| # taz.de -- Wohnungen für Geflüchtete: „Keine Provisorien mehr“ | |
| > Statt mehr Heime zu bauen sollte sich die Politik lieber um mehr Wohnraum | |
| > für Geflüchtete kümmern, sagt die Nachbarschaftsinitiative Ratibor 14. | |
| Bild: Kreuzberger Mischung: Demo der Ratibor 14 für die Sicherung ihres Stando… | |
| taz: Frau Selders, Frau Hueck, Ihre Initiative kämpft gegen den Bau einer | |
| Modularen Unterkunft für Flüchtlinge (MUF) auf dem Gelände Ratiborstr. 14 | |
| in Kreuzberg. Und Sie kritisieren, dass der Senat das per Sonderbaurecht | |
| macht. Warum? | |
| Beate Selders: Das Sonderbaurecht zwingt zum Bau von | |
| Gemeinschaftsunterkünften. Wir fordern dagegen den Bau von Sozialwohnungen | |
| für Geflüchtete. Außerdem ist das [1][Sonderbaurecht 2016] in der akuten | |
| Notlage dafür geschaffen worden, möglichst schnell und mit Substandards zu | |
| bauen. Es gibt keine geregelte Bürgerbeteiligung, Umweltstandards werden | |
| unterlaufen, und um die Infrastruktur wie etwa Schulplätze im Kiez muss | |
| sich der Bauherr nicht kümmern. Staatssekretär Daniel Tietze sagte bei | |
| einer Bürgerversammlung, das bräuchte man nicht, die Flüchtlingskinder | |
| gingen ja schon irgendwo in die Schule. Das stimmt, viele Flüchtlingseltern | |
| müssen ihre Kinder durch die ganze Stadt zur Schule bringen, weil Heim und | |
| Schule so weit auseinanderliegen. Aber so kann Integration nicht | |
| funktionieren. | |
| Es würde wohl niemand sagen, das ist ideal, aber es fehlt Wohnraum: Das | |
| Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) schätzt den | |
| Gesamtunterbringungsbedarf bis Ende 2021 auf knapp 38.000 Menschen. Sind da | |
| große Klötze, schnell gebaut, nicht besser als Obdachlosigkeit? | |
| Regine Hueck: Auf den ersten Blick, ja. Auf den zweiten: Schon jetzt leben | |
| in den Flüchtlingsheimen rund 50 Prozent Menschen, deren Asylverfahren | |
| abgeschlossen ist, die aber keine Wohnung finden. Wenn es für sie Wohnungen | |
| gäbe, wären so viele Plätze in den Heimen frei, dass man alle | |
| [2][Containerdörfer und Tempohomes schließen] könnte. | |
| Dann muss die Bausenatorin Katrin Lompscher mehr normale oder | |
| Sozialwohnungen bauen. | |
| Selders: Ja, aber das kommt ja offensichtlich nur sehr schleppend voran. | |
| Wenn man uns belegen könnte, dass die MUFs wirklich nur eine kurze | |
| Zwischenlösung sind, weil absehbar Wohnraum entsteht, könnte man vielleicht | |
| ja dazu sagen. Sozialsenatorin Elke Breitenbach haben wir danach gefragt. | |
| Aber sie kann das natürlich nicht zusagen. Wie auch? Die Sozialpolitik kann | |
| nicht mal eben lösen, was die Wohnungsbaupolitik seit Jahren verbockt. Der | |
| Senat müsste unbedingt die Kontingente für Geflüchtete und andere | |
| Wohnungslose bei seinen Wohnungsbaugesellschaften erhöhen, und er müsste | |
| Wohnraum zurückgewinnen – Stichwort Leerstand. Frau Lompscher und Frau | |
| Breitenbach hatten dafür mal ein gutes Konzept entwickelt, als sie in der | |
| Opposition waren. Warum wird das nicht umgesetzt? | |
| Und jetzt? | |
| Hueck: Es ist zu befürchten, dass mit dem weiteren Bau von Unterkünften ein | |
| doppelter Standard eingeführt wird. Bei uns in der Ratiborstraße sollen | |
| zwar tatsächlich Wohnungen gebaut werden … | |
| … das sind die MUFs 2.0 mit abgeschlossenen Wohneinheiten statt wie bisher | |
| mit Gemeinschaftsküchen … | |
| Hueck: … und das wird als großer Fortschritt gefeiert. Aber das ist | |
| Augenwischerei! Die Zimmer werden doppelt belegt nach LAF-Standard – 6 | |
| Quadratmeter pro Person. Es werden zum Beispiel in einer 3-Zimmer-Wohnung | |
| sechs Personen untergebracht – ohne Privatsphäre, ohne Mieterrechte. Man | |
| baut also Wohnungen und drückt die durch die Belegung auf den Standard | |
| einer Notunterkunft. Wenn ortsübliche Wohnungen wie Notunterkünfte belegt | |
| werden können, schafft das faktisch neue Zumutbarkeiten. Das ist | |
| sozialpolitisch echt problematisch. Später sollen diese Wohnungen ganz | |
| normal vermietet werden. Warum gibt man sie dann nicht gleich den | |
| Flüchtlingen als Mietwohnungen? Das ist obendrein eine unglaubliche | |
| Diskriminierung. | |
| Selders: Dabei war Berlin mal Vorreiter in Sachen Wohnungsunterbringung von | |
| Geflüchteten. Das verändert sich gerade und wird durch diese | |
| [3][MUF-Neubauten] festgeschrieben. Denn die neuen Unterkünfte werden für | |
| die Vertragslaufzeit – in der Regel mindestens fünf Jahre – belegt werden. | |
| Obwohl der Senat ja an diesem Vorrang der Wohnungsunterbringung festhält. | |
| Aber was kann er tun? Wir haben ja nicht einmal genug Wohnungen für die | |
| geschätzt 10.000 Wohnungslosen. | |
| Hueck: Und es sollen, wenn es nach uns geht, mehr Flüchtlinge kommen. Wir | |
| wollen nicht, dass die Grenzen dicht sind. Und genau deshalb fordern wir | |
| Wohnungen statt weiterer Provisorien. Eine eigene Wohnung ist die | |
| Grundvoraussetzung, um anzukommen, einen Job zu suchen, sich einzubringen – | |
| Nachbar zu werden. Sonst bleibt man im Provisorium und stigmatisiert: | |
| Heimbewohner. Und das „never ending“. Es fehlen Wohnungen, keine Heime. | |
| Sie haben ja eine „steile These“, warum der Senat das nicht macht. Sie | |
| sagen: Im Prinzip saniert der Senat seine Wohnungsbaugesellschaften mit dem | |
| MUF-Bauprogramm. Können Sie das erklären? | |
| Selders: Ob das beabsichtigt ist, kann ich nicht sagen. Aber es fällt auf. | |
| Sämtliche Unterbringungskosten für Geflüchtete werden vom Bund erstattet. | |
| Nehmen wir an, es würden in der Ratibor Sozialwohnungen gebaut, dann wäre | |
| der Zeitraum, in dem sich der Bau refinanziert, etwa doppelt so lang. | |
| Weil man weniger Menschen unterbringen könnte? | |
| Selders: Nein, weil die Mieten bei Heimen einfach höher sind. Die | |
| Gemeinschaftsunterkunft fällt unter Gewerbe, also zahlt man Gewerbemieten. | |
| Dann sind wir bei 13,50 Euro kalt pro Quadratmeter – das ist das, was die | |
| BGG künftig in der Ratibor bekommen soll. | |
| Woher haben Sie diese Zahl? Die Senatsverwaltung für Integration und | |
| Soziales will ja nicht sagen, wie viel sie den Wohnungsbaugesellschaften | |
| Miete zahlt, hieß es kürzlich in der Antwort auf eine Abgeordneten-Anfrage. | |
| Die Zahl haben wir von Senatorin Breitenbach. Diese Mieten sind doppelt so | |
| hoch sind wie Mieten im sozialen Wohnungsbau. Dazu kommt bei der Ratibor | |
| noch der Nachlass auf den Kaufpreis. | |
| Welcher Nachlass? | |
| Hueck: Das Grundstück gehört noch dem Bund, also der Bima. Das Land kauft | |
| es. Der Nachlass auf Grundstücke für Flüchtlingsunterkünfte liegt seit Ende | |
| 2015 bei pauschal 500.000 Euro, für Sozialwohnungen sind es 25.000 Euro pro | |
| Wohnung. In der MUF sollen 51 Wohnungen entstehen. Würden sie als | |
| Sozialwohnungen gebaut, läge der Nachlass bei 1,27 Millionen. Das heißt, | |
| der Senat verzichtet auf über 700.000 Euro, weil er hier eine MUF bauen | |
| will. Bauherr wird die BGG, eine Tochter der Berlinovo. Die Berlinovo ist | |
| eine profitorientierte Wohnungsbaugesellschaft, die alte Bad Bank für die | |
| Immobilienfonds, die ja inzwischen unglaubliche Gewinne abwerfen – und es | |
| gibt bei der Berlinovo immer noch private Anteilseigner. Sie ist nicht | |
| zufällig ständig in den Schlagzeilen mit überteuerten Mieten für möblierte | |
| Appartements. | |
| Und weil der Bund die Mieten für Flüchtlinge bezahlt, zahlt er der | |
| Berlinovo im Prinzip … | |
| Hueck: … das Gebäude. Genau. Das muss man nicht verwerflich finden, wenn | |
| die Flüchtlinge gut darin leben könnten. Aber dadurch, dass es den | |
| Charakter einer Gemeinschaftsunterkunft hat, amortisiert es sich zulasten | |
| der Flüchtlinge schneller. Und das finden wir schlicht unmoralisch. | |
| Selders: Noch zur Problematik der Substandards: Wohnungslose, die in | |
| Notunterkünften leben, haben Anspruch auf eine vom Jobcenter finanzierte | |
| Mietwohnung. Aber wenn man Heime baut statt Wohnungen, verstetigt man damit | |
| die Unterbringungssituation. Tatsächlich wird ja schon diskutiert, das | |
| Sonderbaurecht für Flüchtlinge auf Bauten für alle Wohnungslosen | |
| auszudehnen. Daran sieht man, wie groß die Gefahr ist, dass die Praxis der | |
| Substandards ausgedehnt wird. Wenn man noch weitergeht, kann man auch | |
| Menschen, die Mietschulden haben und beim Amt um Hilfe bitten, zumuten, | |
| Zimmer unterzuvermieten oder noch ein Bett in ihr Zimmer zu stellen. | |
| Selders: In Finnland machen sie es umgekehrt: Da haben sie Notunterkünfte | |
| zu richtigen Wohnungen umgebaut und das Prinzip „Housing First“ eingeführt. | |
| Das findet man in Berlin ja auch toll. | |
| Hueck: Hier ist das aber nur ein sehr kleines Programm. Innerhalb von drei | |
| Jahren sollen 80 Wohnungen dafür bereitgestellt werden. Gleichzeitig baut | |
| man mit viel Geld Wohnungen, wie in der Ratibor, und macht sie zu | |
| Notunterkünften. Das ist völlig absurd. | |
| 1 Dec 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Modellprojekt-in-Kreuzberg/!5599169 | |
| [2] /Ankunftszentrum-Gefluechtete/!5543218 | |
| [3] /Turbo-Bauten-fuer-Kitas-und-Fluechtlinge/!5475292 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
| ## TAGS | |
| Sozialwohnungen | |
| Unterbringung von Geflüchteten | |
| Geflüchtete | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Afghanische Flüchtlinge | |
| Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) | |
| Niedersachsen | |
| Kreuzberg | |
| Geflüchtete | |
| Bundesrechnungshof | |
| Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin | |
| Neues Bauen | |
| Unterbringung von Geflüchteten | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Unterbringung von Geflüchteten in Berlin: Viel Zeit und Geld vergeudet | |
| Doch keine Flüchtlingsunterkunft am Landwehrkanal: Die Gespräche über das | |
| Ratibor-Areal mit dem Bund sind geplatzt. Ist Finanzminister Lindner | |
| Schuld? | |
| Kunst und Flucht in Berlin: Liebe Grüße aus Marzahn | |
| Der Künstler Patrick Timm betreibt in einer Unterkunft für Geflüchtete eine | |
| temporäre „Poststelle“. Am Freitag endet seine Residenz dort. | |
| Flüchtlinge auf dem Tempelhofer Feld: Dauerhafte Übergangslösung | |
| In die Container ziehen wieder Flüchtlinge ein. Das ist auch ein Signal, | |
| dass Berlin sich verstärkt um Wohnungen kümmern muss. Ein Wochenkommentar. | |
| Gebühren für die Unterkunft: Wucherpreise für Geflüchtete | |
| Für einen Schlafplatz verlangt die Stadt Hemmingen 930 Euro. Dahinter | |
| steckt ein Problem, auf das der Flüchtlingsrat schon lange aufmerksam | |
| macht. | |
| Zukunft des Areals „Ratibor14“: Bezirk erschreckt BewohnerInnen | |
| Grünflächenamt reißt nicht genehmigte Tafel der Kreuzberger Initiative ab – | |
| Bezirksamt bedauert das. Die Zukunft des Areals ist weiter ungewiss. | |
| Neue Flüchtlingsunterkünfte: Ein bisschen Zuhause | |
| In Marzahn eröffnet der erste Standort der neuen Unterkünfte für | |
| Geflüchtete: Wohnungen statt Heimatmosphäre und Infrastruktur wie eine Kita | |
| vor Ort. | |
| Miete für Geflüchtete: 50 Euro pro Quadratmeter Container | |
| Der Rechnungshof rügt zu hohe Wohnkosten für Geflüchtete. Deren Miete zahlt | |
| der Bund – wie auch die Miete von Hartz-IV-BezieherInnen. | |
| Wohnraum für Geflüchtete: Für immer im Heim? | |
| Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg fordert vom Senat, statt | |
| Flüchtlingsheimen Sozialwohnungen zu bauen. Doch der sieht sich weiter im | |
| Krisenmodus. | |
| Solidarisches Wohnprojekt in Berlin: Geflüchtete zu Genoss*innen | |
| Ein Genossenschaftsbauprojekt in Weißensee nimmt Flüchtlinge auf – mithilfe | |
| von Sponsor*innen, die deren Anteile finanzieren. | |
| Wohnraum für Geflüchtete: Bezirke wollen es eine Nummer kleiner | |
| Die Senatsliste für neue Modulare Unterkünfte für Flüchtlinge (MUF) stößt | |
| auf Bedenken. Die Infrastruktur sei nicht mitgedacht worden. | |
| Berlin baut mehr Flüchtlingsunterkünfte: Flüchtlingsheime offen für Student… | |
| 25 neue Unterkünfte mit 10.000 Plätzen sollen entstehen. Darin können | |
| künftig auch Studenten wohnen. Pro Bezirk soll es zwei neue Standorte | |
| geben. |