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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Radikales Klima
> Zwei Protestbewegungen lenken derzeit Aktivismus in Frankreich: Ökos und
> Gelbwesten. Was passiert, wenn sie versuchen, sich zu vereinen?
Bild: Beim Klimaprotest in Paris kam es im September 2019 zu Ausschreitungen
[1][Klimastreiks], Sitzblockaden bei Amazon, Monsanto oder BNP Paribas,
lokale Aktionen aller Art: Keine Woche vergeht ohne einen neuen
Paukenschlag zur Rettung des Planeten. Viele, die vorher eher unpolitisch
waren, engagieren sich und mischen Organisationen wie Greenpeace, Amis
de la Terre (den französischen Zweig von Friends of the Earth), Attac oder
France Nature Environnement auf. Sie geben sich radikal, wollen die
Probleme an der Wurzel packen und stellen die Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung infrage, die diese Probleme produziert.
„Wir kämpfen für grundsätzliche Veränderungen und üben radikal Kritik am
kapitalistischen System“, erklärt der Aktivist Gabriel Mazzolini, der bei
Amis de la Terre für die Aktionsplanung zuständig ist und im Dezember 2018
bei einer gewaltfreien Blockade vor dem Sitz der Société Générale in
Polizeigewahrsam genommen wurde. Die Aktivisten werfen der französischen
Großbank die Finanzierung „schmutziger Energien“ vor.
Die verschiedenen Gruppierungen unterscheiden sich in ihrer Radikalität.
Dabei ist festzustellen: Wer in seinen Aktionsformen radikal ist, ist es
nicht unbedingt auch im Hinblick auf seine politischen Konzepte und Ziele.
Bewegungen wie Greenpeace oder Sea Shepherd sind für ihre riskanten
Aktionen gegen Öltanker und Walfangschiffe bekannt, vertreten aber
gleichzeitig reformistische Gesellschaftsmodelle oder scheren sich gar
nicht erst um soziale Fragen.
Auch wenn nur wenige Ökoaktivisten aus der Arbeiterklasse stammen, werden
soziale Fragen mittlerweile aber nicht mehr komplett ausgeblendet. „Die
Menschen haben erkannt, dass der Raubbau am Planeten durch große
multinationale Konzerne und die soziale Ungleichheit zusammenhängen“,
meint der Soziologe Albert Ogien, der am Pariser Centre national de la
recherche scientifique (CNRS) zu sozialen Bewegungen forscht. „Ökologie
und soziale Probleme lassen sich heute nicht mehr trennen.“ Allein mit
neuen Lösungen und alternativen Konzepten ist es dabei nicht getan.
## Kein ziviler Ungehorsam
Anne-Sophie Trujillo, die für Alternatiba und ANV-COP21 (Action
non-violente COP21) aktiv ist, meint dazu: „Wir haben es mit Veränderungen
im Alltag versucht, haben versucht, gemeinsam mit den Kommunen Pläne zu
entwickeln, und sind auf die Straße gegangen. Trotzdem blieb alles beim
Alten. Mir wurde klar, dass wir einen Schritt weitergehen müssen.“
Trujillos Aktion: Sie nahm in einem Rathaus im Département Ain das Porträt
von Präsident Emmanuel Macron von der Wand, dafür bekam sie eine Geldstrafe
von 500 Euro zur Bewährung aufgebrummt.
Anfang Oktober wurden 51 Aktivistinnen und Aktivisten wegen
„gemeinschaftlichen Diebstahls“ angeklagt, nachdem sie sich am Abhängen von
Macron-Porträts beteiligt hatten. Das Strafgericht Lyon sprach zwei von
ihnen frei, weil es aufgrund der Untätigkeit des Staates angesichts der
Erderwärmung eine „Notsituation“ als gegeben ansah. Der Staatsanwalt
legte Berufung ein. Andere Aktivisten wurden wegen desselben Tatbestands
verurteilt. Alle Welt preist den zivilen Ungehorsam. In Wahrheit handelt es
sich aber eher um eine gewaltfreie Form der direkten Aktion.
„Ziviler Ungehorsam heißt, dass jemand bewusst beschließt, ein Gesetz zu
missachten“, erläutert Ogien. „Dieser Jemand sagt: ‚Nehmt mich fest, spe…
mich ein, macht mir den Prozess – dann erkläre ich euch, warum ich mit
diesem Gesetz nicht einverstanden bin.‘ Wenn er damit Erfolg hat, wird das
Gesetz vielleicht geändert. Die Aktionen von Extinction Rebellion [2][wie
die Brückenbesetzungen in London], das Abhängen von Präsidentenporträts
oder Anti-AKW-Kampagnen richten sich aber nicht gegen ein konkretes
Gesetz.“
Der Zulauf neuer Aktivisten stärkt auch riskante Manöver. „Ende Gelände“
besetzt jedes Jahr einen Tag lang den riesigen Tagebau Garzweiler im
Rheinischen Braunkohlerevier. Während die erste Aktion von 2015 immerhin
schon 1500 Menschen mobilisieren konnte, legten [3][2019 zwischen 5000 und
6000 Aktivisten den Betrieb für 45 Stunden lahm].
## Vereinigung der Protestbewegungen?
In Frankreich ist derzeit die entscheidende Frage, ob sich die Proteste der
Klimaschützer und die der [4][Gelbwesten] vereinen lassen. In etlichen
kleineren Städten haben sie schon zusammen demonstriert, anderswo ist die
soziale Kluft unübersehbar, besonders in Paris. Jérôme Cassiot, der in
Villefranche-sur-Saône in gelber Weste auf die Straße ging, erzählt von
seinen Erlebnissen am 16. März 2019: „Wir zogen uns von den Champs-Élysées
zurück, wo praktisch Krieg herrschte, und gingen zur Place de la
République, wo gerade die Klimaschützer mit ihrem ‚Marsch des Jahrhunderts�…
ankamen. Der Gegensatz sprang allein schon optisch ins Auge. Ich dachte: Da
marschieren die Gutgläubigen und Bobos, die nicht sehen wollen, was um sie
herum passiert.“
Mathieu Bourbonneux, der bei den Gelbwesten in Nantes mitmischt, berichtet:
„Manche der radikaleren Ökoaktivisten gingen lieber zusammen mit den
Gelbwesten auf die Straße, die nichts von Verhandlungen halten und einen
Systemwechsel anstreben.“ Khaled Gaiji, der Vorsitzende von Amis de la
Terre, räumt selbstkritisch ein: „Diesen Annäherungsversuch haben wir
vermasselt. Wir haben zu zögerlich reagiert, dabei spielte auch die Angst
vor Rechtsextremen eine Rolle. Erschwerend kam hinzu, dass dort, wo die
Gelbwesten auf die Straße gingen, unsere Leute fehlten. Wir haben versucht,
das zu ändern. Seit April kommt man sich näher, aber die kulturellen Codes
sind doch sehr unterschiedlich. Dieser Annäherungsprozess ist kein
Selbstläufer. Wir müssen uns erst mal kennenlernen.“
„Die Naturschutzbewegungen waren schon immer sehr divers. Aber für die
meisten von ihnen ist sozialer Fortschritt nicht Teil der Agenda“, erklärt
die Wissenschafts- und Umwelthistorikerin Valérie Chansigaud. „Darunter
sind reaktionäre und esoterische Gruppierungen, die sich zwar den Erhalt
der Natur auf die Fahnen schreiben, aber nicht für Emanzipation stehen.
Ähnliches gilt für die Colibri-Bewegung und die Anthroposophen. Dass manche
stolz darauf sind, weder rechts noch links zu sein, zeigt nur, dass sie
über die sozialen Kämpfe nicht im Bilde sind. Das gilt zum Beispiel für die
Umweltschützer, die sich Macrons La République en marche (LRM)
angeschlossen haben.“
Auch etliche Aktivisten von Amis de la Terre, die 1974 René Dumont als
Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen ins Rennen schickten, haben sich
auf einen reformistischen Kurs zurückgezogen. Ironie des Schicksals: Die
teils anarchistischen Wachstumskritiker von früher glauben heute an einen
guten Kapitalismus. „Wir müssen uns von der Idee der Weltrevolution
verabschieden und stattdessen schauen, was sich auf gesetzgeberischer Ebene
bewegen lässt“, meint Yves Lenoir, Aktivist der ersten Stunde bei Amis de
la Terre und Greenpeace. „Was wir brauchen, ist ein Kapitalismus mit
ökologischen Prioritäten. Das Denken in Ungleichheitskategorien führt zu
nichts. Aus historischen Gründen gibt es nun einmal Leute, die Geld haben.
Entscheidend ist, was sie mit diesem Geld machen.“
## „Wir sind komplett unabhängig“
Eine andere ökologische Vision entstand in den 1970er Jahren. In den USA
und den angelsächsischen Ländern wurde die Sorge um die Umwelt mit einer
immer entschiedeneren Absage an das kapitalistische Systems verknüpft. Für
die Anhänger der Animal Liberation Front (ALF) und Earth Liberation Front
(ELF) gibt es keine Hierarchie zwischen den Lebewesen dieser Erde.
„ALF und ELF“, so Valérie Chansigaud, „bleiben jedoch Außenseiter. Das
liegt weniger an ihrer zahlenmäßigen Stärke als an ihren Positionen. Sie
kämpfen gegen die Gesellschaft, ohne Teil von ihr sein zu wollen. Aus
diesem Geist entstand auch die ZAD („zone à défendre“) gegen den Bau des
Großflughafens im bretonischen Notre-Dame-des-Landes. Die Aktivisten im
Protestcamp waren bereit, ihr Leben radikal zu ändern, um mit ihren eigenen
Zielen im Einklang zu leben: ein klassisches Beispiel für eine direkte
Aktion.“
Die Kritik an den Anhängern der reformistischen Ökobewegung, die ihr
Fähnchen nach dem Wind hängen würden, um – wie etwa die Grünen – an
einflussreiche Posten zu gelangen, artikuliert sich im Onlinemagazin
Terrestres und in den Zeitschriften La Décroissance und Silence. Die neuen
Aktivisten von Youth for Climate oder Extinction Rebellion (XR) lehnen den
Politikbetrieb strikt ab und meiden konsequent jede parteipolitische
Vereinnahmung.
„Wir sind komplett unabhängig“, erklärt der 16-jährige Marin Bisson, der
sich in Lyon bei Youth for Climate engagiert. „Wir wollen zeigen, dass die
Jugend für ihre Zukunft aufsteht und dass wir mit der herrschenden Politik
nicht einverstanden sind.“ Antoine von Youth for Climate in Paris ist
anderer Meinung: „Den politischen Weg sollte man trotz allem nicht komplett
abschreiben. Die Vernetzung mit engagierten Leuten in den ökologisch
orientierten Parteien kann uns durchaus stärken.“ Andere sind
entschiedener: Das Netzwerk Collectif pour une transition citoyenne – allen
voran die Bewegung „Utopia“ – und die Organisation Démocratie ouverte re…
an, für die Kommunalwahlen 2020 Bürgerlisten aufzustellen, um in die
Rathäuser einzuziehen.
## Umweltbewegung lernt von den Gelbwesten
Eine Generation, die in der Überfluss- und Konsumgesellschaft sozialisiert
und entpolitisiert wurde, entdeckt auf einmal anarchistische Denker wie
Élisée Reclus wieder. Sie begeistert sich für die Ideen der Sozialökologie,
den libertären Kommunalismus von Murray Bookchin oder die politische
Ökologie von André Gorz. Und die 2013 gegründete Organisation Alternatiba
(das baskische Wort für „Alternative“), die gegen den Klimawandel
mobilmacht, steht vor einem Dilemma: Auf der einen Seite muss sie ihre
Basis vergrößern und sich deshalb auch für weniger militante Teile der
Gesellschaft öffnen, auf der anderen Seite will sie ein radikal anderes
Gesellschaftsmodell verwirklichen.
Die Soziologen Nicolas Brusadelli und Yannick Martell, die Alternatiba seit
2014 beobachten, beschreiben die Bewegung so: „Bei den Zusammenkünften von
Alternatiba wird konsensorientiert diskutiert. Auf diese Weise hat
Alternatiba es geschafft, Menschen zusammenzubringen, die komplett
unterschiedlicher Meinung sind, aber denselben Lebensstil pflegen. Nahezu
alle Mitglieder von Alternatiba kommen aus der Mittelschicht.
Globalisierungsgegner sehen darin eine Entpolitisierung, aber politikferne
Menschen, wie etwa leitende Angestellte in der Industrie, empfinden es
schon als starke Politisierung, wenn sie bei Alternatiba mitmachen. Für sie
bedeutet dieser Schritt einen radikalen Bruch mit ihrem bisherigen Leben
und manchmal sogar mit ihren Familien. In einem zweiten Schritt engagieren
sie sich dann vielleicht in der gewaltfreien Bürgerbewegung ANV-COP21, die
die Möglichkeit von konkreteren Aktionen abseits des Profi-Aktivismus
bietet, den die großen Organisationen praktizieren.“
Der Aufstand der Gelbwesten im Herbst 2018 brachte die eher
reformorientierten Ökoaktivisten unter Zugzwang. „Die Gelbwesten haben die
Klassenfrage wieder auf die Tagesordnung gesetzt“, konstatiert der
Soziologe Jean-Baptiste Comby. Sogar der Regisseur Cyril Dion, der
gemeinsam mit Pierre Rabhi die Umweltbewegung Colibris gründete, ergreift
inzwischen öffentlich Partei für die Gelbwesten und erklärt, er traue den
bestehenden Institutionen nicht zu, die ökologische Krise zu lösen.
Die drängende soziale Frage trifft mit dem Klimanotstand zusammen, der sich
mit jedem Tag verschärft. Die Slogans von Extinction Rebellion und ihr Logo
– eine in einen stilisierten Globus eingeschriebene Sanduhr – bringen die
Situation auf den Punkt: Die Zeit drängt. Innerhalb der Bewegung wird über
ein Ende des Kapitalismus und der Industriegesellschaft debattiert.
## „Wir müssen die ausgelatschten Pfade verlassen“
Viele Aktivisten wollen bei den direkten Aktionen noch weitergehen und
kritisieren jede Form „falscher Lösungen“. Davon zeugt die harsche Kritik
der Gruppe an Maxime de Rostolan, dem Gründer von „Fermes d’avenir“
(Bauernhöfe der Zukunft), die sich für eine biologische, aber
produktivistische und von Agrarmultis unterstützte Biolandwirtschaft
starkmacht. Das Festival „L'An Zéro“ (das Jahr null), das die Gruppe im
August 2019 veranstalten wollte, musste abgesagt werden, nachdem rund 30
Gruppen das Event als „Öko-Macronismus“ gebrandmarkt hatten.
Zahlreiche Aktivistengruppen sind überzeugt, dass sie angesichts der
Dringlichkeit der Lage ihr gewohntes Arsenal von Aktionsformen erweitern
müssen: rechtliche Schritte, Demonstrationen, Streiks, Sitzblockaden auf
öffentlichen Plätzen oder vor umweltschädlichen Betrieben, Sabotageakte.
Immer mehr von ihnen freunden sich – was die Aktionsformen betrifft – mit
dem Gedanken an, mehrgleisig zu fahren. „Ich glaube, dass wir alle Optionen
brauchen“, meint der 15-jährige Vipulan, der sich bei Youth for Climate
engagiert.
Die 21-jährige Léna, die an der Sorbonne Mathematik und Physik studiert und
ebenfalls bei Youth for Climate mitmacht, berichtet: „Vor zwei Jahren habe
ich bei ANV-COP21 ein Aktionstraining in zivilem Ungehorsam mitgemacht.
Aber unsere Gruppe wurde gegründet, weil viele mit dieser Art von zivilem
Ungehorsam nichts anfangen können. Solange wir reformistisch agiert haben,
kamen wir uns überflüssig vor. Im Rückblick ist die Geschichte der
Ökobewegung ziemlich deprimierend. Wir müssen kreativer werden und die
ausgelatschten Pfade verlassen, wenn wir die Mächtigen wirklich schwächen
und die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten verändern wollen. Das
bedeutet zum Beispiel, für gewisse Zeit strategisch wichtige Orte zu
besetzen.“
Dieses mehrgleisige Vorgehen ist auch das Erfolgsmodell der ZAD in
Notre-Dame-des-Landes. „2012 bei der Operation ‚César‘ war es genau diese
Taktik, die zum Sieg führte. Wichtig ist, dass wir den Überraschungseffekt
auf unserer Seite haben“, stellt Isabelle F. fest, die in der ZAD wohnt und
das Kollektiv „The Laboratory of Insurrectionary Imagination“ mitbegründet
hat.
## Wenn die Gewaltfrage aufgeworfen wird
Immer wieder wird bei taktischen Überlegungen der Aktivisten auch die
Gewaltfrage aufgeworfen. „Für uns hat die Mehrgleisigkeit den sogenannten
Grenadine-Effekt“, erklärt Gabriel Mazzolini von Amis de la Terre. „Stell
dir vor, du schüttest einen Schuss Grenadinesirup – sprich: einen Schuss
Gewalt – in ein Glas Wasser. Hinterher sieht man kein Wasser mehr, sondern
nur noch den Sirup. Der Nutzen und die Beweggründe der Aktion bleiben auf
der Strecke. Wir sind uns der bestehenden Kräfteverhältnisse bewusst und
geben uns nicht der Illusion hin, das politische System könnte sich aus
seiner Erstarrung lösen. Deshalb müssen wir die Bewegung noch stärker
bündeln.“
Für Jean-Baptiste Comby steckt hinter dem Bild von der Grenadine im
Wasserglas eine Form von Klassismus: „Dass die bürgerliche Presse
Sachbeschädigung oder Sabotage vehement kritisiert, heißt nicht
zwangsläufig, dass alle Medienkonsumenten diese Sicht der Dinge teilen.“
Wer sich auf das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit zurückzieht, negiert unter
Umständen, dass es eine von den Herrschenden verschleierte Gewalt,
institutionelle Gewalt oder Polizeigewalt gibt, unter der vor allem die
benachteiligten Klassen zu leiden haben. Die schweren Körperverletzungen
bei Einsätzen gegen die Gelbwesten riefen im Vergleich zu anderen Zeiten –
etwa im Vergleich zum Tod von Malik Oussekine während der
Studentenprotesten im Dezember 1986 – nur verhältnismäßig wenig Empörung
hervor.
Heute propagiert keine Ökoaktivistengruppe den Einsatz physischer Gewalt.
Für Léna ist klar: „Wir haben einfach keine Lust auf Gewalt gegen
Lebewesen, aber was Sachschäden angeht, gibt es eigentlich kein Limit.“ Bei
radikaleren Gruppierungen wie dem Comité invisible (Das unsichtbare
Komitee) geht es sogar in erster Linie um Sachbeschädigung und Sabotage.
„Wer Allianzen schmieden will, muss lernen, mit Leuten zusammenzuarbeiten,
die andere Vorstellungen haben“, findet Chansigaud.
Wer stur auf der eigenen Position beharrt, sich dogmatisch an seine
Strategie klammert, riskiert klägliche Misserfolge wie die G7-Gipfel-Gegner
im Baskenland im August 2019. Damals wollten sich über 50 Organisationen
zur Plattform „G7 EZ“ (Baskisch für: „Nein zum G7“) zusammenschließen,
zerstritten sich aber dermaßen, dass keine einzige der geplanten Aktionen
stattfinden konnte.
Andere konzertierte Aktionen waren erfolgreicher. Im April 2019 folgten
etwa 2000 Menschen dem Aufruf von Greenpeace, ANV-COP21 und Amis de la
Terre und blockierten Unternehmen und das französische Umweltministerium im
Geschäftsviertel La Défense. Das ganze Viertel wurde lahmgelegt, doch
niemand wurde in Gewahrsam genommen. Nach Aussage vieler Beteiligter hätten
die Organisatoren eine längere Blockade nicht gebilligt. Das weitere
Vorgehen musste vor Ort ausdiskutiert werden.
Ähnlich lief es auch bei der Aktion vom 21. September 2019. Désobéissance
Écolo Paris, Youth for Climate und Extinction Rebellion verständigten sich
darauf, die Gelbwestenproteste im Pariser Westen zu unterstützen und „Orte
der Macht“ zu blockieren. Etwa zeitgleich organisierten ANV-COP21, Amis de
la Terre und Greenpeace einen gewaltlosen Protestmarsch zwischen dem Jardin
du Luxembourg und dem Parc de Bercy.
## Kapitalismus Schritt für Schritt zum Einsturz zu bringen
„Wir wollten keine Neuauflage des 16. März“, erzählt Léna von Youth for
Climate. „Die Gelbwesten gingen auf die anderen Organisationen zu. Ihnen
war wichtig, an den Orten der Macht zu demonstrieren, waren aber ansonsten
offen. Alternatiba und ANV-COP21 schienen einverstanden, wollten aber die
Zusicherung, dass die Aktion gewaltfrei abläuft. So funktioniert das
natürlich nicht.“
„Man hat von uns verlangt, auf den Aktionskonsens zu verzichten“, hält
Txetx Etcheverry entgegen, der die Organisation Bizi! (Baskisch für:
„Leben“) und später auch Alternatiba mitgründete. „Das ist eine Frage d…
Strategie. Ich wünsche mir eine Zusammenarbeit aller Kräfte, um den
Kapitalismus Schritt für Schritt zum Einsturz zu bringen. Dafür braucht es
eine Massenbewegung und eine Radikalisierung. Gewalt ist für uns
langfristig keine erfolgversprechende Strategie gegen einen so
übermächtigen Feind. Wir mischen uns nicht in die strategischen
Entscheidungen anderer ein. Im Gegenzug verlangen wir dasselbe.“
Viele Gelbwesten, die nicht zur ihrer Demo auf den Champs-Élysées
durchkamen, schlossen sich kurzerhand der Klimademo an. Die Ordnungskräfte
folgten ihnen, gingen brutal und bedenkenlos gegen Familien mit Kindern und
friedliche Demonstranten vor und setzten auch Tränengas ein.
## Das Anti-Randalierer-Gesetz
Die Besetzung des Einkaufszentrums Italie 2 in Paris am Samstag, den 5.
Oktober 2019, wird dagegen als Erfolg gefeiert. Dort fand sich eine bunte
Mischung von Klimaaktivisten, Gelbwesten und Jugendlichen aus den Banlieues
zusammen. 18 Stunden hielten sie die Blockade des Shoppingcenters aufrecht,
bis sie gegen vier Uhr morgens auf einer Vollversammlung für den Abzug
stimmten.
Die Aktion war von langer Hand geplant, wobei jede Gruppe ihre eigene
Aufgabe hatte. Als am frühen Abend Sondereinheiten der Polizei versuchten,
die Blockade aufzulösen, wurde gemeinschaftlich beschlossen, die besonders
aktionserfahrenen Gruppen Barrikaden errichten zu lassen. Sie sorgten
dafür, dass die Ordnungskräfte nicht durchkamen und die Aktivisten nicht
geräumt werden konnten.
Wenn die Gruppen allzu viel Zeit auf interne Streitereien verwenden, leidet
der Gesamteindruck. Sind sie in der Gewaltfrage gespalten, spielt die
Medienmaschinerie kurzerhand die „guten“ gegen die „schlechten“ Aktivis…
aus, und die Sicherheitskräfte gehen mit immer härteren Bandagen gegen die
„schlechten“ vor. In einem Bericht über die Radikalisierung
rechtsextremer Splittergruppen, der im Juni 2019 erschien, forderte eine
Enquetekommission der Nationalversammlung ein erweitertes Instrumentarium
im Kampf gegen die Radikalisierung von Veganern und Anarchisten.4
Adrien Morenas, LRM-Abgeordneter und Berichterstatter der
Enquetekommission, erklärte: „Die Kommission zielte auf die extreme Rechte,
aber wir wollen den Fokus auf alle extremistischen Gruppierungen erweitern.
Deshalb gelten unsere Empfehlungen für sämtliche Extremisten, am rechten
wie am linken Rand – also für alle Organisationen, die an den Grundfesten
der Republik rütteln.“
Es stünde außer Frage, dass es in Frankreich eine gewaltbereite
linksextreme Bewegung gibt. „Bei den Ökoaktivisten zählen dazu die
Tierrechtsaktivisten und Fleischgegner.“ Morenas nimmt zwar, wie er
sogleich klarstellt, nicht alle Veganer ins Visier, stuft aber bereits
sogenannte Name-and-Shame-Aktionen, bei denen öffentlich auf die
Verfehlungen von Unternehmen und Privatleute hingewiesen wird, als Gewalt
ein.
„Die Spielräume für politisches Handeln und Aktivismus werden immer
kleiner“, stellt Vanessa Codaccioni fest. „Man hält es nicht mehr aus, wenn
Menschen ihre Forderungen nicht nur friedlich und nach Vorschrift äußern
wie bei einer Wahl. Bestimmte Formen der Auseinandersetzung werden sofort
als radikal und gewaltsam eingestuft. Alle illegalen Aktionsformen werden
heutzutage mit Terrorismus gleichgesetzt. Die Macht nutzt ihr rechtliches
Instrumentarium, um Bewegungen zu unterdrücken, denen sie keine Antwort
geben will. So entstand das Anti-Randalierer-Gesetz (Loi sur les casseurs).
Das Repressionsarsenal kam in der Vergangenheit zunächst gegen die
Rechtsextremen zum Einsatz, wurde dann aber im Nu auch gegen die extreme
Linke genutzt. Der Staat gibt keine politischen Antworten mehr, sondern
reagiert mit Repressionen.“
## Effektive Schwächung von Aktivisten
Erst spalten, dann zerschlagen: Mit dieser Methode wurden schon etliche
Umweltbewegungen kaputtgemacht. So geschah es im Juli 1977, als die
Anti-AKW-Proteste gegen den Bau des „schnellen Brüters“ Superphénix in
Creys-Malville (Département Isère) ihren Höhepunkt erreichten. Während die
Presse sich vor allem über die scharenweise angereisten Radikalen aus
Deutschland ausließ, wurde gegen mehrere zehntausend Umweltschützer aus
ganz Europa ein Demonstrationsverbot verhängt.
Die Polizei ging mit äußerster Brutalität vor und setzte sogar
Blendgranaten ein. Die Bilanz: zahlreiche Verletzte, ein Toter und eine
deutliche Schwächung der französischen Anti-AKW-Bewegung. Superphénix wurde
gebaut und produzierte eine ganze Reihe technischer Fehlschläge. Nach einem
juristischen Dauerkrieg erreichten die Grünen 1997, dass die Stilllegung
des Reaktors im Regierungsvertrag mit Lionel Jospin festgeschrieben wurde.
Der Politologe Fabien Carrié erinnert daran, dass es in Großbritannien die
2001 verabschiedeten Antiterrorgesetze waren, die die Animal Liberation
Front und andere Tierrechtsgruppen ihrer führenden Köpfe beraubten: „Ihre
Wortführer wanderten ins Gefängnis. Die Aktivisten durften sich den Laboren
nur noch bis zu einem bestimmten Abstand nähern.“
Das Scheitern der G7-Proteste stimmt die Aktivisten nachdenklich. „Es ist
wichtig, dass wir zu Bündnissen bereit sind“, sagt die ZAD-Aktivistin
Isabelle F. „Wir brauchen eine breite Mobilisierung, wobei nicht alle
unbedingt an vorderster Front dabei sein müssen.“ Sie warnt davor, schnelle
Erfolge zu erwarten. „Die Straßenbaugegner in England verloren jede
Schlacht, aber ihre Bewegung wurde so stark, dass es dem Staat einfach zu
teuer wurde, jedes Mal kostspielige Räumungsaktionen anzuleiern. Die
Regierung legte ein Paket mit 300 Straßenbauprojekten schließlich entnervt
ad acta.“
„Die Lehre von Ursache und Wirkung geht davon aus, dass die Geschichte
vorwärts marschiert, doch die Geschichte ist keine Armee. Sie ist ein
seitwärts krabbelnder Krebs, ein Tropfen weiches Wasser, das einen Stein
aushöhlt, ein Erdbeben, das jahrhundertelang aufgestaute Spannungen löst“,
schrieb die Schriftstellerin Rebecca Solnit. Die Annäherung zwischen
Extinction Rebellion, verschiedenen Gruppen der Gelbwesten und Youth for
Climate scheint Teil des breiten Bündnisses zu sein, das viele Aktivisten
fordern. Könnte es also sein, dass der Krebs bald kräftiger zukneift?
(Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld)
17 Nov 2019
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