| # taz.de -- Drei Monate „Streit“-Ressort der „Zeit“: Und jetzt? Zoff! | |
| > Die Debattenkultur ist in Gefahr, fand die „Zeit“. Und gründete im | |
| > September „Streit“ – als Gegenentwurf. Hat's geholfen? | |
| Bild: Aufeinander zugehen ist eine schöne Idee – aber auch immer die Lösung? | |
| Als vor einem Vierteljahr die Zeit ein neues Ressort mit dem Titel „Streit“ | |
| gründete, gab es bereits eine diffuse Diskussion über die | |
| [1][Meinungsfreiheit] in Deutschland. Mittlerweile ist sie etwas weniger | |
| diffus geworden: durch die [2][Störung einer Vorlesung des AfD-Gründers | |
| Lucke] etwa. Oder durch eine Umfrage des Allensbach-Instituts, nach der 63 | |
| Prozent der Bevölkerung der Aussage zustimmen: „Heutzutage muss man sehr | |
| aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert“, und die die Zeit | |
| umgehend zum Titel machte. | |
| Aber auch die Gründung des „Streit“-Ressorts selbst und die Art, wie es | |
| beworben wurde, verstärkten die Debatte. Weil das so ist und weil „Streit“ | |
| nun genau drei Monate alt ist, wird es Zeit für einen Blick aufs fertige | |
| Produkt. | |
| Haben wir es mit einem journalistischen Experiment zu tun, von dem andere | |
| Redaktionen lernen könnten? Gelingt es der Zeit, eine Ebene abzubilden, die | |
| auf bisherigen Meinungsseiten verloren ging? Und was lernen wir daraus, | |
| dass es dieses Ressort überhaupt gibt? | |
| Irgendetwas, da ist man sich nicht nur bei der Hamburger Wochenzeitung | |
| sicher, läuft schief mit der Streitkultur im Land. Und „Zeit Streit“ soll | |
| ein Gegenentwurf sein. Der Diskurs sei „unglaublich vergiftet“, sagte | |
| Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo in einem Interview zum Start des | |
| Ressorts. „Er wird stark von den Rändern her bestimmt und ist geprägt vom | |
| unbedingten Vorsatz, die jeweils andere Seite misszuverstehen.“ Das Ressort | |
| „Streit“ sei ein kleiner Beitrag, den Begriff wieder positiv zu besetzen. | |
| ## Brücken bauen | |
| „Streit“ besteht in der Regel aus drei Seiten, Aufmacher ist ein | |
| Streitgespräch zwischen zwei oder mehr Personen oder ein „Pro- und Contra“. | |
| Dann folgen Meinungsrubriken, die so heißen, wie man sich Diskussionen bei | |
| Zeit-Leser*innen zu Hause am Kaffeetisch vorstellt: „Lass mich bitte | |
| ausreden“, „Ich sehe das anders“ und „Irgendwann ist auch mal gut“. | |
| Wer dachte, die Zeit würde sich hier zu einem ultraliberalen anything goes | |
| hinreißen lassen, konnte sich zunächst bestätigt fühlen. Denn obwohl di | |
| Lorenzo versprochen hatte, die „bürgerliche Mitte“ abzubilden, ging es | |
| Anfang September gleich mit AfD-Wähler*innen los – im Gespräch mit | |
| Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. | |
| Die formulieren dort, was wohl auch die Zeit in der Gesellschaft vernommen | |
| hat: eine „Zerrissenheit des Landes“, ein fürchterliches Klima, einen | |
| Graben, der geschlossen werden müsse. Einer behauptet, man dürfe in | |
| Deutschland nicht mehr sagen, dass etwas grundlegend schieflaufe. Immerhin, | |
| auf Zerrissenheit scheinen sich alle politischen Ecken einigen zu können. | |
| Brücken bauen um jeden Preis also? | |
| Auf der nächsten Seite der ersten Ausgabe tritt dann SPD-Politikerin Aydan | |
| Özoğuz auf, die sich erinnert, wie Alexander Gauland sie 2017 mit dem Wort | |
| „entsorgen“ rassistisch angegangen war. Özoğuz schreibt unter anderem, da… | |
| sie sich mit ihrer Äußerung über die „deutsche Kultur“, die den | |
| AfD-Spitzenkandidaten damals erzürnte, nicht präzise ausgedrückt habe. Und | |
| man mochte kurz den Atem anhalten ob der Befürchtung, dass die neue | |
| Zeit-Streitkultur darin bestehen könnte, Opfer rassistischer Hetze den | |
| Fehler bei sich suchen zu lassen. | |
| ## Versöhnung versuchen | |
| So dicke kam dann aber alles nicht. „Streit“ stritt, über was man eben so | |
| streitet in der Zeitung: Kinder, Lehrermangel, Atommüllendlager, SUVs, | |
| Homöopathie. Die Diskutant*innen, das fällt positiv auf, sind | |
| sorgfältig ausgewählt und ziemlich divers. Man hat auch den angenehmen | |
| Eindruck, dass hier gerade nicht diejenigen aufeinander losgelassen werden, | |
| die sich am ehesten in die Haare kriegen. | |
| „Wir achten bei der Auswahl der Partner darauf, wie diese Personen | |
| miteinander umgehen“, sagt Co-Ressortleiterin Charlotte Parnack. Niemand | |
| solle vorgeführt werden. Von einem idealen Streit als „argumentativem | |
| Tauziehen“ spricht ihr Kollege Jochen Bittner, „ohne Unterstellung, ohne | |
| persönlichen Vorwurf, bei dem es nicht darum geht zu gewinnen, sondern sich | |
| bewegen zu lassen“. | |
| Das gelingt. Die Lektüre der „Streit“-Seiten ist zumeist wie ein | |
| wohltuendes Wiedersehen mit den Twitter-Tiraden der letzten Tage, wobei man | |
| feststellt, dass das alles bei näherem Hinsehen doch alles gar nicht so | |
| wild war. | |
| „Fast alle Kontrahenten kamen am Ende des Gesprächs versöhnter raus, als | |
| sie hineingingen“, sagt Parnack. Eine Ausnahme sei die Diskussion zwischen | |
| der kurdischen Linke-Politikerin Cansu Özdemir und dem türkischen AKP-nahen | |
| Unternehmensberater Bülent Güven gewesen, bei der es zu keinerlei | |
| Annäherung gekommen sei – was aber auch nicht unbedingt das Ziel sei. „Es | |
| geht nicht darum zuzustimmen, sondern zuzuhören.“ | |
| ## Gräben graben | |
| Der Debattenjournalismus kann durchaus von „Streit“ lernen. Darüber, wie | |
| man Diversity auf die Meinungsseite bringt (nämlich in Kooperation mit der | |
| Onlineredaktion, die Diskutant*innen aus sozialen Netzwerken | |
| rekrutiert) oder wie man ausgleichend moderiert. | |
| Das Grundproblem aber bleibt: dass die behauptete Zerrissenheit des Landes | |
| durch den Vermittlungsversuch gerade reproduziert wird. Man muss nämlich | |
| die Annahme, auf die „Streit“ aufbaut, gar nicht teilen. [3][Man kann | |
| finden, dass die Sache mit Bernd Lucke fürchterlich hochstilisiert wurde]. | |
| Oder [4][dass nichts Schlimmes daran ist, wenn immerhin 63 Prozent der | |
| Deutschen ein bisschen darauf achten, was sie sagen]. Kann finden, dass es | |
| zwar selbstverständlich Gräben bei vielen Themen gibt, aber keine | |
| „Zerrissenheit“. Kann finden, dass durch diese Erzählung | |
| rechtspopulistische Positionen auf eine Stufe mit anderen geraten. | |
| Diese Befürchtung liegt nahe, wenn ein AfD-Wähler bei „Zeit Streit“ davon | |
| spricht, dass „die Nazizeit uns wie ein Klotz am Bein hängt“ – an dersel… | |
| Stelle, wo ein paar Wochen später über deutsche Verantwortung diskutiert | |
| wird. | |
| Und dann ist da das Jahr 2015, das immer wieder als Spaltungsmoment | |
| behauptet wird. Bei den AfD-Wählern taucht es auf sowie bei | |
| Ex-Verfassungsschutzchef Maaßen, der auch noch mal unwidersprochen von | |
| einer [5][„Grenzöffnung“] spricht. Klar, 2015 war politisch ein turbulentes | |
| Jahr. Aber war es der Urknall einer Spaltung? Oder gibt es die erst dann, | |
| wenn man sie oft genug behauptet? Co-Ressortleiter Jochen Bittner findet | |
| einerseits: „Wir sollten vorsichtig sein, dass wir eine Spaltung, die | |
| gerade heilt, nicht erneut aufreißen.“ Sagt aber auch: „Die Spaltung in | |
| Deutschland ist nicht dieselbe wie in den USA oder in Großbritannien – aber | |
| wir befinden uns auf dem Weg dahin.“ | |
| „Streit“ verdeutlicht, dass die Debatte über die Meinungsfreiheit im Kern | |
| an einer Grundannahme hängt: Wer glaubt, dass Deutschland drauf und dran | |
| ist, in der Mitte auseinanderzureißen, wird viel in Kauf nehmen, um dies zu | |
| verhindern, womöglich eine folgenschwere Öffnung nach rechts. Wer das | |
| anders sieht, muss davor warnen. Das alles ist, Sie ahnen es, eine | |
| Streitfrage. | |
| 6 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erica Zingher | |
| Peter Weissenburger | |
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