# taz.de -- Herkunftsnennung bei Straftaten: Die Gefahr der Obsession | |
> In den letzten fünf Jahren nennen Nachrichtenbeiträge immer häufiger die | |
> Herkunft von Tatverdächtigen. Das ergibt eine neue Studie. | |
Bild: Hier hat jemand „Interesse“. Passant am Tatort eines Verbrechens in G… | |
Berlin taz | Wie oft stellen Nachrichten einen Zusammenhang zwischen | |
Straftaten und Staatsbürgerschaft her? Antworten auf diese Frage gibt eine | |
Untersuchung der Hochschule Macromedia, die am Dienstag in Berlin | |
vorgestellt wurde. Das Team hat Fernseh- und Zeitungsbeiträge zum Thema | |
Gewaltkriminalität untersucht: daraufhin, ob sie [1][Informationen zur | |
Herkunft] (in der Regel heißt das: Staatsbürgerschaft) der Verdächtigen | |
enthalten. Und zwar aus den Haupt- und Boulevardnachrichten. Das Ganze | |
untersuchten sie punktuell für die Jahre 2014, 2017 und 2019. | |
[2][Das Ergebnis]: Noch 2014 spielte die Herkunft von Tatverdächtigen in | |
den Nachrichten kaum eine Rolle: Nur knapp 5 Prozent der untersuchten | |
Beiträge enthielten Informationen zur Herkunft der Beteiligten. Am nächsten | |
Untersuchungspunkt jedoch, dem Jahr 2017, war der Anteil massiv nach oben | |
geschnellt. Nun waren es knapp 18 Prozent. | |
Im laufenden Jahr 2019 war es dann sogar fast jeder dritte Beitrag, gut 31 | |
Prozent. Dazu kommt, dass in jeder Stichprobe die Tatverdächtigen | |
überproportional oft als ausländisch markiert wurden – während [3][laut | |
Kriminalstatistik] zwei Drittel der Tatverdächtigen die deutsche | |
Staatsbürgerschaft haben. „So entsteht ein Zerrbild“, sagt der | |
Journalismusforscher und Autor der Untersuchung, Thomas Hestermann. | |
Was ist passiert in den letzten Jahren? Es gibt mehrere | |
Deutungsmöglichkeiten. Die Macromedia leitet ihre Studie mit der | |
[4][Silvesternacht in Köln] 2015/16 ein und sieht sie als Ereignis, mit dem | |
„Vorbehalte gegenüber Eingewanderten und Geflüchteten neue Nahrung“ | |
erhalten hätten sowie als „Initialzündung eines gewachsenen Misstrauens | |
gegenüber dem Journalismus“. | |
Richtig ist: Die Raubüberfälle und Übergriffe auf Frauen auf der Domplatte | |
damals erzeugten eine heftige Debatte über die Repräsentation von Herkunft | |
in der Berichterstattung über Gewaltdelikte. Der über Jahrzehnte etablierte | |
journalistische Grundsatz, dass Herkunft – genauer: Nationalität – von | |
Tatverdächtigen nur bei einem Sachzusammenhang zu nennen ist, wurde infrage | |
gestellt. | |
## Sachbezug oder „Interesse“ | |
[5][Die Sächsische Zeitung beschloss im Nachgang], künftig immer die | |
Herkunft zu nennen, sofern sie von der Polizei gemeldet ist – und zwar | |
auch, wenn es sich um deutsche Staatsbürger*innen handelt. Und schließlich | |
entschied der Presserat 2017, den „Sachbezug“ als Voraussetzung aus dem | |
entsprechenden Artikel des Pressekodex zu streichen und stattdessen ein | |
„begründetes öffentliches Interesse“ an seine Stelle zu setzen. Für | |
Hestermann eine „fatale Entscheidung“. | |
Ähnlich sieht es Konstantina Vassiliou-Enz von der Initiative Neue Deutsche | |
Medienmacher*innen. „Die Verknüpfung von Herkunft und Straftaten ist | |
unsachlich“, sagt Vassiliou-Enz. Es gebe selbstverständlich Fälle, bei | |
denen die Herkunft zum Verstehen der Geschichte unabdingbar sei. „Aber die | |
bilden die absolute Ausnahme.“ | |
Anderer Ansicht war Heinrich Maria Löbbers, stellvertretender Chefredakteur | |
der Sächsischen Zeitung. „Wenn wir die Nationalität nicht nennen, schaffen | |
wir Freiraum für Spekulation“, sagte Löbbers. Die Redaktion sehe sich mit | |
Gerüchten in sozialen Medien konfrontiert sowie mit Leser*innen, die davon | |
ausgingen, dass die Herkunft aufgrund eines Verbots nicht genannt werde. | |
Dem widersprach Thilo Cablitz, Sprecher der Polizei Berlin. „Die Nennung | |
der Herkunft ändert an den Gerüchten in der Filterblase rein gar nichts.“ | |
Laut Cablitz nenne die Berliner Polizei die Herkunft in Pressemitteilungen | |
nur bei konkretem Sachbezug – gebe die Information, sofern bekannt, aber | |
auf Nachfrage an Journalist*innen. | |
## Die Info kommt von der Polizei | |
In fast allen Fällen kommen Redaktionen über die Polizei an Information | |
über die Herkunft von Tatverdächtigen. Ob die Polizeipressestellen | |
ebenfalls häufiger die Herkunft nennen, untersuchen die | |
Macromedia-Forscher*innen aktuell noch. Es gebe dafür aber schon | |
Anhaltspunkte, sagt Hestermann. | |
Womit die Verantwortung wieder mal effizient hin- und hergeschoben wäre. | |
Bleibt die Frage, wie der massive Anstieg der Herkunftsnennung zu | |
interpretieren ist. Konstantina Vassiliou-Enz findet, dass die Frage leicht | |
zu beantworten ist: „Wir haben es mit einer Kulturalisierung von | |
Kriminalität zu tun.“ Das hieße: Nachrichten bewegen sich von einer | |
realistischen Abbildung weg zu einer Obsession mit der Herkunft. | |
10 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Kolumne-Gehts-noch/!5470616 | |
[2] https://mediendienst-integration.de/artikel/wie-oft-nennen-medien-die-herku… | |
[3] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicher… | |
[4] /Silvesternacht-in-Koeln/!5369967 | |
[5] /Herkunftsnennung-bei-Straftaten/!5326216 | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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