| # taz.de -- Die Wahrheit: Der Schlüssel zu Brüssel | |
| > Allem Neuanfang wohnen mehrere Mitbewohnende inne, oder so: Das gilt | |
| > besonders für Umzüge in die Hauptstadt Europas. | |
| Bild: Der Abstand ist gewahrt: Superspreader a. D | |
| Es ist der 5. Januar 2020, und ich ziehe nach Brüssel. Alles verläuft | |
| beinahe reibungslos. Als der Zug in Brüssel-Nord stoppt, wollen neben mir | |
| einige Passagiere aussteigen. Manchen gelingt das auch, doch dann schließt | |
| plötzlich die Tür. „I can’t open it!“, ruft die besorgte US-Amerikanerin | |
| ganz vorne. Der Zug fährt einfach weiter. Zum Glück ist der nächste Halt | |
| nicht Rotterdam oder London oder so, sondern Brüssel-Midi. Erstaunlich, | |
| dass dieser ICE nur in Frankfurt, Köln und Aachen, dafür aber gleich | |
| zweimal in Brüssel hält. | |
| Mein superschwerer Rollkoffer rattert über die Pflastersteine des Boulevard | |
| Général Jacques und macht einen Höllenlärm. Eine alte Frau blickt an diesem | |
| ansonsten ruhigen Sonntag aus dem Fenster und wirft mir wegen des Krachs | |
| einen bösen Blick zu. Ich nehme ihr das nicht übel: Das letzte Mal, dass | |
| Deutsche hier mit dermaßen schwerem Gerät angereist sind, hat das der Stadt | |
| kein Glück gebracht. Vielleicht war sie damals schon dabei. | |
| Als ich bei meiner neuen Wohnstätte ankomme, komme ich nicht rein. Der | |
| Haustürschlüssel, den ich in einer Bar um die Ecke abholen musste, weil | |
| heute laut Vermieter keiner der anderen Bewohner im Haus sei, passt zwar | |
| ins Schlüsselloch. Aber drehen lässt er sich nicht. In einem Anfall von | |
| Aktionismus teste ich ihn auch an den Türen der benachbarten Häuser. Bis | |
| auf die misstrauischen Blicke der Passanten bringt mir das aber nichts. | |
| Aus Verzweiflung klopfe ich gegen die Haustür, obwohl ich ja weiß, dass | |
| niemand drinnen ist. Keine fünf Sekunden später öffnet eine junge Frau. | |
| „Hello?“, fragt sie verwundert. „Hello“, sage ich: „I live here.“ | |
| ## Of Mice and Men | |
| Nachdem ich die Lage auf Englisch erklärt habe, stellt sie mich den anderen | |
| vor: Neben ihr leben noch drei weitere Spanierinnen in diesem Haus, | |
| außerdem zwei Italiener. | |
| Für das Schlüsselproblem findet sich rasch eine Lösung. Ich bekomme den | |
| Hausschlüssel, der eigentlich zum anderen Zimmer auf meinem Stockwerk | |
| gehört, und das bislang unbewohnt ist, weil es dort Mäuse hat. „Mäuse?“, | |
| frage ich in der Hoffnung, mich verhört zu haben. Ob ich denn nicht wisse, | |
| weshalb meine Vormieterin ausgezogen sei? Nein, weiß ich nicht. | |
| „Die Heizung geht übrigens auch nicht. Hier ist es immer sehr kalt“, | |
| ergänzen die Spanierinnen und imitieren recht realitätsnah ein Bibbern. | |
| „Und wir haben auch kein warmes Wasser.“ Um die Sache abzukürzen, frage | |
| ich, was denn im Haus funktioniere. „Die Waschmaschine ist nur selten | |
| kaputt“, meinen sie. | |
| Schon am nächsten Vormittag höre ich es im Nachbarzimmer rascheln. Ich | |
| schaue nach. Eine ungewöhnlich große Maus mit französischem Akzent reicht | |
| mir die Hand: „Jean“, sagt die Maus: „The Spanish filles let me in. I just | |
| moved in today.“ Nun wohnt hier also auch noch ein Franzose. Um seine | |
| Nerven zu schonen, behalte ich mein Wissen um die Nagerproblematik wie auch | |
| den intakten Haustürschlüssel erst einmal für mich. | |
| 28 Jan 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Cornelius Oettle | |
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