# taz.de -- SPD wählt Vorsitzende: …und alle sind glücklich | |
> Solide und unfallfrei, aber ohne zündende Visionen tritt das neue | |
> SPD-Führungsduo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken beim Parteitag | |
> auf. | |
Bild: Erleichterung nach der Wahl: Die neuen Chefs Norbert Walter-Borjans und S… | |
BERLIN taz | Dass dies ein friedlicher Parteitag wird, ohne Verlierer und | |
Demütigungen, ahnt man schon, als Malu Dreyer um 10 Uhr am Freitag ans | |
Mikrofon im fensterlosen Berliner CityCube-Saal tritt. Die kommissarische | |
Parteichefin sendet Versöhnungssignale in alle Richtungen, lobt Olaf Scholz | |
und vergisst auch Andrea Nahles nicht. Das ist eine Geste nachholender | |
Anerkennung nach dem ziemlich rumpelnden Abschied, den die SPD ihrer | |
damaligen Parteichefin im Sommer beschert hatte. Nahles ist nicht in | |
Berlin. Es ist der erste Parteitag seit Jahrzehnten ohne sie. | |
Mehr als 600 Delegierte sollen an diesem Wochenende das große Ganze klären: | |
[1][den Kurs, das Personal], wie es mit der Groko weitergeht. Allen ist | |
klar: Jenseits aller Solidaritätsbeschwörungen gibt es einen Dissens. Olaf | |
Scholz hat den Kampf um die Chefrolle gegen das linke Team Norbert | |
Walter-Borjans und Saskia Esken verloren, aber jene, die die SPD weiter | |
mittig, pragmatisch, etwas blass wollen, sind keineswegs geschlagen. Das | |
zeigt der Leitantrag, der viel offenlässt. Eigentlich ist es der Leitantrag | |
des Parteichefs Olaf Scholz, sagen manche spöttisch. | |
Statt der sofortigen Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro steht im | |
Leitantrag: „Unser klares Ziel ist dabei perspektivisch die Anhebung des | |
Mindestlohns auf 12 Euro.“ Das gibt Raum für Verhandlungen mit der Union. | |
Kevin Kühnert kommt mit Turnbeutel, umringt von einer Traube von Kameras, | |
um zwanzig nach zehn in den Saal. Etwas spät. Er ist einer der wenigen | |
Stars der Partei. Ohne ihn würde es diese neue Führung nicht geben. | |
Ohne Leute wie Thomas Kutschaty allerdings auch nicht. Er ist Chef der | |
SPD-Fraktion in Düsseldorf. Kutschaty war Justizminister in | |
Nordrhein-Westfalen, ein geerdeter Genosse aus Essen, eher ein Mann der | |
Mitte, kein Parteilinker wie Kühnert. Kutschaty ist kurz vor Beginn des | |
Parteitags guter Dinge. Abends hat er mit Norbert Walter-Borjans unter vier | |
Augen geredet. 80 Prozent, sagt er auf Nachfrage, ja das wäre ein gutes | |
Ergebnis für die neue Spitze. Kutschaty war von Beginn an gegen die Große | |
Koalition. Die SPD steht in NRW bei 20 Prozent, sie ist nur noch | |
drittstärkste Partei hinter CDU und Grünen. Ein Desaster. Das, so sagen | |
viele, liegt auch an der Groko in Berlin. Die GenossInnen zwischen Duisburg | |
und Köln, sagt eine Delegierte aus NRW, haben „in Sachen Groko einen dicken | |
Hals“. | |
Ein knappes Viertel der Delegierten kommt aus Nordrhein-Westfalen. Und | |
deren Linie ist vor dem Parteitag klar: Es soll drei Vizechefs geben. Dann | |
jedoch liefe es auf ein Duell hinaus: [2][Kevin Kühnert als Parteivize], | |
den linken Rebellen, den die NRW-Delegierten wollen, gegen Netzwerker und | |
Arbeitsminister Hubertus Heil. | |
Die Pragmatiker wollen unbedingt einen Minister in der Parteispitze. Sonst | |
werde die Partei eine freidrehende Radikale, unverbunden mit Regierung, | |
frei von Koalitionszwängen, fürchten sie. Esken und Walter-Borjans wollen | |
eigentlich genau das: eine Partei, die möglichst weit entfernt von den | |
Zwängen des Regierens ist. | |
Kühnert gegen Heil, No Groko gegen Groko. Die Entscheidung hätte gezeigt, | |
ob die Partei in der Mitte bleiben oder nach links will. Es würde Sieger | |
geben und Verlierer. Schon wieder. | |
Aber die Sehnsucht nach Kompromiss und Harmonie ist groß nach der | |
aufreibenden Suche des neuen Führungsduos. | |
Deshalb findet man eine irgendwie sozialdemokratische Lösung. Die Zahl der | |
Stellvertreter wird nicht von sechs auf drei reduziert, sondern auf fünf. | |
Die pragmatische Ostfrau Klara Geywitz und die saarländische | |
Vizeministerpräsidentin Anke Rehlinger sind gesetzt. Dazu kommen Kühnert | |
und Heil, und die SPD-Chefin in Schleswig-Holstein, Serpil Midyatli. Eine | |
linke Migrantin. Damit sind alle erforderlichen Quoten erfüllt: Gender, | |
Flügel, Migrantin. Und alle sind glücklich. | |
Kenner der Partei hatten vorab gewitzelt, der Konflikt werde bestimmt im | |
Sinne sozialistischen Wettbewerbs gelöst. Den Kompromiss – fünf statt drei | |
Vizes – soll das alte SPD-Präsidium noch in der Nacht mit der neuen | |
Parteiführung ausgedealt haben. Auch Kutschaty findet die Lösung klug. | |
Das Entscheidende, so Kutschaty morgens vor dem Parteitag, sei nicht der | |
Leitantrag, der jetzt, in der letzten Fassung, in Ordnung sei. „Wichtig | |
ist, wie die Gespräche mit der Union laufen werden“, sagt er. Der | |
Erwartungsdruck auf die neue Parteispitze ist seitens der Groko-Skeptiker | |
hoch. „Eskabo“ lautet die leicht spöttische Kurzformel für die neue | |
Führung. Das klingt nach Heimwerkerbedarf. Eskabo müssen liefern. Später. | |
Jetzt müssen die beiden, die noch nie ein hohes Parteiamt hatten, erst mal | |
zeigen, dass sie auf Parteitagen reden können. | |
Donnerstagabend, beim Vorwärts-Empfang, schauen Esken und Walter-Borjans | |
für eine Stunde vorbei. Sie sind freundlich, unprätentiös. Selten sind zwei | |
mehr oder weniger Unbekannte von den meinungsproduzierenden Eliten im Land | |
derart gedisst worden wie die neuen SPD-Chefs. Auch manche Genossen reden | |
abfällig über die beiden. Diese geballte Ablehnung hat ihnen auch geholfen. | |
Wer so fertiggemacht wird und wie ein Fremdkörper von den Etablierten | |
abgestoßen wird, hat ja erst mal Schutz verdient. Vor allem Esken trifft | |
auf viel Ablehnung. Sie gilt als ideologisch und spaßbefreit. | |
Frau Esken, wie lange werden Sie morgen reden? Esken überlegt im Tipi am | |
Kanzerlamt kurz und sagt: „So lange wie Sigmar Gabriel. 90 Minuten. Und das | |
mal zwei.“ Humorlos klingt anders. | |
Um 12.03 Uhr geht Saskia Esken am nächsten Tag in rotem Jackett zum | |
Mikrofon und sagt: „Ich war elf Jahre, als das Misstrauensvotum gegen Willy | |
Brandt scheiterte.“ Willy Brandt geht in der SPD immer. Sie spricht viel | |
von sich, dass sie Paketbotin war. Und prangert nahtlos den | |
Niedriglohnsektor an. „Ich will schwedische Verhältnisse auf dem deutschen | |
Arbeitsmarkt.“ Dafür bekommt sie Applaus. Es ist ein wärmende Rede, mit | |
viel Sozialpolitik, die Signalworte sind „12 Euro Mindestlohn“ und „Hartz | |
IV überwinden“. Nahles Vorschläge für einen neuen Sozialstaat nennt sie | |
„bahnbrechend“. | |
Esken muss Kontinuität und Bruch verkörpern, einen neuen, schärferen Ton | |
anschlagen, ohne das Vergangene zu ruinieren. „Wir geben der Groko mit | |
diesem Leitantrag eine realistische Chance – nicht mehr und nicht weniger“, | |
sagt sie. Das ist nicht ungeschickt. Sie sendet ein Zeichen der | |
Entschlossenheit an die Linke, die ihr zu ihrem Amt verholfen hat, bleibt | |
aber ausreichend vage. Beim Sozialen ist der Beifall heftig, beim | |
Klimaschutz eher beiläufig. Sie redet 25 Minuten. | |
Norbert Walter-Borjans braucht doppelt so lange. Und er wird grundsätzlich. | |
Wettert gegen das 2-Prozent-Ziel. Rüstung an Wirtschaftswachstum zu koppeln | |
sei verquer. Es ist eine Rede mit vielen sozialdemokratischen Soundbites | |
und Schlagworten. „Die Märkte müssen sich der Demokratie unterordnen und | |
nicht die Demokratie den Märkten“, sagt er. Das kommt hier immer gut an. | |
Und er macht, bei aufbrausendem Applaus, klar, dass die schwarze Null kein | |
Selbstzweck sei. „Wenn es links ist, für sozialen Wohnungsbau zu sein, dann | |
sind wir links“, ruft er. Kutschaty findet den Auftritt „gut, auch die | |
Resonanz der Delegierten“. | |
Am Ende steht die erste Reihe auf und applaudiert der neuen Führung. Olaf | |
Scholz klatscht auch, vorsichtig, zurückhaltend, gebremst. | |
## Die Partei will Zusammenhalt | |
Ist das nun der Aufbruch? Endlich Vorsitzende, die der Partei zu ihrem | |
Recht verhelfen, befreit vom Korsett des Regierens? Oder sind es Auftritte | |
von Außenseitern, die noch fremdeln? | |
Die erste Parteitagsperformance liegt irgendwo dazwischen. Solide und | |
unfallfrei, aber ohne rhetorische Glanzlichter und zündende Visionen. Um | |
kurz vor 15 Uhr kommt das Ergebnis. 75,9 Prozent für Saskia Esken, 89,2 für | |
Norbert Walter-Borjans. Das passt zur Harmonieansage in der | |
CityCube-Messehalle in Berlin. Es ist ein ordentliches Resultat für die | |
linkere, schroffer wirkende Esken, ein blendendes für Walter-Borjans, der | |
wie ein freundlicher, vertrauenerweckender Onkel wirkt. Und die Partei will | |
Mitte, Zusammenhalt, Verständigung. | |
Die früheren SPD-ChefInnen Sigmar Gabriel, Martin Schulz, Andrea Nahles | |
haben oft zu einem Stilmittel gegriffen, um Dringlichkeit zu signalisieren: | |
Sie haben den Parteitag angebrüllt. Esken und Walter-Borjans bevorzugen | |
Zimmerlautstärke. Das ist erst mal ein Fortschritt. | |
6 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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