Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Streit um neues Transplantationsgesetz: Spenden im Tod geht nicht
> Organmangel wird durch das neue Transplantationsgesetz nicht behoben. Die
> Gleichsetzung der Diagnose „hirntot“ mit dem Tod rührt an die Verfassung.
Bild: Versorgung eines Intensivpatienten
Der Deutsche Bundestag wird in den nächsten Tagen das
Transplantationsgesetz ändern. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat
mit der Widerspruchslösung einen weitreichenden Vorschlag unterbreitet. Er
will, dass künftig mehr menschliche Organe entnommen werden können und
damit [1][mehr Kranken geholfen werden kann]. Zu diesem Zweck soll von der
freiwilligen Organspende abgesehen werden. Aber lässt sich so das Problem
der Organgewinnung tatsächlich beheben?
Der Grund für den Organmangel liegt nämlich weniger in der geltenden
Selbstbestimmungsregelung. Vielmehr herrscht eine stetig wachsende
[2][Organnachfrage] – und ein prinzipieller Mangel an
explantationsgeeigneten Patienten. Wer bereits verstorben ist, wessen
Lebensfunktionen erloschen sind, kommt für eine Organentnahme nicht
infrage. Eine Spende nach dem Tod entspricht nicht der Wirklichkeit. Es
muss vielmehr der irreversible Verlust aller messbaren Hirnfunkionen
eingetreten sein und der Körper noch künstlich in einem durchbluteten
Zustand gehalten werden. Nur so kann die Explantation eingeleitet werden.
Das ist eine außergewöhnliche und sehr seltene Art zu sterben.
Der neurologische Befund „hirntot“ markiert nur die Diagnose, die
normalerweise dazu führt, dass alle intensivmedizinischen Maßnahmen beendet
werden müssen. Die Gleichsetzung dieses Zustands mit dem Tod ist nach wie
vor umstritten, sie wurde vor 25 Jahren bei der ersten Gesetzgebung im
Interesse der Transplantationsmedizin vorgenommen. So existieren seither
zwei Arten des Todes. Der sogenannte Hirntod und der traditionelle Tod.
„Man wird eher zum Empfänger als zum Spender“ sagt der Präsident der
Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt. Transplantationen haben ein
systemimmanentes Dilemma hervorgebracht. Den Organmangel.
Um einen optimierten Zugriff auf die wenigen explantationsgeeigneten
Intensivpatienten zu bekommen, will Spahn ausnahmslos alle Bürgerinnen zur
Organabgabe verpflichten. Lediglich soll den Einzelnen noch zugebilligt
werden, vorbeugend aktiv widersprechen zu können. Will man im Zweifel nicht
gegen den eigenen Willen an Apparaten gehalten werden, muss man frühzeitig
handeln. Schließlich kann man nicht wissen, wie und wann man stirbt.
Dieser Eingriff [3][in die individuelle Autonomie] sei statthaft, so das
Argument für die Widerspruchslösung, weil der Staat damit ein legitimes
Interesse zum Wohle Einzelner – nicht des Allgemeinwohls – verfolge. Dies
sei nicht als Zwang zu verstehen, sondern als eine andere Art der
Selbstbestimmung. Die BefürworterInnen sehen ihren Vorschlag als ethisch
gleichwertig zu den bestehenden Schutzpflichten des Staates an, der bislang
das Recht auf Unversehrtheit eines jeden Menschen in all seinen Zuständen
zu verteidigen hat.
Anders als beim gültigen Transplantationsgesetz, das die freiwillige Spende
als einzig vertretbare verfassungskonforme Möglichkeit festlegt, würden bei
der Widerspruchslösung alle dazu gezwungen, sich mit dem eigenen Tod zu
befassen. Damit bestünde lediglich noch ein Abwehrrecht des Einzelnen gegen
eine spezifische staatliche Leibeigenschaft im Dienst der
Transplantationsmedizin. Es bleibt offen, woher der Staat dieses
Sonderrecht ableiten will.
Nach unserem allgemeinen Rechtsverständnis erschließt sich nicht, dass es
als Zustimmung gewertet werden soll, wenn man sich einer Antwort „zu den
letzten Dingen des Lebens“ verweigert. Scheint hier ein autoritäres
Staatsverständnis durch? Erstmalig in der deutschen Nachkriegsgeschichte
würden so utilitaristische Interessen in menschenrechtliche Bestimmungen
eingeführt. Fremdnützliche Zwecke erhielten einen höheren Stellenwert als
die unantastbare Menschenwürde. Ist das so gewollt?
Außerdem würde die Widerspruchslösung zwei fundamental verschiedene
Grundrechtsauslegungen je nach Sterbeart entstehen lassen. Die
Organabgabeverpflichtung beträfe nur diejenigen, die eines „brauchbaren“
Todes sterben, wohingegen für Menschen, die eines natürlichen Todes
gestorben sind, weiterhin die Totenruhe gesichert bliebe. Das zeigt, dass
die zweckgeleitete Gleichsetzung der Hirntod-Diagnose mit dem Tod des
Menschen bei einer Widerspruchslösung weitere verfassungsrechtliche
Probleme nach sich ziehen würde.
Und schließlich muss die Frage beantwortet werden, ob der Mensch, der die
Gemeinschaft der Menschen durch sein Sterben verlässt, ihr gegenüber einer
Pflicht schuldig ist. Eine komplexe Frage, die in ethischer und
grundrechtlicher Hinsicht bisher wenig erörtert wurde. Abgesehen von
weltanschaulichen, individuellen Überzeugungen ist zu fragen, ob der Staat
das Recht hat, das Lebensende Nützlichkeitserwägungen zu unterwerfen und
daraus Rechtsnormen abzuleiten. Was ist Sache des Staates und was verbleibt
unverrückbar das Eigene, Unveräußerliche eines jeden Menschen? Es geht bei
diesem Interessenkonflikt um grundsätzliche Fragen des Staats- und
Bürgerrechtsverständnisses. Nämlich ob zugunsten einer Sonderform der
Medizin eine Form der Nützlichkeitsethik etabliert werden soll, die dem
Prinzip folgt: Der Zweck heiligt die Mittel.
In vergangenen Legislaturperioden hat sich der Bundestag große Verdienste
damit erworben, das Verständnis der Menschenwürde im Angesicht neuer
Forschung und biomedizinischer Praxis zeitgemäß fortzuentwickeln. Sinnvoll
wäre es, die Fremdorganverpflanzung auf ihre Zukunftsfähigkeit zu
überprüfen und mehr über Forschungsansätze zu sprechen, die die
Notwendigkeit zur Transplantation überwinden helfen können. Innovationen
also, die als neue Therapiemethoden zur Regelversorgung für schwer
Organerkrankte werden können. Denn gerade weil [4][keine gesetzliche
Maßnahme den Organmangel beheben kann], brauchen Patienten Alternativen.
Die Widerspruchsregelung bietet dafür keine Lösung.
9 Jan 2020
## LINKS
[1] /Noetige-Neuregelung-der-Organspende/!5648481
[2] /Notstand-bei-Organspenden/!5648528
[3] /Gruenen-Politikerin-ueber-Organspenden/!5602381
[4] /Kommentar-Organspendegesetzentwurf/!5582070
## AUTOREN
Monika Knoche
## TAGS
Organspende
Schwerpunkt Grundgesetz
Menschenwürde
Medizin
Ethik
Gesundheit
Organspende
Organspende
Organspende
Organspende
Lesestück Recherche und Reportage
Organspende
## ARTIKEL ZUM THEMA
Transplantation in den USA: Schweineherz im Menschen
Mediziner haben einem todkranken Mann in Baltimore das gentechnisch
veränderte Herz eines Schweins eingesetzt. Der Patient soll wohlauf sein.
Pro und Contra Widerspruchslösung: Organspende als Standard?
Der Bundestag stimmt in dieser Woche über die künftige Regelung der
Organspende ab. Wie sollte sie aussehen? Ein Pro und Contra.
Organspende im Bundestag: Jeder entscheidet für sich
Bei der Abstimmung im Parlament über die Organspende konkurrieren zwei
Gesetzentwürfe. Der Fraktionszwang ist aufgehoben.
Statistik zur Organspende 2019: Nur 932 SpenderInnen
Die Zahl der OrganspenderInnen in Deutschland blieb 2019 nahezu auf dem
Niveau des Vorjahres. Im internationalen Vergleich steht Deutschland
schlecht da.
Nötige Neuregelung der Organspende: Deutsches Organversagen
Drei Menschen sterben täglich in Deutschland, weil sie kein Spenderorgan
erhalten. Die Widerspruchslösung wäre einen Versuch wert.
Notstand bei Organspenden: Auf der Warteliste
Nur eine neue Niere kann sie retten: Seit Jahren wartet Bärbel Dittmann auf
ein Spenderorgan. Ob sie bis zur Operation überlebt, weiß sie nicht.
Grünen-Politikerin über Organspenden: „Ein zentrales Element von Würde“
Der Gesetzentwurf mit Widerspruchslösung ist ein Eingriff in das
Selbstbestimmungsrecht, sagt die Grünen-Politikerin Kirsten
Kappert-Gonther.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.