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# taz.de -- Straßenumbenennung in Erfurt: Wege der kolonialen Aufarbeitung
> AktivistInnen in Erfurt wollen einen Straßennamen ändern, der einen
> Sklavenhändler ehrt. Gegenprotest und Corona erschweren das Vorhaben.
Bild: Gert Schramm am 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz im Thüringe…
Erfurt taz | Etwa 1,4 Kilometer Länge misst das Nettelbeckufer in Erfurt:
eine Adresse, die bei mehreren hundert Anwohner*innen im Ausweis zu finden
ist. Doch das könnte sich bald ändern. Die Initiative Decolonize Erfurt und
die Thüringer Gruppe der [1][Initiative Schwarze Menschen in Deutschland]
(ISD) fordern eine Umbenennung der Straße.
Grund: Ihr Namensgeber war maßgeblich am Handel mit versklavten Menschen
beteiligt und ein Unterstützer des deutschen Kolonialismus. Laut einem
Gutachten von Wissenschaftler*innen der Universität Erfurt und der TU
Braunschweig zu Joachim Nettelbecks Wirken war er „an einem
verbrecherischen Unrechtsregime, das die deutsche Geschichte geprägt hat,
[…] als Seemann und Lobbyist direkt beteiligt, für ein weiteres, den NS,
diente er als Anknüpfungspunkt.“
Daher fordern die beiden Initiativen nun eine Umbenennung. Die Uferstraße
soll künftig nach Gert Schramm benannt werden: einem afrodeutschen
Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald, der am Nettelbeckufer in
Erfurt geboren ist. Passend wäre auch der Anlass der Umbenennung: In diesem
Jahr jährt sich die Befreiung Buchenwalds 2020 zum 75. Mal. Mirjam Elomda
von der ISD Thüringen ist zuversichtlich: „Ich denke, die Chancen stehen
gut, da schlicht die Notwendigkeit besteht, sich mit diesem Thema
auseinanderzusetzen“. Erfurt könne ein Vorbild sein für weitere Kommunen
bundesweit. Hat die Initiative Erfolg, wäre dies die erste
zivilgesellschaftliche Initiative in Ostdeutschland, die einen kolonialen
Straßennamen überwindet.
Dies kann ein wichtiges Zeichen sein – vor allem in Hinblick auf die
vergangene Landtagswahl. Bei dieser stimmten rund 23 Prozent der
Thüringer*innen für die AfD. Rund 900 Menschen haben bereits eine Petition
der Initiativen unterschrieben. Wenn die Corona-Krise überstanden ist,
wollen sie dem Oberbürgermeister den Antrag auf Umbenennung vorlegen. Erst
dann kann im Erfurter Stadtrat darüber abgestimmt werden.
## Alternative Wege gesucht
Angedacht war es ursprünglich anders. Die Aktivist*innen haben im Vorfeld
an alle Anwohner*innen Einladungen zu einer Informationsveranstaltung
verteilt. Diese wurde allerdings aufgrund der aktuellen Corona-Pandemie
abgesagt. „Wir suchen nun nach alternativen Wegen, um in den Austausch mit
Erfurter*innen, speziell den Bewohner*innen des Nettelbeckufers zu kommen“,
sagt Jule Henschel, Aktivistin von „Decolonize Erfurt“.
Das Gespräch suchen, auf Anwohner*innen zugehen, das ist den Aktivist*innen
wichtig. „Wir versuchen unsere Position aber weiterhin transparent zu
kommunizieren und haben unsere Aktivitäten für eine Medienkampagne
angepasst“, so Mirjam Elomda. Die Petition wurde im März veröffentlicht.
Über die Facebook-Seite wird regelmäßig aus der Autobiografie Gert Schramms
vorgelesen. Dass die Aktionen nicht wie gewohnt stattfinden können, ist
auch für Jule Henschel ärgerlich, aber kein Grund zum Aufgeben: „Wir lassen
uns nicht davon abhalten. Nicht in vier Wochen. Nicht in einem halben
Jahr.“
Auf Fragen und Kommentare antwortet die Initiative sachlich, wird dadurch
allerdings auch zum Hassobjekt. Im Netz empört sich die
AfD-Stadtratsfraktion über das Vorhaben, Anwohner*innen und Erfurter*innen
sind zwiegespalten. „Wir haben positive, negative sowie rassistisch
motivierte Rückmeldungen bekommen“, berichtet Elomda.
## Petition und Gegenpetition
Indes startete eine Anwohnerin eine Gegenpetition für die Beibehaltung des
Straßennamens. Für deren Unterzeichner*innen ist die Umbenennung ein
Angriff auf einen altbekannten Straßennamen, mit dem viele aufgewachsen
sind – ein Einsatz aus eher nostalgischen Beweggründen.
Die Meinungen der Bewohner*innen des Nettelbeckufers bewegen sich zwischen
den zwei Polen – Petition und Gegenaufruf. Das zeigt eine Telefonumfrage
der taz.
Hans-Günter Evers wohnt seit 20 Jahren am Nettelbeckufer. Er ist strikt
gegen eine Umbenennung. Für ihn sei die Forderung der Umbenennung aus
„einer Laune heraus entstanden“. Man könne sich „nicht auf Einzelheiten
festlegen, die zu der Zeit legal und weit verbreitet waren“. Eine
Einstellung, mit der die Initiative oft konfrontiert wird. In diesem Zuge
verweist Decolonize Erfurt auf den Kolonialismus, der keine Kleinigkeit,
sondern „neben NS und SED-Regime das dritte staatgewordene Mega-Unrecht der
deutschen Geschichte ist“, so in einem Statement der Initiative, auf den
daraus resultierenden Rassismus, der immer noch tödliche Folgen nach sich
zieht und auf eine demokratische Erinnerungskultur, der das Handeln
Nettelbecks eindeutig entgegenstand.
Eine ältere Anwohnerin begrüßt das Gesprächsangebot der Initiativen, steht
der Umbenennung allerdings noch kritisch gegenüber. Es wäre hilfreich, sich
auch mit den anderen Hausbewohner*innen darüber auszutauschen, aber die
aktuelle Situation mache das unmöglich. Insbesondere bei älteren Menschen,
die keinen Internetzugriff haben, kommen die Gesprächsangebote der
Initiative derzeit nicht an. Sie macht sich vor allem Sorgen um Kosten und
andere Unannehmlichkeiten, die auf sie zukommen würden. Auch für Caroline
Köllner-Holzheu, eine Zahnärztin am Nettelbeckufer, wäre eine Umbenennung
mit Schwierigkeiten verbunden: “Sämtliche Praxisschilder, Visitenkarten und
Briefpapier müssten auf meine Kosten und mit meinem Aufwand neu gedruckt
werden.“
## Dekolonialisierung als Prozess
Dabei haben die Initiativen bereits angekündigt, dass die Stadt den
Bewohner*innen entgegenkommen könnte – Befürchtungen, die man eigentlich
bei der Informationsveranstaltung aus dem Weg schaffen wollte. Sie
versichern zwar, dass sie nachgeholt wird, wann ist allerdings fraglich –
die aktuelle Situation macht es kompliziert.
Trotzdem zeigen viele Menschen am Nettelbeckufer Zustimmung: „In meinem
persönlichen Bekanntenkreis in der Straße sind die Reaktionen eher
positiv“, erzählt eine Anwohnerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung
genannt haben möchte. Sie ist sich sicher, dass es auch an Anwohner*innen
wie ihr liegen wird, wie der Prozess der Umbenennung aufgefasst wird. Für
sie sei es eine Chance, für demokratische Werte und gegen Rassismus
einzustehen: „Ich freue mich wirklich darauf, dass ich meinen Kindern an
dem Beispiel werde zeigen können, dass eben nicht alles, was „schon immer“
so war, auch so bleiben muss und wir uns für gute Sachen entscheiden
können.“
Die Straßenumbenennung ist Teil weiterer Forderungen von [2][Decolonize
Erfurt] und der ISD, um die koloniale Vergangenheit im Erfurter Stadtbild
aufzuarbeiten. Straßenumbenennungen seien hierfür ein wichtiges Werkzeug,
bemerkt die ISD-Aktivistin und macht auf die Tragweite von
Dekolonialisierungsinitiativen aufmerksam: „Dekolonialisierung betrachte
ich als gesamtgesellschaftlichen Prozess“. Aus diesem Grund sind die
Forderungen auch kein Thema, das ausschließlich die Bewohner*innen der
Uferstraße betrifft. Schlussendlich entscheidet der Erfurter Stadtrat über
eine Umbenennung – ein demokratischer Prozess, der fraktionsübergreifend
entschieden wird.
Darüberhinaus verweist Mirjam Elomda auf die Solidarität in Zeiten der
Pandemie, die auf dem Wissen um die Gleichheit aller Menschen beruhe. Daher
lautet ihr Appell: „Diese Werte müssen wir auch in der gegenwärtigen
Corona-Krise hochhalten.“
11 Apr 2020
## LINKS
[1] http://isdonline.de/pressemitteilung-kolonialrassismus-beenden/
[2] https://decolonizeerfurt.wordpress.com/2020/04/06/wissenschaftliches-gutach…
## AUTOREN
Luisa Kuhn
Thilo Manemann
## TAGS
Deutscher Kolonialismus
Entkolonialisierung
Erfurt
Deutscher Kolonialismus
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