die Reise nach Rügen strikt
untersagt.
Hürden im Alltag mit Corona: S wie Seife, S wie Solidarität
Alle Reisepläne futsch. Geburtstagsparty fällt aus … Aber könnte aus der
Corona-Krise nicht auch etwas Neues wachsen? Unser Autorin hofft darauf.
Die Wahrheit: Methusalem mit Ukulele
Nach zehn Jahren Wohnzeit der Nestor eines Mietshauses zu sein, gibt einem
außerordentliche Rechte bei Klängen und Krächen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.