# taz.de -- Bilanz der Abschiebung nach Afghanistan: Zurück in den Krieg | |
> Vor drei Jahren startete der erste Abschiebeflug nach Afghanistan. Trotz | |
> katastrophaler Lage dort halten deutsche Behörden daran fest. | |
Bild: Abgeschobene Afghanen im Flugzeug nach Kabul | |
MÜNCHEN/BERLIN taz | Ali Reza hätte längst nicht mehr in Deutschland sein | |
sollen. 2013 ist er im Alter von 18 Jahren als Flüchtling aus Afghanistan | |
gekommen, 2016 beschied [1][das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge | |
(Bamf)] seinen Asylantrag negativ. Er war ausreisepflichtig. „Ständig | |
drohte mir die Abschiebung“, sagt der heute 24-Jährige auf einer | |
Pressekonferenz des Bayerischen Flüchtlingsrates in München. | |
Er arbeitete als Reinigungskraft, lernte deutsch, tauchte unter, lebte auf | |
der Straße, konvertierte zum Christentum. Jetzt gilt er, der schon lange | |
weg sein sollte, als Härtefall, eine Aufenthaltsgenehmigung steht in | |
Aussicht. Reza geht nun in München in die Mittelschule und strebt den | |
Abschluss an. | |
Bei nicht allen, die ausreisepflichtig sind und abgeschoben werden können, | |
fügt es sich so gut. Seit drei Jahren gibt es Sammel-Abschiebeflüge in die | |
afghanische Hauptstadt Kabul, den ersten am 14. Dezember 2016, der 30. und | |
vorerst letzte fand am Dienstag statt. | |
Insgesamt wurden 800 Menschen auf diese Weise zurück nach Afghanistan | |
gebracht. Zwar ist die Zahl eher gering, doch sie steigt jährlich: Laut | |
Bundesinnenministerium waren es 2018 noch 284 Personen, 2019 sind es bisher | |
361. Somit fanden 45 Prozent aller Abschiebungen in diesem Jahr statt. | |
Zeit für den Flüchtlingsrat und Pro Asyl, Bilanz zu ziehen. Die | |
Organisationen setzen sich für einen Stopp der Flüge ein, Stephan Dünnwald | |
vom Flüchtlingsrat spricht von „verschiedenen katastrophalen Fällen“, der… | |
Abschiebungen „nicht rechtmäßig“ gewesen seien. Erst am Dienstag habe sich | |
ein junger Mann aus dem oberbayerischen Hausham darunter befunden, der in | |
einem psychiatrischen Programm der Münchner Uni-Klinik gewesen und nun in | |
Afghanistan höchst gefährdet sei. „Notorisch“ werde den Personen bei ihrer | |
Verhaftung das Telefon weggenommen, so dass sie häufig gar keine | |
Möglichkeit hätten, etwa ihre Anwälte anzurufen. | |
## Das „unsicherste Land der Welt“ | |
Die Sicherheitslage in dem Krisenland ist prekär. Das | |
UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hatte im Sommer eindringlich vor mehr | |
Abschiebungen gewarnt. [2][Die Situation dort] habe sich in den vergangenen | |
Monaten drastisch verschlechtert, sagt Dominik Bartsch, Repräsentant des | |
UNHCR in Deutschland. Die Taliban hätten stark an Boden gewonnen, es gebe | |
Terroranschläge und [3][Menschenrechtsverletzungen], auch die Hauptstadt | |
Kabul sei inzwischen „hochgefährlich“ und längst keine „interne | |
Fluchtalternative“ mehr. | |
Im Oktober gab die UN bekannt, der Juli 2019 sei der „tödlichste Monat“ | |
seit Beginn der Aufzeichnungen vor zehn Jahren gewesen, 425 Zivilist*innen | |
ums Leben. In den ersten neun Monaten des Jahres 2019 zählte die UN 2.563 | |
zivile Todesopfer (2018: 2.870). | |
In München sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl: „Afghanistan ist das | |
unsicherste Land der Welt“, es steht noch vor Syrien. In einer Ende | |
November veröffentlichten Studie der Afghanistan Human Rights and Democracy | |
Organization hatten 60 Prozent der befragten Rückkehrer angegeben, dass sie | |
sich „nicht in der Lage“ oder zu unsicher fühlten, um an ihren Heimatort | |
innerhalb Afghanistans zurückzukehren. | |
Im Sommer 2017 wurden die Abschiebungen nach einem Anschlag auf die | |
deutsche Botschaft in Kabul deutlich beschränkt: auf Gefährder, Straftäter | |
und sogenannte hartnäckige Identitätsverweigerer. Im Juni 2018 jedoch hat | |
die Bundesregierung diese Einschränkung mit Verweis auf den neuen | |
Lagebericht der Auswärtigen Amts aufgehoben, obwohl in diesem von einer | |
„weiterhin volatilen Sicherheitslage“ die Rede war. | |
## Viele tauchen unter | |
Viele Bundesländer haben aber selbstständig entschieden, an den | |
Beschränkungen ganz oder teilweise festzuhalten. Man dürfe „keine | |
unbescholtenen Menschen in Krisengebiete zurückschicken“, hatte | |
Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) bei der | |
Innenministerkonferenz im Sommer gesagt. Niedersachsen schiebt nur | |
Gefährder und Männer ab, die schwere Straftaten begangen haben. Im Jahr | |
2019 waren das bislang lediglich vier Personen, wie das Innenministerium | |
auf taz-Nachfrage angibt. | |
Anders ist das in Bayern, sodass Flüchtlingshelfer dort immer wieder mit | |
äußerst zweifelhaften Fällen zu tun haben. Zwei Männer etwa wurden laut | |
Dünnwald für die Abschiebung ausgesucht, obwohl sie sich nichts hatten zu | |
Schulden kommen lassen und sich in einer Ausbildung zu Pflegehelfern | |
befanden. Einer von ihnen sei durch eine Intervention der ehemaligen | |
Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU) „vom Flieger runtergeholt“ worden, | |
so Dünnwald. | |
Nicht nur Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Grüne setzen sich gegen | |
Abschiebungen ein, sondern auch CSU-Politiker wie Stamm und ein | |
Landtagsabgeordneter. „Die Fälle, die im Flieger sitzen, sind nicht | |
intensiv geprüft worden“, klagt der Flüchtlingshelfer. Oft wüssten die | |
Behörden etwa nicht, dass die Betroffenen in einer Ausbildung sind. 2018 | |
und 2019 kamen insgesamt 60 Prozent der Abgeschobenen aus Bayern – der | |
Freistaat als Abschiebemeister. | |
Der Flüchtlingsrat und Helferkreise haben zu einem Drittel der | |
Abgeschobenen zuvor Kontakt gehabt – was die Möglichkeit erhöht, noch in | |
letzter Minute zu intervenieren. Dünnwald weiß: „Unter den Abgeschobenen | |
sind auch Mörder und Vergewaltiger, aber die kommen nicht zu uns und bitten | |
um Hilfe.“ Wer sich um Unterstützung und auch um Integration bemühe, gerate | |
meist „gar nicht in die Gefahr, abgeschoben zu werden“. Wichtig sei etwa, | |
dass die Menschen beim Gespräch mit dem Bamf die Geschichte ihrer | |
Verfolgung schlüssig, lückenlos und möglichst belegbar darstellen können. | |
Für Bernd Mesovic haben die Sammelabschiebungen auch hier gravierende | |
Folgen: „Es ist gelungen, größtmögliche Panik unter den Leuten zu | |
erzeugen.“ Die Furcht vor Abschiebungen führe dazu, dass die Betroffenen | |
untertauchen. Auf einen Abgeschobenen kämen demnach vier bis fünf | |
Flüchtlinge, die im Inland untertauchen oder ins Ausland gehen. Frankreich | |
ist dabei ein bevorzugtes Ziel für Afghanen. Stephan Dünnwald: | |
„Bundesinnenminister Horst Seehofer ist der größte Produzent von | |
Sekundärmigration.“ | |
5 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Fluechtlinge-in-Deutschland/!5630319 | |
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[3] /Human-Rights-Watch-zu-Afghanistan/!5635012 | |
## AUTOREN | |
Patrick Guyton | |
Dinah Riese | |
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