# taz.de -- Wohnungsknappheit in Großstädten: Mehr Neubau wagen | |
> Gerade in Städten mit der größten Wohnungsknappheit sperren sich | |
> BürgerInnen vehement gegen Bauprojekte. Dagegen hilft nur forcierter | |
> Neubau. | |
Bild: Der Bestand ist knapp, Neubauten sind unbeliebt: Straßensituation in Ber… | |
Das neue Jahr birgt viele soziale und politische Unsicherheiten, aber eines | |
ist wohl sicher: Die Wohnungskrise in den urbanen Zentren wird sich weiter | |
verschärfen und eine nachhaltige Lösung ist nicht in Sicht. Dabei sind sich | |
die Parteien und großen Verbände in der Analyse der Lage und in der | |
Einschätzung ihrer Dramatik weitgehend einig. Es mangelt an Wohnungen, und | |
der nach langen Jahren des Stillstands wieder angekurbelte Neubau bleibt | |
schon allein quantitativ weit hinter den Notwendigkeiten zurück. | |
Doch selbst wenn gebaut wird, dann meistens an den Bedürfnissen der | |
besonders von Wohnungsmangel betroffenen Gruppen vorbei. Bezieher von | |
Transferleistungen, Gering- und zunehmend auch Normalverdiener können sich | |
die im Neubau verlangten Preise schlicht nicht leisten und haben angesichts | |
der anhaltenden Mietenexplosion auch im Bestand wenig Chancen auf | |
angemessenen, bezahlbaren Wohnraum. | |
Im schlimmsten Fall droht ihnen sogar der Verlust der bisherigen Wohnung | |
als Folge preistreibender Modernisierungen oder der Umwandlung in | |
Wohneigentum und darauf basierenden Eigenbedarfskündigungen. Entsprechend | |
drastisch ist die Zahl der nur noch notdürftig untergebrachten | |
[1][Wohnungslosen] gestiegen, darunter zunehmend auch Familien. | |
Bei den Ansätzen für die Lösung der Probleme auf dem Wohnungsmarkt ist dann | |
allerdings Schluss mit den Gemeinsamkeiten. Das wirtschaftsliberal bis | |
marktradikale Spektrum, das Teile der CDU/CSU, die FDP und die AfD umfasst, | |
setzt im Sinne der Immobilienlobby auf Deregulierung des Mietrechts, viel | |
privaten Neubau, Eigentumsbildung und eine Wohngelderhöhung für Menschen, | |
die sich am Markt nicht selbst versorgen können. | |
## Es geht keineswegs nur gegen Luxuswohnungen | |
Den Gegenpol bilden SPD, Grüne und Linke sowie örtliche Initiativen und | |
Verbände, die für [2][verschärfte Mietenregulierung im Bestand] sowie für | |
verstärkten sozialen, gemeinnützigen Wohnungsbau eintreten. | |
Doch längst hat sich in der Auseinandersetzung um die Wohnungspolitik eine | |
weitere Frontlinie verfestigt: Ausgerechnet in jenen Städten, in denen der | |
Wohnraummangel am größten ist, formieren sich bei Neubauprojekten | |
postwendend örtliche Initiativen, die diese verhindern wollen – und damit | |
nicht selten Erfolg haben. | |
Dabei geht es keineswegs nur gegen hochpreisige Luxuswohnungen. In München | |
stoppte der Bürgerprotest ein kommunales Wohnungsbauprojekt in Pullach, im | |
Norden der bayerischen Landeshauptstadt geht es gegen ein neues | |
Stadtentwicklungsgebiet mit mehreren tausend Wohnungen. | |
In Frankfurt gingen viele Menschen gegen ein neues Wohngebiet im Nordend | |
auf die Straße und in Hamburg-St. Pauli wurde der Bau einer Wohnanlage mit | |
einem hohen Anteil geförderter Sozialwohnungen durch den Bürgerwiderstand | |
um mehrere Jahre verzögert. | |
## Argumente wie aus dem Satzbaukasten | |
Die Liste ließe sich beliebig ergänzen, aber besonders zugespitzt ist die | |
Situation in Berlin. Dort ist es in erster Linie die Klientel der Grünen | |
und der Linken, die gegen Neubauten zu Felde zieht, egal ob es sich dabei | |
um Nachverdichtungen oder um neue Stadtquartiere in den Außenbezirken | |
handelt. Die Argumente der Neubaugegner ähneln sich dabei wie aus einem | |
Satzbaukasten: Blickachsen, Kaltluftschneisen, gewachsene Strukturen, | |
Lebensqualität im Wohnumfeld, bedrohte Freiräume et cetera. | |
Umso beharrlicher setzen sich in Berlin Linke, Grüne und viele | |
stadtpolitische Gruppen [3][für drastische Mietpreisregulierungen] | |
(„Mietendeckel“), die Rekommunalisierung zuvor privatisierter Bestände und | |
den Ankauf von Spekulationsobjekten ein. | |
Oder – wie die recht populäre Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen�… | |
gar für die Vergesellschaftung großer Wohnungsbaukonzerne, die per | |
Volksentscheid durchgesetzt werden soll. | |
Eines ist den recht heterogenen Akteuren dieser selbsternannten und sehr | |
eloquenten „Stadtgesellschaft“ gemein: das beharrliche und sehr beredte | |
Schweigen zum Wohnungsmangel in der wachsenden Stadt, der nur durch | |
forcierten Neubau vor allem im unteren Preissegment strukturell überwunden | |
werden könnte. Die bereits jetzt rund 60.000 mehr oder weniger notdürftig | |
untergebrachten Wohnungslosen werden in den von dieser Seite geführten | |
Debatten schlicht ausgeblendet. | |
## Dem Berliner Senat droht ein böses Erwachen | |
Ausgerechnet die Berliner FDP schickt sich jetzt an, den Finger in diese | |
klaffende Wunde der links-alternativen „Stadtgesellschaft“ und auch des | |
rot-rot-grünen Senats zu legen. Sie will in Kürze ein Volksbegehren für die | |
Randbebauung des Tempelhofer Feldes mit bis zu 12.000 Wohnungen starten. | |
Das hat durchaus symbolträchtigen Charakter, denn 2014 hatte ein maßgeblich | |
von Grünen und Linken getragenes Bündnis per Volksentscheid durchgesetzt, | |
dass jegliche Bebauung auch der Ränder des rund 300 Hektar umfassenden | |
innerstädtischen Filetstücks gesetzlich ausgeschlossen wird. | |
Doch die Lage auf dem Wohnungsmarkt hat sich seitdem dramatisch verschärft, | |
und ein Volksentscheid über die Revision dieses Gesetze hätte ziemlich gute | |
Erfolgsaussichten. Zumal die eigentlich marktradikale FDP schlau genug ist, | |
das Primat von städtischen Gesellschaften und Genossenschaften bei der | |
Bebauung und den mindestens 50-prozentigen Anteil belegungs- und | |
preisgebundener Wohnungen ebenso wenig infrage zu stellen wie den Erhalt | |
des Großteils des Feldes als Freifläche. | |
Die Sammlung der Unterschriften für die erste Stufe des Volksbegehrens | |
könnte laut FDP bereits Ende Januar beginnen. Der rot-rot-grüne Senat muss | |
sich wohl schleunigst etwas einfallen lassen, sonst droht ein böses | |
Erwachen. Nötig ist ein klares Bekenntnis zu forciertem Neubau – auch in | |
Tempelhof, am besten in komplett kommunaler Trägerschaft. Und zwar | |
gleichrangig mit den Kampagnen für Mietenregulierung, Rekommunalisierung | |
und Vergesellschaftung. Denn das ist die offene Flanke der FDP und der | |
hinter ihr stehenden Immobilienlobby. | |
13 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Rainer Balcerowiak | |
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