# taz.de -- ZDF-Doku zu Jüdischsein in Berlin: Ein Leben mit dem Holocaust | |
> In „Lebenszeichen“ zeigt Alexa Karolinski wie Jüdischsein in Berlin heute | |
> aussieht. Sie erzählt dabei ihre Familiengeschichte. | |
Bild: Annie Karolinski Donig, Mutter der Regisseurin, bereitet das Rosch ha-Sch… | |
„Jüdischsein in Berlin“ – wie der Dokumentarfilm von Alexa Karolinski im | |
Nebentitel heißt – ist eine ziemlich bürgerliche Angelegenheit. Das könnte | |
man jedenfalls nach den ersten Bildern meinen. Sie zeigen eine Frau, die an | |
einer langen Tafel Teller akkurat ausrichtet, Stühle zurechtrückt, | |
Silberbesteck bereitlegt. Die Vorbereitungen der Feierlichkeiten zu Rosch | |
ha-Schana bilden den rudimentären Rahmen des Films, der mit dem Eintreffen | |
der Gäste endet. | |
Die Frau, die die Mutter der Filmemacherin ist, spricht von der „Tradition | |
der Familie“. Sagt: „Das richtige Judentum – diesen Inhalt, dieses Selige, | |
das Jiddische, diese Wärme, das, was wir eben mit [1][einem jüdischen | |
Zuhause verbinden] – das hab ich erst hier gelernt.“ In Berlin. Sie ist | |
anderswo geboren und aufgewachsen ist, in Montreal, als Tochter von | |
Holocaust-Überlebenden. | |
Ein Mann mit langen grauen Haaren wühlt in seinem „Anarchiv“ und führt den | |
Eingang des Begriffs „Holocaust“ in die deutsche Sprache auf die | |
gleichnamige amerikanische Fernsehserie zurück. Dass der Mann der | |
Medientheoretiker Siegfried Zielinski ist, muss man wissen. „Lebenszeichen“ | |
will ein künstlerischer Dokumentarfilm sein. Es gibt, anders als bei einer | |
journalistischen Doku, keinen Off-Kommentar oder Bauchbinden. Vielleicht | |
weil man gar nicht wissen muss, dass Zielinski Zielinski ist, um | |
nachzuvollziehen, warum er den früher üblichen Begriff der | |
„Judenvernichtung“ ablehnt (wegen der Nazi-Perspektive). | |
Die 1984 in Berlin geborene Karolinski hatte zuvor bereits mit ihrem | |
[2][Filmdebüt „Oma & Bella“] – über ihre Großmutter und deren Freundin, | |
Holocaust-Überlebende alle beide – auf sich aufmerksam gemacht. | |
„Lebenszeichen“ wirkt im Vergleich, wegen seiner weitgehenden | |
Strukturlosigkeit, etwas fahrig. Reiht vor allem Momentaufnahmen | |
aneinander: die Oma mit ihrem Physiotherapeuten; Gärtnern im Garten der | |
Liebermann-Villa – die Wannseekonferenz wurde gleich nebenan abgehalten; | |
das Denkmal „Züge in das Leben – Züge in den Tod“ (das an die | |
Kindertransporte 1938/39 nach England erinnert); eine Schulklasse in | |
Sachsenhausen; Stolpersteine. | |
## Nicht einfach nur ein Neukölln-Ort | |
Jüdischsein in Berlin bedeutet die ständige Präsenz des Holocaust. [3][Der | |
Schriftzug „Neue Welt“ im Tor] vor der Filiale eines Baumarkts in | |
Berlin-Neukölln erinnert Alexa Karolinski an Auschwitz. Für die befreundete | |
Journalistin Carolin Würfel war das bislang „halt so ein banaler | |
Neukölln-Ort, wo man so hingeht und dann im Bauhaus seine drei Bretter | |
holt“. Dank ihrer Freundin kann sie jetzt auch nicht mehr daran | |
vorbeigehen, [4][ohne an Auschwitz zu denken.] | |
Es hat allerdings gedauert, bis die Deutschen angefangen haben, an | |
Auschwitz zu denken. Karolinskis Mutter erinnert sich, während sie das | |
Besteck anordnet: „Papa hat sich geschämt. Er ist aufgewachsen mit einem | |
Schamgefühl, dass er eben in diesem Land aufgewachsen ist.“ Papa ist der | |
Mann, für den sie einst aus Montreal nach Berlin gezogen ist. Der Mann, mit | |
dem sie heute verheiratet ist, hat Demenz. Ein strikt eingehaltenes | |
Frühstücksritual gibt ihm Sicherheit. Die Kleidung von Karolinskis | |
Stiefvater wechselt, seine Handgriffe bleiben exakt die gleichen, in immer | |
gleicher Reihenfolge. Es sind solche Bilder, die den Eindruck von der | |
Fahrigkeit des Films befördern. Was hat dieses „Und täglich grüßt das | |
Murmeltier“-Moment mit dem Jüdischsein in Berlin zu tun? | |
Vielleicht ist genau das der Punkt. Vielleicht gibt es kein Jüdischsein in | |
Berlin, ohne jeden Tag an den Holocaust zu denken. Vielleicht bedeutet | |
Jüdischsein aber auch, so banal das klingt, dass man jenseits des Holocaust | |
die gleichen kleinen Probleme und großen Sorgen hat wie andere Menschen. | |
Vielleicht ist der Film überhaupt nicht fahrig, sondern dokumentiert ein | |
Lebensgefühl – das einer jungen jüdischen Berlinerin –, das so diffus und | |
ambivalent ist, wie Lebensgefühle nun einmal sind. | |
7 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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