# taz.de -- Zweisprachiges Theater: Wahre Kunst geht durch den Magen | |
> Mit ihrer Koproduktion „Coriolanus“ entfalten die Bremer Shakespeare | |
> Company und das Tiyatr BeReZe ein rasantes Spiel um Macht und Krieg. | |
Bild: Im Hintergrund ertüchtigt sich Svea Auerbach als eine Frau ohne Menschli… | |
BREMEN taz | Offenbar beherrscht Erkan Uyanıksoy die seltene, wenn nicht | |
gar unerhörte Kunst, seinen Kopf zusammenzuziehen und zu schrumpfen. Denn | |
plötzlich, mitten im Stück, wirkt der Mann, der eigentlich ein normal | |
dimensioniertes Gesicht hat, als wäre er seine eigene Handpuppe in der | |
Rolle des Patriziers Menenius Agrippa: Mit Allongeperücke behängt scheint | |
sein Schädel auf dem Rednerpult zu hocken. | |
Das hat er zuvor, in seinem Inneren hockend, von rechts auf die Bühne des | |
[1][Theaters am Leibnizplatz geschoben]. Von oben herab blitzen nun seine | |
von ultradicken Brillengläsern verfensterten Augen das empörte Volk an. Und | |
seine Stimme weist es in die Schranken. | |
Er nutzt dafür ein krächzendes und lächerlich-fisteliges Falsett, fast nur | |
ein Stimmchen, aber doch voll herrischer Gewalt: „What works?“, | |
[2][erkundigt er sich bei Shakespeare] an dieser Stelle der Römertragödie | |
„Coriolanus“, die am Freitag Premiere feierte. Und er fragt, wohin sie denn | |
mit Stangen und Knüppeln ziehen, also „with bats and clubs“, wie es im | |
englischen Original heißt. | |
## Verstehen ohne Worte | |
Uyanıksoy spricht aber Türkisch: Klar, wer das kann, versteht's. Aber das | |
Tolle an dieser wirklich sensationellen zweisprachigen Koproduktion von | |
bremer shakespeare company und dem Tiyatr BeReZe aus Istanbul ist: Wer das | |
nicht kann, selbst wer nicht mal teşekkürler, lütfen, güle, güle zu deuten | |
vermag, kapiert's eben auch. | |
Denn der Inhalt der Rede verrät sich in der Reaktion der Volksmasse: Simon | |
Elias und Elif Temuçin entfalten genug Präsenz für einen ganzen Mob. Und um | |
die Intention der Rede zu erfassen, reicht es, ihrem Klang zu lauschen: | |
Widerspruch ist nicht geduldet, auch wenn man keine Ahnung hat, was | |
Uyanıksoy da genau sagt, bis er schließlich neben das Holzgestell tritt und | |
zu erzählen beginnt: „Es war einmal ein Aufstand aller Körperteile gegen | |
den Magen“. | |
Für diese demagogische [3][Lehrerzählung] – die Gliedmaßen drohen für eine | |
fairere Nahrungverteilung zu streiken – hat Rike Schimitschek dem Menenius | |
ein grandios-groteskes Kostüm geschneidert: Ein anatomisches Modell mit | |
frei entnehmbaren Organen, die Uyanıksoy so souverän einsetzt, dass sie das | |
Volk vor lauter Staunen seinen Hunger vergessen lassen und den Unmut | |
darüber, dass zugleich der Senat so gut genährt ist. | |
## Wie eine Figur Molière's | |
Bis sie schließlich bereitwillig, ja begierig die Verteidigung des Magens | |
annehmen, der in dieser Parabel für den Senat steht. Diese Pointe und | |
Essenz der Erzählung verabreicht Menenius den Plebeijern in einer | |
neuerlichen Deutsch-Injektion: „Ja, ich nehme das ganze Essen, aber ich | |
esse es für euch!'‘, kreischt er heraus, als könnte er sich nur mit Mühe | |
das Lachen verkneifen. | |
Zynisch, wie eine Molière-Figur hat Regisseur Doğu Yaşar Akal den Menenius | |
aufgefasst, was nahe liegt, wenn man einen Komödianten wie Uyanıksoy in | |
Szene setzen kann: Er wird zur heimlichen Hauptfigur der Aufführung. | |
„Coriolanus“ ist Shakespeares letztes Drama. Es hat, zumal in Phasen akuter | |
Tyrannei, eine gewisse Aufführungsgeschichte, ist aber doch ein eher selten | |
gespieltes geblieben. Es spielt zwischen 493 und 488 v.u.Z.: In Rom wird | |
damals das Amt der Tribunen geschaffen. Und es wird [4][mit dem italischen | |
Stamm der Volsker gekämpft]: Der Held, der Patrizier Caius Martius, bekommt | |
im Verlauf des Stücks erst den Namen Coriolanus, weil er in der feindlichen | |
Stadt Corioli alleine eingeschlossen, ein Blutbad unter den Feinden | |
anrichtet und quasi im Alleingang den Ort erobert. | |
Seine politische Karriere in Rom knüpft an dem Kriegsruhm an und scheitert, | |
weil er das Volk verachet – und vom Volk ausgespielt wird. Als er dann | |
überläuft und nach einem erfolgreichen Feldzug gegen Rom einen Frieden | |
aushandelt, wird das vom Obervolsker als Verrat gedeutet. Er bringt ihn um. | |
Und Ende. | |
## Die schreckliche Mutter | |
„Coriolanus“ auf den Spielplan zu setzen ist nicht ohne Risiko: Das Drama | |
ist ziemlich unbekannt. Und bei denen, die es kennen, ist es oft wenig | |
beliebt. Vielleicht auch, weil die Titelfigur wenig vielschichtig und fast | |
naiv wirkt: So brutal und cholerisch, so ratlos ist dieser Krafttyp auch, | |
und das bringt Markus Seuss sehr schön zur Geltung: Völlig aufgeschmissen | |
ist er, weil er zu seiner schrecklichen Mutter nicht zurückkehren kann. | |
Mit „eiserner Milch“, habe diese Volumnia den kleinen Caius gesäugt, | |
[5][schreibt] Heinrich Heine. Das trifft es immer noch am besten: Mit einem | |
schön ausgespieltem gymnastischen Solo eröffnet Svea Meiken Auerbach den | |
Abend. Wie ein konstruktives und funktionales Element wirkt sie in jenem | |
großen Gitter, das auf Heige Neugebauers minimalistischer Bühne Rom ist. | |
Hier ertüchtigt sich, vor blutrot-ausgeleuchtetem Hintergrund eine Frau, | |
die wehrhaft ist und frei von aller Menschlichkeit. | |
Nein, um diesen furchteinflößenden Eindruck zu erzeugen, bedarf es keiner | |
Sprache. Die Figurenzeichnung aus Shakespeares Drama teilt sich in der | |
Choreografie mit. Das Experiment, das eine zweisprachige Produktion | |
bedeutet, nutzen BSC und BeReZe, um zu dem vorzustoßen, was Schauspiel | |
wirklich ausmacht: Den Raum erobern, besetzen, gestalten. Und Text nicht | |
aufsagen – sondern leben. Das ist große Kunst. | |
25 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.shakespeare-company.com/repertoire/coriolanus | |
[2] http://shakespeare.mit.edu/coriolanus/full.html | |
[3] https://core.ac.uk/download/pdf/12165775.pdf | |
[4] http://www.tuttostoria.net/storia-antica.aspx?code=22 | |
[5] http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Essays+III:+Aufs%C3%A4tze+u… | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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