# taz.de -- Die Wahrheit: Kosmos im Kiez | |
> Sogar im eigenen Viertel ist das Gesellschaftsspektrum unendlich. | |
> Ethnisches Sortieren hilft da nicht weiter. | |
Heute vor einer Woche radelte ich zum Friedhof, zur nächsten Beerdigung. | |
Kurz vor Ankunft fiel mein Blick auf eine Litfaßsäule mit nur zwei | |
Plakaten. Annonciert wurde ein Konzert mit Suzi Quatro und eins mit Gilbert | |
O’Sullivan. Von ihr erinnerte ich die Hämmer „Devil Gate Drive“ und „48 | |
Crash“. Und wie heißt noch der eine Song von ihm? „Alone Again | |
(Naturally)“? War ich gerade in einen Raum-Zeit-Strudel geraten? | |
Am Donnerstag wollte ich die Schneiderin um die Ecke bitten, das nächste | |
Loch im hellgrauen Kaschmirpullover zu stopfen. Frau Terziyan, Armenierin | |
aus der Ukraine, finde ich sehr sympathisch; ihre melancholisch klingende | |
Stimme, den Akzent, ihr mahagonirotes Haupthaar, ihre Modezeichnungen, die | |
die Wände schmücken. Die Tür war verriegelt und darauf zu lesen: | |
„Geschäftsaufgabe. Liebe Kunden, leider müssen wir das Geschäft aus | |
familiären und gesundheitlichen Gründen schließen. Wir bedanken uns für die | |
jahrelange Treue. Ihre Änderungsschneiderei“. Oh. Sie fehlt. Und das | |
Melancholische hat womöglich teuflische Gründe. | |
Am Freitag fiel mir auf, dass an der Kreuzung neuerdings drei Läden | |
nebeneinander leer stehen. Der Trödelladen fünfzig Meter weiter ist auch | |
geräumt. Und so weiter. Liebe Konsumenten: Erst wenn die letzte Kneipe | |
gerodet, der letzte Kiosk geschlossen, das letzte inhabergeführte | |
Fachgeschäft vernagelt ist, werdet ihr merken, dass das Internet drei | |
Dimensionen bloß vortäuscht und viele Begegnungen futsch gehen. | |
Am Samstag erzählte ein Freund von einem Bekannten, Kurde aus dem Irak, der | |
in Mannheim einen Friseursalon betreibt. Einige Monate lang hatte er den | |
Salon zugesperrt, weil er als Schleuser einige Familienangehörige übers | |
Mittelmeer holte. Chapeau! | |
Am Sonntag berichtete mein jüngerer Sohn von S., einem seiner Freunde, der | |
jetzt mit zwanzig seinen Vater zum ersten Mal traf. Das Netz gab nach | |
aufwändigen Recherchen Auskunft. Der Mann aus der Türkei wohnt mit seiner | |
Familie in Ankara. S. flog zusammen mit seiner Mutter hin. Alle Achtung! | |
Am Montag überlegte ich, ob ich erläutern müsste, warum ich hier | |
geografische Koordinaten einiger Protagonisten nenne. Um ein | |
Missverständnis zu vermeiden: Woher jemand stammt oder der Vater oder die | |
Mutter oder die Urgroßeltern, sagt auf fast allen Ebenen nichts über uns | |
aus. Das Spektrum ist unendlich. Es gibt keine Völker, höchstens | |
Bevölkerung, Gesellschaft, Milieus. | |
Der „ethnische Ordnungsfimmel“, wie ihn Spiegel-Kolumnistin Ferda Ataman | |
nennt, ist idiotisch. „Wurzelmanie“ (dito) ist oder macht krank. Die | |
Vielfalt unter den Zeitgenossen weckt bei mir allerdings oft Neugier. Ich | |
höre den Mikrogeschichten, nobler gesagt: den Narrativen gern zu. | |
Gestern, am Dienstag, saß ich – Überraschung! – am Schreibtisch in meinem | |
Kontor, um diese Zeilen zu schreiben, nebenher summte ich „48 Chrash“ und | |
„Alone Again (Naturally)“. Natürlich. | |
3 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Dietrich zur Nedden | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Ferda Ataman | |
Multikulti | |
Hochsommer | |
Affen | |
Radio | |
Bestseller | |
Hausbewohner | |
Kommunikation | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Dehnen, Dösen, Denkübungen | |
Im Hochsommer auf einer Wiese neben einer klugen Frau einen intellektuellen | |
Dreisprung zu vollziehen, ist überhaupt gar nicht leicht. | |
Die Wahrheit: Der unendliche Affe | |
„Von Affen an Schreibmaschinen hatte ich wohl hier und da gehört, von der | |
theoretischen Herkunft und Durchdringung nicht“. | |
Die Wahrheit: Stauschau im Großraumwagen | |
Die ausufernden Radiomeldungen zur Verkehrslage verlangen nach einer | |
künstlerischen Intervention. | |
Die Wahrheit: Bestseller von anno dunnemals | |
Ein Blick auf die Spitzentitel der Sachbuchlisten vergangener Tage | |
befördert so manchen Knaller zurück ins Bewusstsein. | |
Die Wahrheit: Methusalem mit Ukulele | |
Nach zehn Jahren Wohnzeit der Nestor eines Mietshauses zu sein, gibt einem | |
außerordentliche Rechte bei Klängen und Krächen. | |
Die Wahrheit: Alles muss raus | |
Zwischen den jüngst wieder geschehenen ominösen Jahren tummeln sich in | |
weinseliger Atmosphäre durchaus richtige gute Gesprächskalauer. |