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# taz.de -- Machtkampf in Bolivien: Wer tötete in El Alto?
> Mindestens sieben Menschen wurden in El Alto erschossen. Nicht von
> Soldaten, sagt Boliviens Verteidigungsminister. Augenzeugen sahen etwas
> anderes.
Bild: Trauerfeier für die Toten vom 19. November in El Alto
El Alto taz | Es sind Tausende, die sich am Mittwoch in El Alto versammelt
haben, um ihre Toten zu betrauern. Mindestens sieben Menschen sind hier
[1][am Dienstag] ums Leben gekommen, und für die Trauergesellschaft ist
klar, wer am Tod ihrer Brüder schuld ist: Eine Puppe mit Präsidentenschärpe
baumelt samt Stöckelschuhen an einem Strick von der Brücke. Boliviens
De-facto-Präsidentin [2][Jeanine Áñez] ist gemeint. „Mörderin“ steht
darauf.
In der sengenden Sonne auf und unterhalb der Brücke drängen sich so viele
Trauergäste, dass der Mann am Mikrofon mehrfach wegen Einsturzgefahr um
Abstand bittet. Drei der Toten liegen in den Särgen inmitten der
Menschenmenge unter der indigenen Wiphala-Fahne und Blumen. „Justicia!“,
rufen die Menschen immer wieder im Chor, Gerechtigkeit. „Sie soll
zurücktreten, verdammt!“ Gemeint ist Añez.
Vor allem das [3][Dekret], mit dem sie Polizei und Militär Straffreiheit
bei der Repression zusichert, bringt die Menschen in Rage. „Ich will, dass
sie dieses Dekret zurücknimmt, mit dem sie uns Bolivianer alle töten will.
Erst uns Arme, danach ihre eigene Klasse. Wartet es nicht ab. Wir werden
viel Geld für die Militärs ausgeben, damit sie uns Bolivianer erschießen“,
schreit eine Demonstrantin.
Aus dem ganzen Land sind sie angereist, um den Toten die letzte Ehre zu
erweisen. Es sind fast ausschließlich Menschen mit dunkler Haut, die Frauen
tragen Polleras, die traditionellen bunten Röcke der indigenen Frauen. Sie
haben Standarten mitgebracht, an die zum Zeichen der Trauer schwarze
Plastiktüten geknotet sind.
## „Die Soldaten schossen“
Sie sind überzeugt, dass Verteidigungsminister Fernando López lügt. Dieser
behauptet immer noch, dass bei der gemeinsamen Operation von Militär und
Polizei am Dienstag „kein einziges Projektil“ die Waffen verlassen habe. In
El Alto reicht eine der Mütter Patronenhülsen über den Sarg an ausländische
Journalisten, zum Beweis des Gegenteils.
Am Dienstagmorgen wollten Militär und Polizei aus der Treibstoffanlage
Senkata in 50 Zisternen Treibstoff für La Paz holen. Die Anlage in der
Nachbarstadt El Alto versorgt sie normalerweise mit Treibstoff. Doch seit
Tagen hatten Einheimische sie blockiert, um die Übergangsregierung unter
Druck zu setzen.
Die autobahnartige schnurgerade Straße Avenida 6 de marzo ist übersät mit
Steinbrocken, Stacheldraht, Metallschrott, Scherben. Tiefe Gräben sollten
verhindern, dass Tankwagen passieren. Laut Verteidigungsminister López
erhielten die Demonstrierenden „Befehle, Alkohol und Koka, damit sie
Vandalismus betreiben“ und Angst und Schrecken verbreiteten. Sie hätten
Sprengstoff gehabt. Er nennt sie Terroristen.
Eine Frau, die in einer Organisation in der Nachbarschaft arbeitet,
schildert es hingegen so: Um 10 Uhr morgens hätten die Nachbarn um
Verstärkung an der Blockade gebeten, weil Soldaten und Polizei kämen, um
Brennstoff aus der Anlage zu holen. Die Leute seien aus verschiedenen
Richtungen herbeigekommen, sagt die Frau, die aus Angst anonym bleiben
will. „Die Polizisten beschossen uns brutal mit Tränengas.“
## „Wir hatten, wenn überhaupt, nur Stöcke und Steine“
Daraufhin hätten sich die Menschen vor die Anlage gestellt, sie seien
wütend geworden. „Die Soldaten begannen, mit Schrot- und Gewehrkugeln zu
schießen. Dann kamen zwei Hubschrauber. Daraus warfen sie Gas und
schossen.“ Das sei auf Höhe des Eingangs zu der Anlage passiert.
Daraufhin brachten die Demonstrierenden weiter unten eine Mauer zum
Einsturz. „Da kamen die Soldaten von drinnen heraus und schossen ebenfalls.
Der Minister spricht von Konfrontation, aber wir hatten, wenn überhaupt,
nur Stöcke und Steine.“
Dass aus Hubschraubern auf die Menschen geschossen wurde, berichteten
mehrere Zeugen vor Ort der taz. Was passiert ist, nennen sie nicht
„Operation“, sondern „Massaker“. Die Zeitung La Razón zitiert in der
Donnerstagausgabe David Inca von der Ständigen Versammlung für
Menschenrechte, dass die Schüsse aus der Treibstoffanlage gekommen seien,
wo die Soldaten postiert waren.
Die Betonelemente zwischen den Gegenfahrbahnen der Avenida sind übersät mit
Einschusslöchern. Die Anwohner*innen haben mit Kreide Kreise um sie
gezogen. Blutspuren sind auch in der zweiten Häuserreihe zu sehen, wo
Kugeln Einschusslöcher an Metalltoren und Fassaden hinterlassen haben.
Vor einer Bankfiliale mit mehreren Einschusslöchern direkt an der Avenida
sind Spuren einer großen Blutlache und Tränengaskartuschen zu sehen. Hier
soll ein Mann erschossen worden sein. „Hier müssten Überwachungskameras
sein, aber sie sind entfernt worden“, sagen Einheimische. Am Tag danach
gehen sie selbst herum und dokumentieren mit der Handykamera.
Das Forensische Institut (IDIF) spricht in einem ersten Report davon, dass
zwei Menschen durch Projektile starben, die laut den Vorschriften nicht von
Polizei und Armee verwendet werden. „Diese kurzen Schusswaffen könnte jeder
haben“, sagte der nationale IDIF-Direktor Andrés Flores.
Am Donnerstag beschoss die Polizei in La Paz Demonstrierende, die mit fünf
Särgen von El Alto ins Stadtzentrum zogen, mit Tränengas.
Übergangspräsidentin Jeanine Áñez bedauerte in einer Erklärung „von ganz…
Herzen“ die Todesopfer und bat die Bolivianer*innen um Einigkeit. Ihr
Kabinett sei sofort zum Dialog bereit.
22 Nov 2019
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## AUTOREN
Katharina Wojczenko
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