# taz.de -- 30 Jahre nach der Rebellion in China: Der Deal läuft aus | |
> 1989 wurden die Proteste auf dem Tiananmen-Platz niedergeschlagen. Wie | |
> lange noch wird der Wohlstand ein neues Streben nach Freiheit verhindern? | |
Bild: Ikonisches Foto: Ein einzelner Mann stellte sich den 1989 den Panzern ent… | |
Die Glaskästen mit den Wandzeitungen auf dem Campus der Peking-Universität | |
stehen noch. Ebenso die schwarzen Bretter, die vor 30 Jahren voll mit | |
Protestnoten waren. Heute hängen hier nur noch ein paar Zettel mit Worten | |
wie „Zimmerangebot“ oder „Suche E-Bike“ darauf. Und auch die sind wenig… | |
geworden: Die Verständigung der Studentinnen und Studenten läuft längst | |
über die sozialen Medien im Internet. Wer jedoch den kritischen Geist | |
finden will, der einst die Peking-Universität prägte, wird auch dort nicht | |
fündig. Regierungskritische Inhalte postet kaum noch jemand. [1][Der Staat | |
liest schließlich mit]. | |
Im Jahre 1989 war die Überwachung noch nicht derart perfektioniert. Deshalb | |
konnte vom Campus der Peking-Universität eines der bedeutendsten | |
politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts ausgehen. Als im Frühjahr 1989 | |
Zehntausende junge Menschen für mehr Demokratie auf den Tiananmen-Platz im | |
Herzen der Stadt zogen, waren es die Studentinnen und Studenten der | |
Peking-Universität, die die Proteste anführten. [2][Das Militär schlug die | |
Bewegung in der Nacht zum 4. Juni blutig nieder]. Es gab Tausende Tote – | |
die genaue Zahl haben die Behörden nie herausgegeben. | |
Wer heute die Universität besucht, sieht Sicherheitskameras an sämtlichen | |
Laternenpfählen hängen. Sie erkennen Gesichter in der Menge und können sie | |
mit den Informationen in zahllosen Datenbanken abgleichen, in denen der | |
Staat die Daten der Bürger verwaltet. Einen Protest an der | |
Peking-Universität zu organisieren wäre heute fast unmöglich. Der Wille | |
dazu existiert ohnehin nicht: Statt politischer Aufbruchstimmung prägen | |
jetzt Karriere- und Alltagssorgen das Denken der Studierenden. Das Leben | |
auf dem Campus der Peking-Universität spiegelt damit das Wesen des Landes | |
insgesamt wider: ein technologisch hochmoderner, zugleich aber streng | |
kontrollierter Sicherheitsstaat. | |
China hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten von einem armen | |
Entwicklungsland zu einer globalen Wirtschaftsmacht entwickelt. Um | |
durchschnittlich 9 Prozent im Jahr ist die Wirtschaft gewachsen auf über 12 | |
Billionen Dollar. Das durchschnittliche Jahreseinkommen hat sich von rund | |
200 auf mehr als 9.600 Dollar erhöht. Lebten 1989 noch mehr als 70 Prozent | |
der Menschen von knapp 2 Dollar am Tag, wird die absolute Armut bis 2020 in | |
China besiegt sein. | |
## Geld ja. Politik nein | |
„Die KP-Führung bot dem chinesischen Volk 1989 ein neues Geschäft an“, sa… | |
der US-Politologe Perry Link. Das Volk könne Geld verdienen, die Führung | |
gestatte den Bürgern mehr persönliche Freiheiten in ihrem täglichen Leben. | |
Link hatte 2001 an der sogenannten Tiananmen-Akte mitgeschrieben, die zu | |
einer Aufklärung der Vorgänge beitragen sollte, bis heute das einzige | |
ausführliche Dokument zu den Ereignissen von 89. Auch zum Deal gehöre: „Die | |
Parteimacht dürfen die Bürger nicht öffentlich infrage stellen und auch | |
keine Organisationen bilden – politisch, religiös oder auf andere Weise, | |
die die Partei nicht kontrollieren kann. Kurz gesagt: Geld ja. Politik | |
nein.“ | |
Und dieses Geld, das fließt. Das Ziel der kommunistischen Führung, bis 2025 | |
technologisch führend zu sein, ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Kein | |
Land investiert so viele Milliarden in künstliche Intelligenz, Mikrochips | |
und Industrieroboter wie die Volksrepublik. Wohlstand für alle – das sei | |
ein „Menschenrecht“, argumentiert die kommunistische Führung. | |
Menschenrechte. Darum ging es auch den Studierenden im Jahr 1989, doch | |
dachten sie an andere, an Meinungsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaat. | |
Diese Schlagworte verwendet die Führung zwar auch heute noch, doch verdreht | |
sie die Begriffe, damit sie zum Ziel des eigenen Machterhalts passen. Die | |
Wahrheit ist: Sie geht gegen ihre Kritiker härter vor als jemals zuvor. | |
Vom Unrecht Betroffene sind in den vergangenen drei Jahrzehnten zu | |
Pessimisten geworden. [3][Teng Biao, ein Menschenrechtsanwalt, der mit | |
seiner Familie in die USA fliehen musste], sagt: „Wir sind heute noch | |
weiter von der Demokratie entfernt als 1989.“ Er sieht gar einen | |
Zusammenhang zwischen der Niederschlagung der Tiananmen-Proteste und der | |
anschließenden Wirtschaftsentwicklung. Sie habe ihr nicht geschadet, | |
sondern genützt, lautet seine These. Dem gängigen Narrativ, Demokratie und | |
Wohlstand seien unmittelbar miteinander verknüpft, widerspricht er damit. | |
Denn das politische System habe in China nicht einfach stagniert, im | |
Gegenteil: Die KP sitze fester im Sattel als je zuvor, glaubt Teng. | |
Keine Demokratie, dafür aber Wohlstand – die Formel klingt simpel, doch in | |
der Praxis ist das Bild deutlich komplexer. Denn es gab die kritischen | |
Stimmen durchaus, und es gibt sie noch heute. In den 1990er Jahren waren es | |
Künstler, Dichter und andere Intellektuelle, die es wagten, die Ausbeutung, | |
Korruption und Regierungswillkür zu thematisieren, in den Jahren nach der | |
Jahrtausendwende vor allem Anwälte, Journalisten und Blogger, die Kritik am | |
Regime übten. | |
Dass vor allem diese Berufsgruppen in Erscheinung traten, lag an einem | |
weiteren Großereignis. Als China 2008 die Olympischen Spiele austrug, | |
wollte die Führung sich gegenüber der Welt offen und tolerant präsentieren. | |
Unter dem Motto „Reise der Harmonie“ warb das Land schon im Vorfeld mit | |
einem Fackellauf für die Spiele und die eigenen Errungenschaften in aller | |
Welt. Die Parteiführung lockerte die Zensur, duldete Debatten in den | |
aufkommenden sozialen Medien und versprach mehr Rechtsstaat. Die | |
Machthoheit der KP sollte zwar nicht angetastet werden. Vielleicht, so | |
dachten einige in der Führung, würde etwas mehr Transparenz und Überwachung | |
aber sogar guttun. | |
Mutige Anwälte taten sich in Kanzleien zusammen. Neue Medien entstanden, | |
die nicht mehr ganz so streng den Vorgaben der KP-Propaganda folgen | |
mussten. Die Führung dachte, sie könne China und sich selbst feiern. Schon | |
war von einem politischen Frühling die Rede. | |
[4][Menschenrechtsaktivisten nutzten diese Öffnung]. Sie wagten es sogar, | |
eine „Bürgerrechtscharta“ zu verfassen, in der sie das System selbst | |
infrage stellten. Auch die unterdrückten Tibeter und Uiguren erhoben ihre | |
Stimmen. | |
Doch allein der Fackellauf entwickelte sich zur Farce. Sobald ein | |
chinesischer Sportler mit der Fackel in einer europäischen oder | |
nordamerikanischen Stadt auftauchte, kam es zu Protesten. Chinas Führung | |
blamierte sich. Kurz nach den Spielen war es mit dem „politischen Frühling“ | |
vollends vorbei. Im Anschluss folgte ein tiefer Winter, der bis heute | |
anhält. | |
Eine Reihe von Aktivisten, die es wagten, auch nach 2008 noch Kritik zu | |
üben, wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, darunter der | |
Schriftsteller Liu Xiaobo. Er ist bekannt, weil er später den | |
Friedensnobelpreis erhielt. „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsmacht“ | |
lautete schließlich die Klage gegen ihn und andere. 2009 verurteilte ihn | |
ein Volksgericht zu elf Jahren Haft. Seine Frau Liu Xia stellten die | |
Behörden unter Hausarrest. [5][2017 starb Xiaobo in Haft]. | |
Mit Amtsantritt von Präsident Xi Jinping im Jahr 2013 ging es mit den | |
Menschenrechten weiter bergab. Die Festnahme von rund 300 Rechtsanwälten | |
und Menschenrechtsverteidigern im Juli 2015 markierte einen vorläufigen | |
Höhepunkt. Seitdem trauen sich auch die Juristen nur noch selten an die | |
Öffentlichkeit. | |
## Brutales Vorgehen gegen Minderheiten | |
Derzeit gehen die chinesischen Sicherheitskräfte besonders [6][brutal gegen | |
die muslimische Minderheit der Uiguren in Xinjiang] im Nordwesten der | |
Volksrepublik vor. Hatte China seine berüchtigten Umerziehungslager aus | |
Mao-Zeiten 2015 offiziell für verboten erklärt, sind sie im Umgang mit den | |
Muslimen in Xinjiang wieder eingeführt worden. Kein Bürger kann davor | |
sicher sein, plötzlich verhaftet und ohne Gerichtsverfahren in ein Lager | |
gesteckt zu werden. | |
Einmischung aus dem Ausland verbittet sich die Führung. Kritik an | |
Menschenrechtsverletzungen wird generell als Einmischung in innere | |
Angelegenheiten abgetan. Wirtschaftlich ist China für viele Länder so | |
wichtig geworden, dass es kaum mehr ein Staat wagt, die anhaltenden | |
Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Seit in den USA Donald Trump im | |
Amt ist, stehen auch in Washington die Menschenrechtsverletzungen in China | |
nicht mehr auf der Agenda des Weißen Hauses. Und auch europäische | |
Regierungen halten sich zurück. | |
Was die verbliebenen Dissidenten in China aber besonders frustriert: Sie | |
werden im eigenen Land kaum noch wahrgenommen. Zwischendurch keimte die | |
Hoffnung auf, das Internet könnte sich zum Hort der Meinungsfreiheit | |
entwickeln. Zu komplex sei es, als dass es der KP-Führung gelingen würde, | |
das Netz zu kontrollieren, dachten viele. Zwischenzeitlich verlagerten sich | |
einige kritische Debatten ins Netz. 2009 gelang es der KP-Führung, den | |
Zugang zu Netzwerken wie Facebook, Twitter und YouTube zu blockieren. | |
Inzwischen hat sie auch die meisten chinesischen Online-Plattformen im | |
Griff. Die Öffnung der Märkte und der zunehmende Wohlstand haben bisher | |
kein erneutes Streben nach Freiheit ausgelöst. Stattdessen hat vor allem | |
die aufstrebende junge Mittelschicht in den Großstädten schon früh | |
verinnerlicht: Das persönliche Fortkommen und Reichtum für sich und die | |
eigene Familie sind viel wichtiger. | |
## Menschenrechte auf den hinteren Plätzen | |
Auf die Frage nach den wichtigsten Dingen im Leben werden in regelmäßigen | |
Umfragen die Familie, ein gut bezahlter Job und der Erwerb einer Wohnung | |
genannt. Die Achtung der Menschenrechte und Demokratie kommen allenfalls | |
auf den hinteren Plätzen vor. Einem Großteil der Bevölkerung sind Namen wie | |
Liu Xiaobo nicht bekannt. | |
Auch das Interesse an liu si, dem 4. Juni, wie die Niederschlagung der | |
Proteste von 1989 abgekürzt genannt wird, scheint gering. Fragt man junge | |
Leute in Peking nach Tiananmen, erntet man meist Achselzucken. | |
Die Macht der KP scheint auf absehbare Zeit gefestigt. Sie bietet einen | |
klaren Deal an: Wirtschaftlich und materiell geht es bergauf, dafür zieht | |
das Volk mit. Doch was passiert, wenn Chinas Führung das Versprechen auf | |
noch mehr Wirtschaftswachstum und ein materiell immer besseres Leben nicht | |
mehr einlösen kann? | |
So ein Szenario ist durchaus realistisch. Denn für die KP ist es sehr | |
[7][viel schwieriger geworden, mehr von allem anzubieten]. Der | |
Lebensstandard hat bereits ein hohes Niveau erreicht. Zuwächse sind viel | |
schwerer zu erzielen. Um die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen, die | |
vergleichbar ist mit dem der Industrieländer, braucht es mehr als den Bau | |
von noch mehr Fabriken und Hochhäusern. | |
Die Situation könnte also rasch gefährlich werden für [8][Xi und sein | |
Regime]. Um die Lage trotz allem stabil zu halten, hat die KP zwei | |
Instrumente ersonnen: Nach innen baut sie den perfekten Überwachungsstaat | |
auf. Und nach außen festigt sie Chinas Macht durch die | |
Seidenstraßen-Initiative. | |
## Minuspunkte für Kritik an Präsident Xi | |
Beides lässt sich auch an der Peking-Universität beobachten. Das Verhalten | |
und die akademischen Leistungen der Studierenden fließen schon jetzt in ein | |
System ein, das jedem Bürger eine Bewertung zuweist. [9][Das sogenannte | |
„Social Scoring“ soll aus den Menschen Musterstaatsbürger machen]. Kritik | |
an Xi würde Minuspunkte bringen. Wer zu wenig Punkte hat, dem verwehrt die | |
Bahn-Website vielleicht eine Reise. Wer richtig tief in den Miesen hängt, | |
darf möglicherweise nicht heiraten. Das Social Scoring gilt als bisher | |
perfideste Anwendung der künstlichen Intelligenz. Zugleich ist es die | |
perfekte Antwort auf die Abwanderung der Unzufriedenen ins Netz. | |
Die Seidenstraße ist dagegen ein hochgradig extrovertiertes Projekt. Xi | |
bindet ein Land nach dem anderen ein – [10][zuletzt sogar Italien, ein | |
Kernland der EU]. Was als Handelsprojekt daherkommt, wird immer mehr zu | |
einer weltweiten Strategie der Macht. | |
Auch die Peking-Universität macht mit. Sie veranstaltet ein Symposium zur | |
Seidenstraße nach dem anderen. In Ideologiekursen wird Xi-Jinping-Denken | |
gelehrt – die Veranstaltungen sind Pflicht. Die ehrwürdige | |
Bildungsinstitution, einst Brutstätte kritischen Denkens, wird damit immer | |
mehr zur Gehilfin der Macht. Xi erfüllt sich den alten Traum der | |
chinesischen Machthaber, die Jugend unter Kontrolle zu bringen. Was den | |
Kaisern, der Republik und den Kommunisten der 80er Jahre nicht gelungen | |
ist, könnte er schaffen – auf Kosten der Menschenrechte. | |
4 Jun 2019 | |
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