| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Radikales Klima | |
| > Zwei Protestbewegungen lenken derzeit Aktivismus in Frankreich: Ökos und | |
| > Gelbwesten. Was passiert, wenn sie versuchen, sich zu vereinen? | |
| Bild: Beim Klimaprotest in Paris kam es im September 2019 zu Ausschreitungen | |
| [1][Klimastreiks], Sitzblockaden bei Amazon, Monsanto oder BNP Paribas, | |
| lokale Aktionen aller Art: Keine Woche vergeht ohne einen neuen | |
| Paukenschlag zur Rettung des Planeten. Viele, die vorher eher unpolitisch | |
| waren, engagieren sich und mischen Organisationen wie Greenpeace, Amis | |
| de la Terre (den französischen Zweig von Friends of the Earth), Attac oder | |
| France Nature Environnement auf. Sie geben sich radikal, wollen die | |
| Probleme an der Wurzel packen und stellen die Wirtschafts- und | |
| Gesellschaftsordnung infrage, die diese Probleme produziert. | |
| „Wir kämpfen für grundsätzliche Veränderungen und üben radikal Kritik am | |
| kapitalistischen System“, erklärt der Aktivist Gabriel Mazzolini, der bei | |
| Amis de la Terre für die Aktionsplanung zuständig ist und im Dezember 2018 | |
| bei einer gewaltfreien Blockade vor dem Sitz der Société Générale in | |
| Polizeigewahrsam genommen wurde. Die Aktivisten werfen der französischen | |
| Großbank die Finanzierung „schmutziger Energien“ vor. | |
| Die verschiedenen Gruppierungen unterscheiden sich in ihrer Radikalität. | |
| Dabei ist festzustellen: Wer in seinen Aktionsformen radikal ist, ist es | |
| nicht unbedingt auch im Hinblick auf seine politischen Konzepte und Ziele. | |
| Bewegungen wie Greenpeace oder Sea Shepherd sind für ihre riskanten | |
| Aktionen gegen Öltanker und Walfangschiffe bekannt, vertreten aber | |
| gleichzeitig reformistische Gesellschaftsmodelle oder scheren sich gar | |
| nicht erst um soziale Fragen. | |
| Auch wenn nur wenige Ökoaktivisten aus der Arbeiterklasse stammen, werden | |
| soziale Fragen mittlerweile aber nicht mehr komplett ausgeblendet. „Die | |
| Menschen haben erkannt, dass der Raubbau am Planeten durch große | |
| multinationale Konzerne und die soziale Ungleichheit zusammenhängen“, | |
| meint der Soziologe Albert Ogien, der am Pariser Centre national de la | |
| recherche scientifique (CNRS) zu sozialen Bewegungen forscht. „Ökologie | |
| und soziale Probleme lassen sich heute nicht mehr trennen.“ Allein mit | |
| neuen Lösungen und alternativen Konzepten ist es dabei nicht getan. | |
| ## Kein ziviler Ungehorsam | |
| Anne-Sophie Trujillo, die für Alternatiba und ANV-COP21 (Action | |
| non-violente COP21) aktiv ist, meint dazu: „Wir haben es mit Veränderungen | |
| im Alltag versucht, haben versucht, gemeinsam mit den Kommunen Pläne zu | |
| entwickeln, und sind auf die Straße gegangen. Trotzdem blieb alles beim | |
| Alten. Mir wurde klar, dass wir einen Schritt weitergehen müssen.“ | |
| Trujillos Aktion: Sie nahm in einem Rathaus im Département Ain das Porträt | |
| von Präsident Emmanuel Macron von der Wand, dafür bekam sie eine Geldstrafe | |
| von 500 Euro zur Bewährung aufgebrummt. | |
| Anfang Oktober wurden 51 Aktivistinnen und Aktivisten wegen | |
| „gemeinschaftlichen Diebstahls“ angeklagt, nachdem sie sich am Abhängen von | |
| Macron-Porträts beteiligt hatten. Das Strafgericht Lyon sprach zwei von | |
| ihnen frei, weil es aufgrund der Untätigkeit des Staates angesichts der | |
| Erderwärmung eine „Notsituation“ als gegeben ansah. Der Staatsanwalt | |
| legte Berufung ein. Andere Aktivisten wurden wegen desselben Tatbestands | |
| verurteilt. Alle Welt preist den zivilen Ungehorsam. In Wahrheit handelt es | |
| sich aber eher um eine gewaltfreie Form der direkten Aktion. | |
| „Ziviler Ungehorsam heißt, dass jemand bewusst beschließt, ein Gesetz zu | |
| missachten“, erläutert Ogien. „Dieser Jemand sagt: ‚Nehmt mich fest, spe… | |
| mich ein, macht mir den Prozess – dann erkläre ich euch, warum ich mit | |
| diesem Gesetz nicht einverstanden bin.‘ Wenn er damit Erfolg hat, wird das | |
| Gesetz vielleicht geändert. Die Aktionen von Extinction Rebellion [2][wie | |
| die Brückenbesetzungen in London], das Abhängen von Präsidentenporträts | |
| oder Anti-AKW-Kampagnen richten sich aber nicht gegen ein konkretes | |
| Gesetz.“ | |
| Der Zulauf neuer Aktivisten stärkt auch riskante Manöver. „Ende Gelände“ | |
| besetzt jedes Jahr einen Tag lang den riesigen Tagebau Garzweiler im | |
| Rheinischen Braunkohlerevier. Während die erste Aktion von 2015 immerhin | |
| schon 1500 Menschen mobilisieren konnte, legten [3][2019 zwischen 5000 und | |
| 6000 Aktivisten den Betrieb für 45 Stunden lahm]. | |
| ## Vereinigung der Protestbewegungen? | |
| In Frankreich ist derzeit die entscheidende Frage, ob sich die Proteste der | |
| Klimaschützer und die der [4][Gelbwesten] vereinen lassen. In etlichen | |
| kleineren Städten haben sie schon zusammen demonstriert, anderswo ist die | |
| soziale Kluft unübersehbar, besonders in Paris. Jérôme Cassiot, der in | |
| Villefranche-sur-Saône in gelber Weste auf die Straße ging, erzählt von | |
| seinen Erlebnissen am 16. März 2019: „Wir zogen uns von den Champs-Élysées | |
| zurück, wo praktisch Krieg herrschte, und gingen zur Place de la | |
| République, wo gerade die Klimaschützer mit ihrem ‚Marsch des Jahrhunderts�… | |
| ankamen. Der Gegensatz sprang allein schon optisch ins Auge. Ich dachte: Da | |
| marschieren die Gutgläubigen und Bobos, die nicht sehen wollen, was um sie | |
| herum passiert.“ | |
| Mathieu Bourbonneux, der bei den Gelbwesten in Nantes mitmischt, berichtet: | |
| „Manche der radikaleren Ökoaktivisten gingen lieber zusammen mit den | |
| Gelbwesten auf die Straße, die nichts von Verhandlungen halten und einen | |
| Systemwechsel anstreben.“ Khaled Gaiji, der Vorsitzende von Amis de la | |
| Terre, räumt selbstkritisch ein: „Diesen Annäherungsversuch haben wir | |
| vermasselt. Wir haben zu zögerlich reagiert, dabei spielte auch die Angst | |
| vor Rechtsextremen eine Rolle. Erschwerend kam hinzu, dass dort, wo die | |
| Gelbwesten auf die Straße gingen, unsere Leute fehlten. Wir haben versucht, | |
| das zu ändern. Seit April kommt man sich näher, aber die kulturellen Codes | |
| sind doch sehr unterschiedlich. Dieser Annäherungsprozess ist kein | |
| Selbstläufer. Wir müssen uns erst mal kennenlernen.“ | |
| „Die Naturschutzbewegungen waren schon immer sehr divers. Aber für die | |
| meisten von ihnen ist sozialer Fortschritt nicht Teil der Agenda“, erklärt | |
| die Wissenschafts- und Umwelthistorikerin Valérie Chansigaud. „Darunter | |
| sind reaktionäre und esoterische Gruppierungen, die sich zwar den Erhalt | |
| der Natur auf die Fahnen schreiben, aber nicht für Emanzipation stehen. | |
| Ähnliches gilt für die Colibri-Bewegung und die Anthroposophen. Dass manche | |
| stolz darauf sind, weder rechts noch links zu sein, zeigt nur, dass sie | |
| über die sozialen Kämpfe nicht im Bilde sind. Das gilt zum Beispiel für die | |
| Umweltschützer, die sich Macrons La République en marche (LRM) | |
| angeschlossen haben.“ | |
| Auch etliche Aktivisten von Amis de la Terre, die 1974 René Dumont als | |
| Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen ins Rennen schickten, haben sich | |
| auf einen reformistischen Kurs zurückgezogen. Ironie des Schicksals: Die | |
| teils anarchistischen Wachstumskritiker von früher glauben heute an einen | |
| guten Kapitalismus. „Wir müssen uns von der Idee der Weltrevolution | |
| verabschieden und stattdessen schauen, was sich auf gesetzgeberischer Ebene | |
| bewegen lässt“, meint Yves Lenoir, Aktivist der ersten Stunde bei Amis de | |
| la Terre und Greenpeace. „Was wir brauchen, ist ein Kapitalismus mit | |
| ökologischen Prioritäten. Das Denken in Ungleichheitskategorien führt zu | |
| nichts. Aus historischen Gründen gibt es nun einmal Leute, die Geld haben. | |
| Entscheidend ist, was sie mit diesem Geld machen.“ | |
| ## „Wir sind komplett unabhängig“ | |
| Eine andere ökologische Vision entstand in den 1970er Jahren. In den USA | |
| und den angelsächsischen Ländern wurde die Sorge um die Umwelt mit einer | |
| immer entschiedeneren Absage an das kapitalistische Systems verknüpft. Für | |
| die Anhänger der Animal Liberation Front (ALF) und Earth Liberation Front | |
| (ELF) gibt es keine Hierarchie zwischen den Lebewesen dieser Erde. | |
| „ALF und ELF“, so Valérie Chansigaud, „bleiben jedoch Außenseiter. Das | |
| liegt weniger an ihrer zahlenmäßigen Stärke als an ihren Positionen. Sie | |
| kämpfen gegen die Gesellschaft, ohne Teil von ihr sein zu wollen. Aus | |
| diesem Geist entstand auch die ZAD („zone à défendre“) gegen den Bau des | |
| Großflughafens im bretonischen Notre-Dame-des-Landes. Die Aktivisten im | |
| Protestcamp waren bereit, ihr Leben radikal zu ändern, um mit ihren eigenen | |
| Zielen im Einklang zu leben: ein klassisches Beispiel für eine direkte | |
| Aktion.“ | |
| Die Kritik an den Anhängern der reformistischen Ökobewegung, die ihr | |
| Fähnchen nach dem Wind hängen würden, um – wie etwa die Grünen – an | |
| einflussreiche Posten zu gelangen, artikuliert sich im Onlinemagazin | |
| Terrestres und in den Zeitschriften La Décroissance und Silence. Die neuen | |
| Aktivisten von Youth for Climate oder Extinction Rebellion (XR) lehnen den | |
| Politikbetrieb strikt ab und meiden konsequent jede parteipolitische | |
| Vereinnahmung. | |
| „Wir sind komplett unabhängig“, erklärt der 16-jährige Marin Bisson, der | |
| sich in Lyon bei Youth for Climate engagiert. „Wir wollen zeigen, dass die | |
| Jugend für ihre Zukunft aufsteht und dass wir mit der herrschenden Politik | |
| nicht einverstanden sind.“ Antoine von Youth for Climate in Paris ist | |
| anderer Meinung: „Den politischen Weg sollte man trotz allem nicht komplett | |
| abschreiben. Die Vernetzung mit engagierten Leuten in den ökologisch | |
| orientierten Parteien kann uns durchaus stärken.“ Andere sind | |
| entschiedener: Das Netzwerk Collectif pour une transition citoyenne – allen | |
| voran die Bewegung „Utopia“ – und die Organisation Démocratie ouverte re… | |
| an, für die Kommunalwahlen 2020 Bürgerlisten aufzustellen, um in die | |
| Rathäuser einzuziehen. | |
| ## Umweltbewegung lernt von den Gelbwesten | |
| Eine Generation, die in der Überfluss- und Konsumgesellschaft sozialisiert | |
| und entpolitisiert wurde, entdeckt auf einmal anarchistische Denker wie | |
| Élisée Reclus wieder. Sie begeistert sich für die Ideen der Sozialökologie, | |
| den libertären Kommunalismus von Murray Bookchin oder die politische | |
| Ökologie von André Gorz. Und die 2013 gegründete Organisation Alternatiba | |
| (das baskische Wort für „Alternative“), die gegen den Klimawandel | |
| mobilmacht, steht vor einem Dilemma: Auf der einen Seite muss sie ihre | |
| Basis vergrößern und sich deshalb auch für weniger militante Teile der | |
| Gesellschaft öffnen, auf der anderen Seite will sie ein radikal anderes | |
| Gesellschaftsmodell verwirklichen. | |
| Die Soziologen Nicolas Brusadelli und Yannick Martell, die Alternatiba seit | |
| 2014 beobachten, beschreiben die Bewegung so: „Bei den Zusammenkünften von | |
| Alternatiba wird konsensorientiert diskutiert. Auf diese Weise hat | |
| Alternatiba es geschafft, Menschen zusammenzubringen, die komplett | |
| unterschiedlicher Meinung sind, aber denselben Lebensstil pflegen. Nahezu | |
| alle Mitglieder von Alternatiba kommen aus der Mittelschicht. | |
| Globalisierungsgegner sehen darin eine Entpolitisierung, aber politikferne | |
| Menschen, wie etwa leitende Angestellte in der Industrie, empfinden es | |
| schon als starke Politisierung, wenn sie bei Alternatiba mitmachen. Für sie | |
| bedeutet dieser Schritt einen radikalen Bruch mit ihrem bisherigen Leben | |
| und manchmal sogar mit ihren Familien. In einem zweiten Schritt engagieren | |
| sie sich dann vielleicht in der gewaltfreien Bürgerbewegung ANV-COP21, die | |
| die Möglichkeit von konkreteren Aktionen abseits des Profi-Aktivismus | |
| bietet, den die großen Organisationen praktizieren.“ | |
| Der Aufstand der Gelbwesten im Herbst 2018 brachte die eher | |
| reformorientierten Ökoaktivisten unter Zugzwang. „Die Gelbwesten haben die | |
| Klassenfrage wieder auf die Tagesordnung gesetzt“, konstatiert der | |
| Soziologe Jean-Baptiste Comby. Sogar der Regisseur Cyril Dion, der | |
| gemeinsam mit Pierre Rabhi die Umweltbewegung Colibris gründete, ergreift | |
| inzwischen öffentlich Partei für die Gelbwesten und erklärt, er traue den | |
| bestehenden Institutionen nicht zu, die ökologische Krise zu lösen. | |
| Die drängende soziale Frage trifft mit dem Klimanotstand zusammen, der sich | |
| mit jedem Tag verschärft. Die Slogans von Extinction Rebellion und ihr Logo | |
| – eine in einen stilisierten Globus eingeschriebene Sanduhr – bringen die | |
| Situation auf den Punkt: Die Zeit drängt. Innerhalb der Bewegung wird über | |
| ein Ende des Kapitalismus und der Industriegesellschaft debattiert. | |
| ## „Wir müssen die ausgelatschten Pfade verlassen“ | |
| Viele Aktivisten wollen bei den direkten Aktionen noch weitergehen und | |
| kritisieren jede Form „falscher Lösungen“. Davon zeugt die harsche Kritik | |
| der Gruppe an Maxime de Rostolan, dem Gründer von „Fermes d’avenir“ | |
| (Bauernhöfe der Zukunft), die sich für eine biologische, aber | |
| produktivistische und von Agrarmultis unterstützte Biolandwirtschaft | |
| starkmacht. Das Festival „L'An Zéro“ (das Jahr null), das die Gruppe im | |
| August 2019 veranstalten wollte, musste abgesagt werden, nachdem rund 30 | |
| Gruppen das Event als „Öko-Macronismus“ gebrandmarkt hatten. | |
| Zahlreiche Aktivistengruppen sind überzeugt, dass sie angesichts der | |
| Dringlichkeit der Lage ihr gewohntes Arsenal von Aktionsformen erweitern | |
| müssen: rechtliche Schritte, Demonstrationen, Streiks, Sitzblockaden auf | |
| öffentlichen Plätzen oder vor umweltschädlichen Betrieben, Sabotageakte. | |
| Immer mehr von ihnen freunden sich – was die Aktionsformen betrifft – mit | |
| dem Gedanken an, mehrgleisig zu fahren. „Ich glaube, dass wir alle Optionen | |
| brauchen“, meint der 15-jährige Vipulan, der sich bei Youth for Climate | |
| engagiert. | |
| Die 21-jährige Léna, die an der Sorbonne Mathematik und Physik studiert und | |
| ebenfalls bei Youth for Climate mitmacht, berichtet: „Vor zwei Jahren habe | |
| ich bei ANV-COP21 ein Aktionstraining in zivilem Ungehorsam mitgemacht. | |
| Aber unsere Gruppe wurde gegründet, weil viele mit dieser Art von zivilem | |
| Ungehorsam nichts anfangen können. Solange wir reformistisch agiert haben, | |
| kamen wir uns überflüssig vor. Im Rückblick ist die Geschichte der | |
| Ökobewegung ziemlich deprimierend. Wir müssen kreativer werden und die | |
| ausgelatschten Pfade verlassen, wenn wir die Mächtigen wirklich schwächen | |
| und die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten verändern wollen. Das | |
| bedeutet zum Beispiel, für gewisse Zeit strategisch wichtige Orte zu | |
| besetzen.“ | |
| Dieses mehrgleisige Vorgehen ist auch das Erfolgsmodell der ZAD in | |
| Notre-Dame-des-Landes. „2012 bei der Operation ‚César‘ war es genau diese | |
| Taktik, die zum Sieg führte. Wichtig ist, dass wir den Überraschungseffekt | |
| auf unserer Seite haben“, stellt Isabelle F. fest, die in der ZAD wohnt und | |
| das Kollektiv „The Laboratory of Insurrectionary Imagination“ mitbegründet | |
| hat. | |
| ## Wenn die Gewaltfrage aufgeworfen wird | |
| Immer wieder wird bei taktischen Überlegungen der Aktivisten auch die | |
| Gewaltfrage aufgeworfen. „Für uns hat die Mehrgleisigkeit den sogenannten | |
| Grenadine-Effekt“, erklärt Gabriel Mazzolini von Amis de la Terre. „Stell | |
| dir vor, du schüttest einen Schuss Grenadinesirup – sprich: einen Schuss | |
| Gewalt – in ein Glas Wasser. Hinterher sieht man kein Wasser mehr, sondern | |
| nur noch den Sirup. Der Nutzen und die Beweggründe der Aktion bleiben auf | |
| der Strecke. Wir sind uns der bestehenden Kräfteverhältnisse bewusst und | |
| geben uns nicht der Illusion hin, das politische System könnte sich aus | |
| seiner Erstarrung lösen. Deshalb müssen wir die Bewegung noch stärker | |
| bündeln.“ | |
| Für Jean-Baptiste Comby steckt hinter dem Bild von der Grenadine im | |
| Wasserglas eine Form von Klassismus: „Dass die bürgerliche Presse | |
| Sachbeschädigung oder Sabotage vehement kritisiert, heißt nicht | |
| zwangsläufig, dass alle Medienkonsumenten diese Sicht der Dinge teilen.“ | |
| Wer sich auf das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit zurückzieht, negiert unter | |
| Umständen, dass es eine von den Herrschenden verschleierte Gewalt, | |
| institutionelle Gewalt oder Polizeigewalt gibt, unter der vor allem die | |
| benachteiligten Klassen zu leiden haben. Die schweren Körperverletzungen | |
| bei Einsätzen gegen die Gelbwesten riefen im Vergleich zu anderen Zeiten – | |
| etwa im Vergleich zum Tod von Malik Oussekine während der | |
| Studentenprotesten im Dezember 1986 – nur verhältnismäßig wenig Empörung | |
| hervor. | |
| Heute propagiert keine Ökoaktivistengruppe den Einsatz physischer Gewalt. | |
| Für Léna ist klar: „Wir haben einfach keine Lust auf Gewalt gegen | |
| Lebewesen, aber was Sachschäden angeht, gibt es eigentlich kein Limit.“ Bei | |
| radikaleren Gruppierungen wie dem Comité invisible (Das unsichtbare | |
| Komitee) geht es sogar in erster Linie um Sachbeschädigung und Sabotage. | |
| „Wer Allianzen schmieden will, muss lernen, mit Leuten zusammenzuarbeiten, | |
| die andere Vorstellungen haben“, findet Chansigaud. | |
| Wer stur auf der eigenen Position beharrt, sich dogmatisch an seine | |
| Strategie klammert, riskiert klägliche Misserfolge wie die G7-Gipfel-Gegner | |
| im Baskenland im August 2019. Damals wollten sich über 50 Organisationen | |
| zur Plattform „G7 EZ“ (Baskisch für: „Nein zum G7“) zusammenschließen, | |
| zerstritten sich aber dermaßen, dass keine einzige der geplanten Aktionen | |
| stattfinden konnte. | |
| Andere konzertierte Aktionen waren erfolgreicher. Im April 2019 folgten | |
| etwa 2000 Menschen dem Aufruf von Greenpeace, ANV-COP21 und Amis de la | |
| Terre und blockierten Unternehmen und das französische Umweltministerium im | |
| Geschäftsviertel La Défense. Das ganze Viertel wurde lahmgelegt, doch | |
| niemand wurde in Gewahrsam genommen. Nach Aussage vieler Beteiligter hätten | |
| die Organisatoren eine längere Blockade nicht gebilligt. Das weitere | |
| Vorgehen musste vor Ort ausdiskutiert werden. | |
| Ähnlich lief es auch bei der Aktion vom 21. September 2019. Désobéissance | |
| Écolo Paris, Youth for Climate und Extinction Rebellion verständigten sich | |
| darauf, die Gelbwestenproteste im Pariser Westen zu unterstützen und „Orte | |
| der Macht“ zu blockieren. Etwa zeitgleich organisierten ANV-COP21, Amis de | |
| la Terre und Greenpeace einen gewaltlosen Protestmarsch zwischen dem Jardin | |
| du Luxembourg und dem Parc de Bercy. | |
| ## Kapitalismus Schritt für Schritt zum Einsturz zu bringen | |
| „Wir wollten keine Neuauflage des 16. März“, erzählt Léna von Youth for | |
| Climate. „Die Gelbwesten gingen auf die anderen Organisationen zu. Ihnen | |
| war wichtig, an den Orten der Macht zu demonstrieren, waren aber ansonsten | |
| offen. Alternatiba und ANV-COP21 schienen einverstanden, wollten aber die | |
| Zusicherung, dass die Aktion gewaltfrei abläuft. So funktioniert das | |
| natürlich nicht.“ | |
| „Man hat von uns verlangt, auf den Aktionskonsens zu verzichten“, hält | |
| Txetx Etcheverry entgegen, der die Organisation Bizi! (Baskisch für: | |
| „Leben“) und später auch Alternatiba mitgründete. „Das ist eine Frage d… | |
| Strategie. Ich wünsche mir eine Zusammenarbeit aller Kräfte, um den | |
| Kapitalismus Schritt für Schritt zum Einsturz zu bringen. Dafür braucht es | |
| eine Massenbewegung und eine Radikalisierung. Gewalt ist für uns | |
| langfristig keine erfolgversprechende Strategie gegen einen so | |
| übermächtigen Feind. Wir mischen uns nicht in die strategischen | |
| Entscheidungen anderer ein. Im Gegenzug verlangen wir dasselbe.“ | |
| Viele Gelbwesten, die nicht zur ihrer Demo auf den Champs-Élysées | |
| durchkamen, schlossen sich kurzerhand der Klimademo an. Die Ordnungskräfte | |
| folgten ihnen, gingen brutal und bedenkenlos gegen Familien mit Kindern und | |
| friedliche Demonstranten vor und setzten auch Tränengas ein. | |
| ## Das Anti-Randalierer-Gesetz | |
| Die Besetzung des Einkaufszentrums Italie 2 in Paris am Samstag, den 5. | |
| Oktober 2019, wird dagegen als Erfolg gefeiert. Dort fand sich eine bunte | |
| Mischung von Klimaaktivisten, Gelbwesten und Jugendlichen aus den Banlieues | |
| zusammen. 18 Stunden hielten sie die Blockade des Shoppingcenters aufrecht, | |
| bis sie gegen vier Uhr morgens auf einer Vollversammlung für den Abzug | |
| stimmten. | |
| Die Aktion war von langer Hand geplant, wobei jede Gruppe ihre eigene | |
| Aufgabe hatte. Als am frühen Abend Sondereinheiten der Polizei versuchten, | |
| die Blockade aufzulösen, wurde gemeinschaftlich beschlossen, die besonders | |
| aktionserfahrenen Gruppen Barrikaden errichten zu lassen. Sie sorgten | |
| dafür, dass die Ordnungskräfte nicht durchkamen und die Aktivisten nicht | |
| geräumt werden konnten. | |
| Wenn die Gruppen allzu viel Zeit auf interne Streitereien verwenden, leidet | |
| der Gesamteindruck. Sind sie in der Gewaltfrage gespalten, spielt die | |
| Medienmaschinerie kurzerhand die „guten“ gegen die „schlechten“ Aktivis… | |
| aus, und die Sicherheitskräfte gehen mit immer härteren Bandagen gegen die | |
| „schlechten“ vor. In einem Bericht über die Radikalisierung | |
| rechtsextremer Splittergruppen, der im Juni 2019 erschien, forderte eine | |
| Enquetekommission der Nationalversammlung ein erweitertes Instrumentarium | |
| im Kampf gegen die Radikalisierung von Veganern und Anarchisten.4 | |
| Adrien Morenas, LRM-Abgeordneter und Berichterstatter der | |
| Enquetekommission, erklärte: „Die Kommission zielte auf die extreme Rechte, | |
| aber wir wollen den Fokus auf alle extremistischen Gruppierungen erweitern. | |
| Deshalb gelten unsere Empfehlungen für sämtliche Extremisten, am rechten | |
| wie am linken Rand – also für alle Organisationen, die an den Grundfesten | |
| der Republik rütteln.“ | |
| Es stünde außer Frage, dass es in Frankreich eine gewaltbereite | |
| linksextreme Bewegung gibt. „Bei den Ökoaktivisten zählen dazu die | |
| Tierrechtsaktivisten und Fleischgegner.“ Morenas nimmt zwar, wie er | |
| sogleich klarstellt, nicht alle Veganer ins Visier, stuft aber bereits | |
| sogenannte Name-and-Shame-Aktionen, bei denen öffentlich auf die | |
| Verfehlungen von Unternehmen und Privatleute hingewiesen wird, als Gewalt | |
| ein. | |
| „Die Spielräume für politisches Handeln und Aktivismus werden immer | |
| kleiner“, stellt Vanessa Codaccioni fest. „Man hält es nicht mehr aus, wenn | |
| Menschen ihre Forderungen nicht nur friedlich und nach Vorschrift äußern | |
| wie bei einer Wahl. Bestimmte Formen der Auseinandersetzung werden sofort | |
| als radikal und gewaltsam eingestuft. Alle illegalen Aktionsformen werden | |
| heutzutage mit Terrorismus gleichgesetzt. Die Macht nutzt ihr rechtliches | |
| Instrumentarium, um Bewegungen zu unterdrücken, denen sie keine Antwort | |
| geben will. So entstand das Anti-Randalierer-Gesetz (Loi sur les casseurs). | |
| Das Repressionsarsenal kam in der Vergangenheit zunächst gegen die | |
| Rechtsextremen zum Einsatz, wurde dann aber im Nu auch gegen die extreme | |
| Linke genutzt. Der Staat gibt keine politischen Antworten mehr, sondern | |
| reagiert mit Repressionen.“ | |
| ## Effektive Schwächung von Aktivisten | |
| Erst spalten, dann zerschlagen: Mit dieser Methode wurden schon etliche | |
| Umweltbewegungen kaputtgemacht. So geschah es im Juli 1977, als die | |
| Anti-AKW-Proteste gegen den Bau des „schnellen Brüters“ Superphénix in | |
| Creys-Malville (Département Isère) ihren Höhepunkt erreichten. Während die | |
| Presse sich vor allem über die scharenweise angereisten Radikalen aus | |
| Deutschland ausließ, wurde gegen mehrere zehntausend Umweltschützer aus | |
| ganz Europa ein Demonstrationsverbot verhängt. | |
| Die Polizei ging mit äußerster Brutalität vor und setzte sogar | |
| Blendgranaten ein. Die Bilanz: zahlreiche Verletzte, ein Toter und eine | |
| deutliche Schwächung der französischen Anti-AKW-Bewegung. Superphénix wurde | |
| gebaut und produzierte eine ganze Reihe technischer Fehlschläge. Nach einem | |
| juristischen Dauerkrieg erreichten die Grünen 1997, dass die Stilllegung | |
| des Reaktors im Regierungsvertrag mit Lionel Jospin festgeschrieben wurde. | |
| Der Politologe Fabien Carrié erinnert daran, dass es in Großbritannien die | |
| 2001 verabschiedeten Antiterrorgesetze waren, die die Animal Liberation | |
| Front und andere Tierrechtsgruppen ihrer führenden Köpfe beraubten: „Ihre | |
| Wortführer wanderten ins Gefängnis. Die Aktivisten durften sich den Laboren | |
| nur noch bis zu einem bestimmten Abstand nähern.“ | |
| Das Scheitern der G7-Proteste stimmt die Aktivisten nachdenklich. „Es ist | |
| wichtig, dass wir zu Bündnissen bereit sind“, sagt die ZAD-Aktivistin | |
| Isabelle F. „Wir brauchen eine breite Mobilisierung, wobei nicht alle | |
| unbedingt an vorderster Front dabei sein müssen.“ Sie warnt davor, schnelle | |
| Erfolge zu erwarten. „Die Straßenbaugegner in England verloren jede | |
| Schlacht, aber ihre Bewegung wurde so stark, dass es dem Staat einfach zu | |
| teuer wurde, jedes Mal kostspielige Räumungsaktionen anzuleiern. Die | |
| Regierung legte ein Paket mit 300 Straßenbauprojekten schließlich entnervt | |
| ad acta.“ | |
| „Die Lehre von Ursache und Wirkung geht davon aus, dass die Geschichte | |
| vorwärts marschiert, doch die Geschichte ist keine Armee. Sie ist ein | |
| seitwärts krabbelnder Krebs, ein Tropfen weiches Wasser, das einen Stein | |
| aushöhlt, ein Erdbeben, das jahrhundertelang aufgestaute Spannungen löst“, | |
| schrieb die Schriftstellerin Rebecca Solnit. Die Annäherung zwischen | |
| Extinction Rebellion, verschiedenen Gruppen der Gelbwesten und Youth for | |
| Climate scheint Teil des breiten Bündnisses zu sein, das viele Aktivisten | |
| fordern. Könnte es also sein, dass der Krebs bald kräftiger zukneift? | |
| (Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld) | |
| 17 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Claire Lecœuvre | |
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| Mehr als 1.500 Orte in über 100 Ländern: Proteste weltweit am Friday for Futu… | |
| Hunderttausende junge Menschen wollen am Freitag für eine bessere | |
| Klimapolitik streiken. taz-Korrespondenten aus aller Welt berichten über | |
| ihre Motive. |