# taz.de -- Die Wahrheit: Schau mir in die Dinge, Kleines | |
> Was ist Perfektion? Ein Fundstück nach zwanzig Jahren liefert im | |
> Assoziationsraum der Zitate aus der Filmwelt ein eher unperfektes Bild. | |
Zu den Allerweltswahrheiten zählt die Phrase „Niemand ist perfekt“. Meist | |
wird vergessen, dass es aufschlussreich ist, wer es sagt: der Manager, der | |
tausend Arbeitsplätze vernichtet oder eine Verkäuferin, die das Wechselgeld | |
falsch gezählt hat. | |
Statt den Gemeinplatz auszuwalzen, erscheint der Regisseur Martin Scorsese | |
auf der Bildfläche. Er hat eine eigene Variante zu der Floskel geliefert, | |
die weitaus origineller ist. Seine Ex-Frau Isabella Rossellini schildert es | |
in ihrer Autobiografie „Some of Me“. Scorcese, so die Schauspielerin, kenne | |
„die Macht des Unvollkommenen“. „Er huldigte ihr sogar.“ Als er einst zu | |
Hause am Schnitt seines Meisterwerks „Wie ein wilder Stier“ arbeitete, | |
zeigte er seiner Frau eine soeben fertiggestellte Szene und sagte: | |
„Perfekt, aber ich will keine Perfektion. Trotzdem gefällt mir die Szene so | |
gut, dass ich sie nicht ändern kann.“ | |
War guter Rat teuer? Keineswegs. Scorsese griff zur Klebepresse und | |
„schnitt ein einzelnes Bild aus der perfekten Szene“. Unnötig hinzuzufüge… | |
dass niemand das wahrnahm, eine Sekunde eines Films entspricht gewöhnlich | |
24 Bildern. Darum ging es Scorsese auch nicht: „Jetzt weiß ich, dass sie | |
nicht perfekt ist und ihre Seele sich entfalten darf.“ | |
Vor etwa zwanzig Jahren habe ich die Notizen von Rossellini einer Freundin | |
geschenkt. Kurz darauf las sie mir bei Gelegenheit eine Stelle vor, die sie | |
sehr lustig fand. An diese Passage dachte ich kürzlich und wollte sie | |
gleichsam zitierfähig herausklauben. Ohne Netz, ohne Algorithmen, wenn | |
Letztere überhaupt dazu geeignet wären. Ich lieh mir das Buch aus einer | |
Bibliothek und sah voraus, dass der Absatz linker Hand in der Mitte steht. | |
So jedenfalls funktionieren Algorithmen nicht. | |
„Mutters zweitliebste Beschäftigung nach dem Spielen war das Putzen … ‚G… | |
nicht mit leeren Händen aus dem Raum‘, sagte sie oft zu mir.“ Womit sie | |
meinte, irgendetwas ist immer zu räumen, an den zugeordneten Platz zu | |
stellen. Die Dinge gebärden sich ja oft widerspenstig, mithin eine sehr | |
praktische Weisheit. | |
„Spielen“ bedeutet hier übrigens „Schauspielerei“, denn Rossellinis Mu… | |
war Ingrid Bergman. Und wir erinnern uns etwa an die eine Szene aus dem | |
unverwüstlichen „Casa-blanca“, als sie zu Humphrey Bogart sagt: „But what | |
about us?“, und Bogart: „We’ll always have Paris.“ | |
Der Vater von Isabella Rosselini war übrigens der Filmregisseur Roberto | |
Rossellini. Seine Tochter skizziert einen imaginären Dialog, den ich | |
ebenfalls für komisch halte. Sie fragt ihn: „Papa, als du noch lebtest, | |
hast du uns Kindern immer gesagt, wir sollten stolz und dankbar sein, dass | |
du einmal arm sterben würdest. Als du starbst, warst du mehr als arm … | |
Worauf sollen wir da stolz sein?“ | |
Für die Auflösung dieser Frage fehlt hier der Raum, wäre auch zu perfekt. | |
6 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Dietrich zur Nedden | |
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