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# taz.de -- Die Wahrheit: Dehnen, Dösen, Denkübungen
> Im Hochsommer auf einer Wiese neben einer klugen Frau einen
> intellektuellen Dreisprung zu vollziehen, ist überhaupt gar nicht leicht.
Endlich fläze ich mich auf dieser Wiese, die den Stadtwald säumt und
aussieht, als wäre sie ein eineiiger Zwilling des Londoner Maryon Parks, wo
Szenen von Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“ spielen.
Solche Art von Verknüpfungen, behaupte ich, ergibt sich nicht aus
Bildungshuberei. Sondern weil sie im hauseigenen kulturellen Gedächtnis
herumliegen oder -fliegen. Bestückt den Alltag kostenlos bunter.
Neben mir dehnt, beugt, streckt sich Karen. Trotz der Hitze! Sie mischt
ihre Übungen aus Feldenkrais, Qigong, Yoga, Tai-Chi, was weiß ich. Es tut
ihr gut, sagt sie.
Wir sehen uns öfter, nachdem sie ihren Mann aus der gemeinsamen Wohnung
geschmissen hat. Der letzte Funke, der sie stiebend dazu trieb, war die
Diagnose der Ärztin nach Karens Klage, ihr Mann sei oft betrunken, habe
sie, wie sich erwies, betrogen und belogen: „Das reicht nicht für eine gute
Beziehung.“
Sie setzt sich, möchte jetzt nicht drüber reden, weshalb ich andres
anbiete. „Aller guten Vorschläge sind drei“, sage ich lahm. „Wir
unterhalten uns darüber, wie es zusammenpasst, dass die Verkaufszahlen für
die SUV-Panzer à la ‚Mad Max‘ Jahr für Jahr so kräftig steigen wie die
Umfragewerte der Grünen.“ – „Nö“, sagt Karen, „muss nicht sein. Ich…
keinen SUV und wähle die Grünen trotzdem nicht.“
Nun erst greife ich in die Packtasche, hole die Kühlbox mit dem Weißwein
heraus. „Was meinst du zu der Plastikmüllinsel, die neulich zwischen
Korsika und Elba trieb, mehrere hundert Quadratmeter groß?“ Karen sagt:
„Nein, will ich mir nicht ausmalen. Und denke da gleich an die Kapitänin,
die tapfer der widerwärtigen Festung Europa trotzt.“
Träge zieht der Gedanke an mir vorbei, ob wir darauf eingehen sollten. Aber
wie? Hat irgendwer sie schon mit Jeanne d’Arc verglichen, was vermutlich
abgeschmackt wäre?
Ich gieße Weißwein nach. Und setze den nächsten Versuch an, eingedenk der
Verse von Beckett, die leider als Zitat ausgemergelt sind: „Wieder
versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Ich nahm den dritten Anlauf: „Also, haben wir den Mut oder die Muße, über
einen Artikel der Philosophin Silvia Jonas zu plaudern, die sich mit
Mathematik beschäftigt? Hab was davon in der Kladde notiert. Mathe ist ja
das Sinnbild für Exaktheit und Eindeutigkeit, oder? Jetzt nicht mehr.“ –
„Ach ja?“, fragt Karen.
„Über bestimmte Probleme einigen sich die Grundlagenmathematiker nicht,
doch sie halten die Spannungen gelassen aus. Deren Avantgarde argumentiere
sogar dafür, das ‚Ideal eines einheitlichen, widerspruchsfreien Gesamtbilds
endlich‘ aufzugeben.“
Karen sagt: „Und könnten wir nicht in Fragen, die sich mit weit weniger
präziser Materie befassen, eine mindestens ebenso große Gelassenheit an den
Tag legen?“ Ich bin verdutzt: „Ziemlich genau so schreibt sie das.“ – �…
habe es nämlich gelesen“, sagt Karen. Sie steht auf, um sich wieder zu
dehnen, zu beugen, zu strecken. Und ich döse.
3 Jul 2019
## AUTOREN
Dietrich zur Nedden
## TAGS
Hochsommer
Tim Wiese
Intellektuelle
Schwerpunkt Klimawandel
Sonderweg
Tour de France
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