# taz.de -- 70 Jahre Volksrepublik China: Was kommt nach dem Wachstum? | |
> Am 1. Oktober feiert China 70 Jahre Volksrepublik. Das System hatte oft | |
> Erfolg, doch es wird an seine Grenzen stoßen. Oder sich neu erfinden. | |
Bild: Mehr als zwei Welten, zwei Systeme verschmelzen in China zu einer Gesells… | |
Im Innern der Großen Halle des Volkes sieht es aus, als wäre die Zeit | |
stehen geblieben. Hinter der Tribüne prangt haushoch das Staatswappen der | |
Volksrepublik. Ein prächtiger roter Stern dient als Lichtquelle. Und auch | |
die roten Vorhänge hängen genauso perfekt drapiert wie damals in den | |
sechziger Jahren, als Mao Tse-tung vor Feierlichkeiten höchst persönlich | |
vorbeikam, um die Choreografie zu inspizieren. | |
Doch der ist seit 43 Jahren tot. Die Volksrepublik China gibt es inzwischen | |
länger mit Kapitalismus als ohne. Trotzdem wird jedes Jahr im Frühling, | |
wenn die rund 3.000 Delegierten des Nationalen Volkskongresses in der | |
Großen Halle des Volkes zu ihrer Jahressitzung zusammenkommen, an den | |
kommunistischen Ritualen festgehalten, als würde es das moderne China mit | |
den glitzernden Wolkenkratzern und den Gucci-Läden in den Luxuskaufhäusern | |
ein paar hundert Meter weiter nicht geben. Beim jährlichen Volkskongress | |
werden die gleichen steifen Phrasen der Propagandamaschine gedroschen wie | |
zu Maos Zeiten. Sie passen so gar nicht zum konsumorientierten | |
Hightech-China von heute. | |
Doch genau das ist es, was die kommunistische Führung ihren Bürgern | |
vermitteln will, wenn sie am 1. Oktober den 70. Jahrestag der Gründung der | |
Volksrepublik begeht: Beständigkeit, Stabilität und der alleinige | |
Machtanspruch der Kommunistischen Partei – allen Veränderungen zum Trotz, | |
die das Riesenreich in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat. Die | |
Kernbotschaft der Führung lautet: Ohne die Kommunistische Partei gäbe es | |
kein neues China. Und ohne die neue Ära Xi Jinping werde es keine | |
glorreiche Zukunft geben. Politisch altbacken und starr, wirtschaftlich | |
jederzeit wandlungsfähig – das ist das, was Chinas kommunistische Führung | |
und das Riesenreich insgesamt heute auszeichnet. | |
Das war nicht immer so. Als Mao 1949 nach Jahren des Bürgerkriegs gegen die | |
national-bürgerliche Kuomintang als Sieger hervorging und er auf dem | |
berühmten Tor vor dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die | |
Volksrepublik ausrief, wollte Mao nichts Geringeres als den wahren | |
Kommunismus auf Erden schaffen. | |
## Absolute Armut ist weitgehend besiegt | |
Was die Chinesen in den folgenden drei Jahrzehnten erleben sollten, waren | |
grausame, von Mao initiierte Kampagnen. Mit dem „Großen Sprung vorwärts“ | |
zwischen 1958 und 1962 sollte China zum sozialistischen Industriestaat | |
kollektiviert werden. Das Ergebnis war eine Hungersnot mit mindestens 36 | |
Millionen Toten. | |
Ab 1966 folgte Maos „Große proletarische Kulturrevolution“, mit der er sich | |
zum Wegbereiter eines sozialistischen Universums machen wollte. Zehn Jahre | |
lang hetzte er die Menschen gegeneinander auf. Die Bilanz der grausamen | |
Kampagne: 2 Millionen Tote, 30 Millionen politisch Verfolgte und ein völlig | |
traumatisiertes Volk. Die Wunden sind bis heute nicht verheilt. | |
Erst mit dem Tod Maos endeten diese schrecklichen Experimente. Sein | |
Nachfolger Deng Xiaoping setzte zu einem Reformprozess an, der das Land | |
erneut radikal verändern sollte. Deng ließ Besitztümer und freie Märkte zu. | |
An der KP-Herrschaft hielt aber auch er fest. | |
Zwei Sätze formulierte Deng, die Chinas weitere Entwicklung auf den Punkt | |
brachten. „Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fän… | |
Mäuse.“ Und: „Von Stein zu Stein tretend den Fluss überqueren.“ Was er … | |
beiden Sätzen meinte: Pragmatismus pur. Einen Masterplan für die | |
Entwicklung Chinas hatte auch er nicht. „Ausprobieren“, lautete sein Motto. | |
Was sich bewährte, sollte fortgesetzt werden. Ging etwas schief, wurde es | |
verworfen. Mit ideologischen Scheuklappen räumte Deng auf. | |
Mit dieser Politik setzte Deng einen unvergleichlichen Wohlstandsgewinn in | |
Gang. Lebten zu Beginn seiner Reformpolitik noch 90 Prozent der rund eine | |
Milliarde Chinesinnen und Chinesen unter der Armutsgrenze, ist absolute | |
Armut heute in der Volksrepublik weitgehend besiegt. Ein Drittel der | |
Bevölkerung weist einen Wohlstand auf, der vergleichbar ist mit dem | |
westlicher Industriestaaten, ein weiteres Drittel ist kurz davor. Die | |
Wirtschaftskraft ist 170-mal so hoch wie 1949, die Einnahmen des Staates | |
haben sich sogar um das 3.000-Fache vergrößert. | |
Mit der von ihm initiierten Öffnung Chinas zur Außenwelt beschleunigte Deng | |
zugleich den Globalisierungsprozess wie kaum ein anderer. China entwickelte | |
sich zur größten Handelsmacht und zur zweitstärksten Volkswirtschaft der | |
Welt. Heute sind weder die Weltwirtschaft ohne China noch [1][die | |
Volksrepublik ohne den Rest der Welt mehr vorstellbar]. | |
Deng war der Architekt eines Systems, in dem freie Märkte erfolgreich in | |
einem politisch unfreien Rahmen funktionieren. Damit ist es ihm und seinen | |
Nachfolgern gelungen, den von Mao geschaffenen kommunistischen Machtapparat | |
zu erhalten und gleichzeitig eine autoritäre Staatsform zu schaffen, die | |
trotz des Scheiterns des Realsozialismus in anderen Teilen der Welt bis | |
heute Bestand hat. Chinas Führung ist das schier Unmögliche gelungen: Gucci | |
und Prada unter Hammer und Sichel. | |
Diese Politik mag die Volksrepublik in den vergangenen drei Jahrzehnten | |
weit gebracht haben. Doch eines vernachlässigt eine Führung, die sich als | |
kommunistisch bezeichnet, bis heute: die soziale Frage. Sie stand schon | |
unter Deng nicht im Vordergrund. Mit seinem Ausspruch „Lasst einige erst | |
reich werden“ nahm er die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gar in | |
Kauf. Heute ist China das Land mit einer der größten Einkommensscheren auf | |
der Welt. Und Korruption ist trotz immer wiederkehrender | |
Antikorruptionskampagnen ein Geschwür, das sich in einem solchen System | |
ohne Gewaltenteilung nicht ausmerzen lässt. | |
Ein weiteres Problem im Land ist die völlige Entideologisierung der | |
Gesellschaft. Mao hatte es unter seiner Herrschaft auf die Spitze getrieben | |
und alle Schichten der chinesischen Gesellschaft durch und durch | |
ideologisiert. Unter Deng konnten die Chinesen zwar wieder ein Privatleben | |
führen, das sich der Kontrolle der KP entzog. Unter ihm wurde der | |
Kommunismus allerdings auch beliebig. Keiner wusste mehr, was er in China | |
eigentlich besagte. | |
Den lange Zeit in China dominierenden Konfuzianismus, aber auch | |
traditionelle Religionen hatte Mao da schon zum Verschwinden gebracht. Neue | |
Wertvorstellungen fehlen. Das macht sich konkret im Alltag bemerkbar: | |
Behinderte, Kranke und alte Menschen werden zwischen den glitzernden | |
Fassaden in Peking und Schanghai kaum beachtet, zwischenmenschlich leistet | |
kaum einer dem anderen Beistand. Was zählt, ist das eigene Fortkommen und | |
das der eigenen Familie. | |
Nachbarschaftskomitees propagiert die Kommunistische Partei zwar immer | |
noch. Und die ist mit ihren 90 Millionen Mitgliedern so groß wie selbst zu | |
Maos Zeiten nicht. Doch die meisten treten heute aus Karrieregründen der KP | |
bei. Nur wer Mitglied ist, hat gute Chancen auf einen Aufstieg, in einer | |
Behörde oder einem Staatsunternehmen. Der kommunistische Gedanke an sich | |
spielt heute keine Rolle mehr. | |
Bleibt der Nationalismus. Den setzt die Führung zuweilen auch gerne ein. Er | |
setzt sie allerdings auch massiv unter Druck, wenn sie etwa den Erwartungen | |
nicht gerecht wird. Das zeigt sich aktuell nicht zuletzt [2][am | |
Handelsstreit mit den USA]. Um einen zu großen wirtschaftlichen Schaden für | |
das Land abzuwenden, ist die chinesische Führung an einer Lösung mit | |
Washington interessiert. Macht sie allerdings zu große Zugeständnisse, | |
könnte ihr das im eigenen Land als Schwäche ausgelegt werden. | |
Doch auch gesellschaftlich wird es für die Führung immer schwieriger, das | |
Land zusammenzuhalten. Das hohe Wirtschaftswachstum der vergangenen | |
Jahrzehnte legitimierte Chinas KP bislang. Der Wohlstand hat allerdings | |
auch die Ansprüche steigen lassen. Die wachsende Mittelschicht fordert von | |
ihrer Regierung eine nachhaltigere und sozialere Entwicklung. Forderungen | |
nach mehr Mitbestimmung und Demokratie werden derzeit zwar [3][nur in | |
Hongkong laut]. Doch auch auf dem chinesischen Festland sind immer mehr | |
Menschen gut ausgebildet und wollen mitreden. | |
Vor allem aber ökonomisch wird es für die KP-Führung immer schwieriger. Für | |
eine Volkswirtschaft ist es sehr viel leichter, von einem unterentwickelten | |
Land zu einem Schwellenland aufzusteigen: Die Regierung muss den Bau von | |
Fabriken zulassen, für die entsprechende Infrastruktur sorgen. | |
Arbeitskräfte, die zu geringen Löhnen bereit sind, Konsumartikel für den | |
Rest der Welt zu produzieren, gab es in China lange Zeit zuhauf. Sehr viel | |
schwieriger ist es für ein Land, zu den westlichen Industrieländern | |
aufzuschließen. Denn das erfordert Hightech-Industrie für hochwertige Jobs | |
und das wiederum jede Menge Investitionen in Bildung und Forschung. | |
Auf diesem Weg ist das Land zwar mit den Industrieprogrammen „Made in China | |
2025“ oder auch der Seidenstraßen-Initiative, die für China die | |
wirtschaftliche Erschließung Zentralasiens zum Ziel hat. Doch ob das | |
ausreicht? | |
## Irgendwann wird das enorme Wachstum zu Ende sein | |
Ein Drittel der chinesischen Bevölkerung lebt nach wie vor auf dem Land – | |
von wenig mehr als von dem, was sie auf den ihnen zugeteilten Parzellen | |
anbauen. Die Kalkulation der Führung: Sollen alle Chinesen aufschließen, | |
kann sich das Land nur einen Anteil der Bevölkerung von unter zehn Prozent | |
leisten, der von Landwirtschaft lebt. Für alle anderen müssen | |
Industriearbeitsplätze oder Jobs im Dienstleistungssektor geschaffen | |
werden. | |
Momentan holt der Staat jährlich zwischen 10 und 20 Millionen Menschen vom | |
Land in die Städte und versorgt sie mit Wohnungen und Arbeitsplätzen. Das | |
schafft Wachstum zwischen 4 und 6 Prozent im Jahr. Ist diese Entwicklung | |
aber erst mal beendet, wird es schwierig werden, weiter hohe Wachstumsraten | |
zu erzielen. | |
Irgendwann im Laufe des nächsten Jahrzehnts wird das der Fall sein. | |
Spätestens dann wird sich Chinas Führung wieder neu erfinden müssen. | |
1 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Felix Lee | |
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