| # taz.de -- Die Wahrheit: Methusalem mit Ukulele | |
| > Nach zehn Jahren Wohnzeit der Nestor eines Mietshauses zu sein, gibt | |
| > einem außerordentliche Rechte bei Klängen und Krächen. | |
| Bild: So, jetzt müsste man sich nur noch eine Ukulele aussuchen und üben, üb… | |
| Nachdem die Frau aus dem zweiten Stock während des Fensterputzens aufs | |
| Trottoir gestürzt war und aus dem Krankenhaus nicht mehr zurückkam, war ich | |
| derjenige, der hier im Haus am längsten wohnt. | |
| Mein Ego findet, dieser Einstieg könnte es oben auf die Liste der besten | |
| ersten Sätze schaffen. Und das Sonderbarste ist: Die Aussage stimmt. Und | |
| die Nachricht vorige Woche, sie habe überlebt und ist in ein Altersheim | |
| gezogen, hat mich beruhigt. | |
| Jedes Mal, wenn ich an diese Tatsache denke, mit meinen rund zehn Jahren | |
| Wohnzeit hier der Methusalem oder Nestor zu sein, muss ich unwillkürlich | |
| lachen. Denn gefühlt bin ich hier erst vorgestern eingezogen. Ich erspare | |
| Ihnen, unbeholfen zu erklären, welche Gründe ich für dieses schief | |
| gekrümmte Raum-Zeit-Kontinuum vermute. Stattdessen schildere ich zwei, drei | |
| Impressionen aus diesem Haus. Heutzutage wird ja alles evaluiert, und einer | |
| oder eine muss es ja machen. | |
| Steigen wir mal die 78 Treppenstufen von meiner Mansarde nach unten. 78! | |
| Wie beim Tarot vermutlich: „78 Stufen der Weisheit“. Los geht’s: Nicht an | |
| allen Wohnungstüren sind die Namen der Mieter zu lesen, genau genommen nur | |
| an drei. Warum auch, sie ziehen ja spätestens in zwei, drei Jahren wieder | |
| aus. Einige studieren wohl, die Musikhochschule und die tierärztliche | |
| Hochschule liegen nicht weit. Im Treppenhaus sagt man einander guten Tag, | |
| immerhin. | |
| Das Quartier gilt als bürgerliche Gegend, ehemals hieß es sogar | |
| Beamtenviertel. Das hat sich geändert und gemischt, gottlob. In unserem | |
| Haus zum Beispiel stammt der größte Teil einer Familie aus Jamaika, der | |
| Mann mit der 1000er Honda kommt aus Brasilien, die Familie unten, die das | |
| Teppichreparaturgeschäft betreibt, aus dem Iran. | |
| Übrigens kann ich mich nicht erinnern, dass irgendein Streit unter den | |
| Nachbarn ausgetragen worden wäre. Dies kann allerdings auch daran liegen, | |
| dass ich selten vor zehn des Abends aus meinem Kontor zurückkehre. Oder es | |
| liegt an dem Flair, das unsere kleine Großstadt ausstrahlt, sich so | |
| avanciert erweist, so weit vorne: Vor ein paar Tagen geriet ja die hiesige | |
| Stadtverwaltung in die Schlagzeilen sämtlicher Medien, weil sie eine neue | |
| Empfehlung veröffentlicht hat für eine „geschlechtergerechte Sprache“. | |
| Kürzlich hätte ich selbst gern einen Streit entzündet, aber der Schuldige | |
| war nicht zu erwischen. Und er kam natürlich von irgendwo anders her, und | |
| zwar nachts gegen drei binnen drei Tagen, und klingelte bei mir in der | |
| Mansarde dreimal. Früher nannte man das Klingelstreich, klingt aber viel zu | |
| harmlos. | |
| Seit heute Morgen ist aber auch womöglich ein Zank im Haus fällig. Ich | |
| schreite die Treppe hinunter, im dritten Stock wehen Klänge herüber. Ich | |
| bleibe stehen und horche. Sie spielt „Imagine“ von John Lennon. Auf einer | |
| Ukulele! Das werde ich unterbinden müssen. Schließlich bin ich der | |
| Miet-Methusalem, und meine Ukulele reicht völlig aus hier in diesem Haus! | |
| 6 Feb 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich zur Nedden | |
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