# taz.de -- Die Wahrheit: Urlaub im Gefängnis | |
> So ist es im Knast: Zu Mittag gibt es Pampe, in den Duschen sollte man | |
> sich nicht nach der Seife bücken. Tatsächlich ist aber alles ganz anders. | |
In Boston gibt es ein Hotel, das einst ein Gefängnis war. Und zwar nicht | |
irgendeines, sondern das Gefängnis schlechthin: das 1851 erbaute Charles | |
Street Jail. Eine ganze Weile diente es den Gefängnisarchitekten in den | |
Staaten, also den Baubauern, als Vorbild. 1973 entschied man jedoch, dass | |
das einst vorbildliche Zuchthaus nicht mehr zeitgemäß sei. Zu schlecht | |
waren die Bedingungen für die Eingesperrten, die deshalb auch revoltierten. | |
Den Entschluss fasste der zuständige Richter Arthur Garrity übrigens, | |
nachdem er dort eine Nacht verbracht hatte, um sich selbst ein Bild zu | |
machen. So verließ 1990 der letzte Insasse das Gefängnis. 2007 wurde daraus | |
ein Hotel. Zu früheren Zeiten saßen hier unter anderen Bürgerrechtler wie | |
[1][Malcolm X] und Suffragetten wie Josephine Collins. Heute Leute wie ich. | |
Da ich die Herbergsauswahl nicht selbst getroffen hatte, kannte ich die | |
Historie allerdings noch nicht. Bei der Ankunft irritierte mich deshalb ein | |
steinerner Türrahmen, der elternseelenallein auf dem Parkplatz des Hotels | |
steht. Der Hintergrund: Dem Auftragskiller Elmer „Trigger“ Burke gelang | |
hier eines Tages ein Ausbruch. Ihm zu Ehren hat man jenes Tor stehen | |
lassen, durch das er einst entwischte. Ha ja, warum denn nicht? Auch in | |
Deutschland ehren wir ja noch immer den ein oder anderen Mörder in | |
ähnlicher Weise. | |
Als mir allmählich dämmerte, was Sache war, hatte ein Kollege als | |
praktizierender Feng-Shui-Gläubiger es längst mit der Angst zu tun bekommen | |
– würde er in diesen Gemäuern Ruhe finden, wo doch all die gewissenlosen | |
Straftätigen einst ihren Geist in diesen Granit hineingeatmet hatten? Dabei | |
war das Qi, also die unsichtbare Lebensenergie, sofern man an den Quark | |
glauben möchte, hier wahrscheinlich sogar ganz gut. Denn sicher: Die | |
meisten Häftlinge hatten vermutlich durchaus etwas verbrochen. Doch | |
zugleich mussten sie ja auch dafür büßen. Anders als zum Beispiel die | |
Leute, die in einer Bank arbeiteten, wo wiederum wohl ich kein Auge | |
zumachen könnte. | |
## Jeder kackt für sich | |
Meine aufziehende Gemütsverfinsterung hatte eine andere Ursache. Ich war | |
enttäuscht. Die „Zelle“, die ich behauste, war größer als meine Wohnung … | |
Stuttgart. Wie sollte man sich hier denn bitte authentisch eingesperrt | |
fühlen? Auch die Küche des Hauses wurde meinen Erwartungen nicht gerecht: | |
Statt einem Klecks Kartoffelbrei von der klebrigen Kelle kantiger | |
Kantinenkerle bekam man hier ein schmackhaftes Drei-Gänge-Menü. Auch kam es | |
nie zu jenem Moment, in dem einer meiner Knastbrüder dem Nebenmann sein | |
Tablett ins Fressbrett hämmert und dadurch eine Schlägerei anzettelt, sooft | |
ich dies auch zu provozieren versuchte. Schwach. | |
Die sanitären Anlagen überzeugten ebenfalls nicht. Man kackte nicht offen | |
im Raum vor allen anderen, sondern jeder schön für sich. In puncto | |
Gefängnisauthentizität, das sei so deutlich gesagt, hat das Charles Street | |
Jail durch den Umbau jedenfalls enorm eingebüßt. | |
24 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Cornelius Oettle | |
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