| # taz.de -- Die Wahrheit: Urkunde des Schauderns | |
| > Was tun, wenn die Tour de France vorbei ist? Mal zum Standesamt gehen, | |
| > bietet sich an. Dabei muss es nicht einmal um Reis gehen, Baby. | |
| Nach den Etappen durch die Pyrenäen und die Alpen fühlte ich mich matt. | |
| Fast täglich mit sportschau.de live die Tour de France zu verfolgen, kostet | |
| eben Körner und Einfühlung, Nerven und Zeit. | |
| Nach dem Finale in Paris fehlte mir dann eine Ausrede, als mich meine | |
| Freundin wieder darum bat, endlich mit ihr zum Standesamt zu gehen. Nein, | |
| sie wollte keineswegs das, was Sie jetzt vielleicht denken. Das hätte mich | |
| auch gewundert. Aber das zu erläutern, wäre eine andere Geschichte. | |
| Meine Freundin beharrte darauf, die Uhrzeit meiner Geburt zu erfahren. Die | |
| ist auf der Kopie der handschriftlich gefertigten Geburtsurkunde nicht | |
| genannt, das entsprechende Gesetz verlangt es bis heute nicht, so weit ich | |
| weiß. Damals brauchten sie ohnehin den Platz, um die Taufe nachzutragen: | |
| „(Psalm 118, 6a)“. Die Gebühr belief sich auf „1,- DM“, der Beruf des | |
| Vaters steht drauf, der der Mutter nicht, der Staat ging prinzipiell von | |
| Hausfrauen aus. | |
| Die Astrologen, von denen ich keine kenne, und Astrologinnen im | |
| Freundeskreis brauchen die Uhrzeit bekanntlich unbedingt, um den | |
| Aszendenten auszurechnen. Ohne den sei ein Horoskop ziemlich sinnlos, sagen | |
| sie, sofern ich es richtig verstanden habe. | |
| ## Fantastimilliarden Sites | |
| Ich vermag kaum, die Tierkreiszeichen aufzuzählen, da können Sie sich | |
| vorstellen, wie sehr mich mein Aszendent interessiert. Mir reicht als | |
| Kenntnis der Gestirne die grobe Erinnerung an den Satz von Kant: „Zwei | |
| Dinge erfüllen das Gemüt mit Bewunderung und Ehrfurcht […] Der bestirnte | |
| Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ | |
| Dennoch, um des lieben Friedens willen, wie man so sagt, radelte ich mit | |
| ihr zum Standesamt, nicht ganz so schnell wie die bei der Tour. Bald | |
| lieferte uns die freundliche Beamtin einen Auszug aus dem Geburtenregister, | |
| es kostete zehn Euro. Wir setzten uns ins amtliche Café, und sie griff zu | |
| ihrem Laptop. Es bieten sich fantastimilliarden Sites zu dem Thema an. Ich | |
| indessen schaute mir das Papier genauer an, um es mit der Urkunde zu | |
| vergleichen. | |
| Es beginnt mit dem Namen meiner Mutter, die „wohnhaft bei ihrem Ehemanne“ | |
| war. Dieser Wortlaut überrascht niemanden, der etwa weiß, dass in der BRD | |
| bis 1977 („Deutscher Herbst“!) das Gesetzbuch unter anderem vorschrieb: | |
| Wollte eine Frau arbeiten oder ein Konto einrichten, musste es ihr Ehemann | |
| erlauben. Ereignete sich damals de facto kaum noch, wie man hört, aber | |
| immerhin. | |
| ## Aha! | |
| Unter der Signatur des Beamten registrierte ich drei weitere Vermerke, die | |
| auszufüllen wären: „Datum der Eheschließung der Eltern“; „Eheschließu… | |
| Kindes … mit … am … in …“; „Drittens Tod des Kindes am … in …“ | |
| Diese kärglich pragmatische Verwaltungsnotiz eines möglichen schrecklichen | |
| Geschehens ließ mich naturgemäß schlucken und schaudern. Meine Freundin | |
| rief jetzt: „Aha!“ Die folgenden Verästelungen dieser Geschichte über | |
| Gestirne und Gehirne erzähle ich vermutlich ein andermal. | |
| 7 Aug 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich zur Nedden | |
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