# taz.de -- Ein Jahr Gelbwesten: Party ohne den Präsidenten | |
> Emmanuel Macron bekommt nur noch Applaus von rechts und die Franzosen | |
> entdecken eine neue Solidarität. Wie der Protest das Land verändert hat. | |
Bild: In Marseille am Jahrestag der Gelbwesten-Proteste | |
Zu der Fete am Samstag voriger Woche war der kleine „Manu“ nicht | |
eingeladen. Böse Zungen behaupten, die anderen Kinder mochten ihn noch nie, | |
weil er immer stänkert und haut. Dabei feierten doch gleich viele Tausend | |
Männer und Frauen ihren ersten Geburtstag. Sie, die wild gewordenen Bürger | |
in den gelben Westen. Am 17. November 2018 gingen sie zum ersten Mal auf | |
die Straßen. 300.000 Demonstranten. Sie blockierten Kreisverkehre und | |
Mautstellen. | |
Zugegeben, wahrscheinlich wäre Manu, auch bekannt als Emmanuel Macron, | |
seines Zeichens französischer Präsident, wohl gar nicht zum Feiern zumute | |
gewesen. Denn was als Protest gegen die von der Regierung geplante Erhöhung | |
der Kraftstoffsteuer begann, wuchs zur größten Revolte in Frankreichs | |
jüngerer Geschichte heran und Jupiter – so Macrons Spitzname – stürzte von | |
einem Protestsamstag zum nächsten Stück für Stück vom Himmel der | |
Popularität. | |
Die Gelbwesten, das ist jener unerwartete Aufstand, der eine | |
Bevölkerungsgruppe sichtbar werden ließ, die seit Langem aus dem | |
Blickwinkel der Politik und der Medien verschwunden war. Menschen, die | |
trotz Berufstätigkeit Probleme haben, über die Runden zu kommen. | |
KrankenpflegerInnen, KleinstunternehmerInnen, HandwerkerInnen, kurz: | |
All jene, die weitab von urbanen Zentren unter dem immer stärkeren Rückzug | |
des Staates zu leiden haben, sei es beim öffentlichen Nahverkehr, bei der | |
medizinischen Versorgung oder beim Bildungsangebot. Es ist ein Aufstand, | |
der sich von keiner politischen Partei vereinnahmen lässt, der mit seinen | |
gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei weltweit | |
Aufsehen erregte, und der die Frage aufwarf, inwieweit die Einsatzkräfte | |
noch Schutz oder schon Bedrohung für die Bürger sind. | |
Es ist ein Aufstand, der ebenso zeigte, dass der neoliberale Kurs des | |
Präsidenten, der ihn so gerne als unausweichlich, als alternativlos preist, | |
in einem rebellionserprobten Land wie Frankreich nicht einfach | |
durchzupeitschen ist. Und schließlich ist es ein Aufstand, der andere | |
Regierungen, wie die deutsche, in regelrechte Panik versetzte: „Mon Dieu, | |
das bloß nicht bei uns!“ Frankreich gilt für die einen als reformresistent, | |
als ein Land voll widerspenstiger Gallier. | |
## Panik bei anderen Regierungen | |
Für die anderen aber steht es als Vorbild für Widerstand von unten. Die | |
Gelbwesten stehen einmal mehr dafür, dass auch nach einer Wahl eine | |
Regierung nicht jede Flexibilisierungsmaßnahme, Privatisierung oder jeden | |
Abbau von Arbeitnehmerrechten, durchsetzen kann. Jupiters Landsleute sind | |
nicht bereit, ihm auf dem Fuß zu folgen, schon gar nicht, wenn das Ziel | |
Deutschland, mehr noch „deutsches Modell“ mit Harz IV und Minijobs heißt. | |
Dass Macron mal Mitglied der Parti socialiste war, liest sich eher als | |
Witz, anstatt als nachvollziehbare Prägung seiner politischen Linie, denn | |
schließlich loben ihn Konservative wie Alain Juppé als „der rechte | |
Präsident, mit dem wir gar nicht gerechnet haben!“. Heute sind seine | |
einstigen politischen Konkurrenten von rechts die größten Anhänger seiner | |
Politik. | |
Denn abgesehen von einigen tatsächlich progressiven Anliegen wie das Gesetz | |
zur künstlichen Befruchtung oder die Frauenrechte, macht Macron eine | |
Politik, die nur noch rechts von der Mitte bejubelt wird. Dass die Linke | |
davon politisch nicht mehr profitierten kann, liegt neben ihrer eigenen | |
inneren Spaltung auch daran, dass die Gelbwesten sich bis heute dagegen | |
wehren, von politischer Seite vereinnahmt zu werden. | |
Und das obschon sich viele linke Intellektuelle, darunter Didier Eribon, | |
Edouard Louis oder Juan Branco mit der Bewegung solidarisch zeigen. Doch | |
was die Gelbwesten einst so attraktiv und gleichsam unvorhersehbar machte – | |
das Fehlen einer politischen Linie und eine Führungsfigur, die | |
möglicherweise mit der Regierung hätte verhandeln müssen –, stellte sich im | |
Laufe der Zeit auch als Bremse heraus. Denn demokratische Prozesse, das | |
Schaffen von Strukturen, die Beschaffung von finanziellen Mitteln, all das | |
kostet Zeit. | |
Macron wiederum nutzte die Zeit, um Anfang des Jahres mit einer politischen | |
PR-Tournee von Stadt zu Stadt zu ziehen. Der große Rückhalt in der | |
Bevölkerung nahm trotzdem ab. Gleichzeitig wurden traditionelle und neue | |
Formen des Widerstands, wie die der Gewerkschaften oder der Klimabewegung | |
sichtbarer. In Frankreich hat sich gezeigt, wie sehr Menschen in ihrer Wut | |
gegenüber der Politik zueinanderfinden können. | |
## Macron wird nur noch von rechts bejubelt | |
Viele, die sich allein glaubten, entdeckten, dass sie gebraucht werden, und | |
sei es nur, um Transparente zu bemalen, Croissants zu holen oder Kaffee zu | |
kochen. Diese neue Form der Solidarität ist das Geschenk, das die | |
Gelbwesten der Gesellschaft gemacht haben. Auch wenn unschöne Szenen in | |
Erinnerung bleiben werden, wie rassistische Beschimpfungen über | |
Plünderungen und fliegende Pflastersteine. | |
Was wir bei unseren Nachbarn beobachten können, ist nicht mehr und nicht | |
weniger als die Wiederbelebung der sozialen Frage. Einer Frage, mit der man | |
in Zeiten des Hyperkapitalismus fast schon als anachronistisch oder als | |
Kommunist gilt. Aber wer sagt eigentlich, die Zeiten des Klassenkampfes | |
seien vorbei? Wenn Macron seine Landsleute – oder nennen wir sie | |
spaßeshalber Mitschüler – wie ein arroganter Streber aus der ersten Reihe | |
behandelt, dann werden sie ihn auch nicht zur nächsten Party einladen. | |
Am 5. Dezember soll es einen gemeinsam von Gelbwesten und Gewerkschaften | |
organisierten Generalstreik gegen die Rentenreform geben. Unbefristet. Wird | |
sich ihr Präsident in der doch so besinnlichen Vorweihnachtszeit an das | |
Gebot der Nächstenliebe halten, vielleicht gar nach Versöhnung mit seinen | |
widerspenstigen, reformüberdrüssigen Landsleuten streben? Es wäre ihm zu | |
raten. Dann könnte er wenigstens zum Weihnachtsfest das Gefühl haben, sie | |
hätten ihn, ihren „Manu“, doch noch ein bisschen lieb. | |
23 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Romy Straßenburg | |
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