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# taz.de -- Avantgarde-Konzert: Musik von anderen Sternen
> Als Liebhaber des Lärms war Mario Bertoncini als Enfant Terrible der
> Neuen Musik. Zu seinem Gedenken lädt die Zwingli-Kirche zu Konzerten ein
Bild: Stofftiere sind für ihn Wiederspiegelungen der Seele: Charlemagne Palest…
Ein kolossaler Dampfzug aus dem 19. Jahrhundert fährt in den Bahnhof ein.
An Bord des Speisewagens befindet sich ein gewaltig in den Seilen hängender
Fiedler. In etwa so, dazu mit viel knirschendem Metall, windschiefen
Streichermelodien und flächigen Sounds, unter denen sich ein pochendes
Piano hervorschält, [1][klingt „Cifre“].
Es ist das zwischen 1964 und 1967 entstandene Musikstück des italienischen
Komponisten, Erfinders und Musikpädagogen Mario Bertoncini. Im Januar
dieses Jahres ist er in Siena gestorben. An diesem Sonnabend sind mehrere
Werke von ihm in der Berliner Zwingli-Kirche zu hören.
Nach einer Ausbildung zum Konzertpianisten und einem Studium der
Komposition und elektroakustischen Musik begann der 1932 in Rom geborene
mit der Präparation von Instrumenten und wurde Mitglied des
Komponistenkollektivs „Nuova Consonanza“. Dazu gehörte auch ein ungleich
prominenterer Kollege: Ennio Morricone.
Mario Bertoncinis Musik wird hingegen der Avantgarde zugerechnet, ein
Begriff, der so treffend wie abschreckend ist. Bertoncini konzipierte und
zimmerte Klangobjekte aus Windharfen und Klavieren, die zum Teil aus dem
Arsenal eines Science-Fiction-Films stammen könnten.
Dabei ging der Klangarchitekt Bertoncini so intuitiv wie konzeptionell vor
und gab sich nicht unbedingt als Freund der Improvisation zu erkennen. In
einem Deutschlandfunk-Porträt von Matthias Entreß von 2002 wird Bertoncini
mit einem Satz zitiert, der für ihn als charakteristisch angesehen werden
darf: „Die Gefahren einer Systematik ähneln den Gefahren einer Revolution.
Am Anfang ist es schön und glänzend, am Ende wird es zur Routine. Und
manchmal sogar verbrecherisch.“
## Die feine Ironie des Geistlichen
Einige der Werke Bertoncinis, der auch Sonette und bis jetzt
unveröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen schrieb, werden nun von zwei
Ensembles in Berlin aufgeführt. Zeitkratzer ist ein Solisten-Ensemble der
Neuen Musik, das die Barrieren zwischen Ernst und Unterhaltung seit langem
beherzt ignoriert und bereits Stücke von Arnold Schönberg und Kraftwerk
interpretiert.
Mario Bertoncini hat ihnen eigens das Stück „Sinfonia (De Rispiri)“
geschrieben. Dazu gesellt sich das italienische Percussion-Trio Zaum. Zaum
meint hier wohl kaum einen Begriff aus dem Reitsport, sondern die vom
russischen Futuristen Welimir Chlebnikow mitentwickelte Kunstsprache Zaum,
eine Universalsprache, die sowohl den Sternen als auch den Vögeln
verständlich sein sollte.
Dass Mario Bertoncini [2][in Berlin aufgeführt] wird, ist eine Heimkehr,
war er doch 1974 mit einem Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des
DAAD nach Berlin gekommen und von 1980 bis 1997 als Professsor an der
Universität der Künste tätig. Dass die Konzerte in der Friedrichshainer
Zwingli-Kirche zu hören sind, ist definitiv ihrer besonderen Akustik
geschuldet. Es hat aber auch eine feine Ironie.
Huldrych Zwingli, Namensgeber der Kirche und Züricher Reformator, ist als
Musikverächter in die Geschichte eingegangen. Er verbannte Kirchengesang
und Orgelmusik aus dem Gottesdienst. Die Fachliteratur vermutet, dass der
durchaus musikalische Zwingli sich in seinem Eifer ein bisschen selbst
versteckte.
Anders als Martin Luther war Zwingli allerdings kein Antisemit und stand
den Pogrom-Tiraden seines Zeitgenossen verständnislos gegenüber. Was
freilich Zwingli, der Minimalist des Glaubens, dem es dabei natürlich um
ein Maximum ging, am Sonntagabend sagen würde, sei dahingestellt. Denn da
wird in seiner Kirche Chaim Moshe Tzadik Palestine auftreten, 1947 in New
York geborener Sohn osteuropäischer Juden und unter seinem Künstlernamen
Charlemagne Palestine ein Pionier der Minimal Music.
## Schamanistische Wiederspiegelungen der Seele
Der Pianist, Organist und Sänger Palestine begann mit religiöser jüdischer
Musik und lernte Akkordeon und Klavier. Mit gerade mal 12 Jahren wurde er
Perkussionist für Beatniks und Mavericks wie Allen Ginsberg, Gregory Corso,
Kenneth Anger und Tiny Tim.
Palestines Sound ist weniger metallisch knirschend als ätherisch perlend,
was nicht heißt, dass er ohne Wucht daherkommt. Aber ihm ist ein singulär
hypnotisches Kontinuum zu eigen, nachzuhören etwa auf [3][„Strumming
Music“] von 1974, eines der klassischen Alben Palestines, wenn der Begriff
hier erlaubt ist. Der mit Cognac gut präparierte Künstler lässt dort für
die Dauer von 45 Minuten das Haltepedal seines Bösendorfers gedrückt,
während er wieder und wieder zwei Noten hämmert und Überlagerungen
entstehen lässt.
Klingt irre, ist es auch und hat seine Fans bei Freunden des Schrägklangs
wie Nick Cave oder Thurston Moore gefunden. Ein glühender Verfechter von
„Strumming Music“ ist auch Michael Gira von den Dröhnrockern Swans.
Wenn Charlemagne Palestine seine Konzerte inmitten einer ganzen Armada von
Teddybären und Kuscheltieren absolviert, dann mag er als ein weiterer
Musiker mit einer Marotte gelten. Für Palestine ist das weit mehr, er sieht
die Stofffreunde als schamanistische Wiederspiegelungen der Seele.
„Bear Mitzvah in Meshugahland“ hieß die Ausstellung, die das Jewish Museum
New York 2017 mit den vielen Begleitern des Künstlers zeigte. Palestine ist
ein Kind Brooklyns, in der Ecke aufgewachsen, wo 1902 ein anderes jüdisches
Einwanderer-Paar den Teddybären erfunden hat.
Seine Performances muten an wie ein eskapistisches Kinderspiel. Doch wie
jedem Schalk ist es ihm dabei ernst.
26 Sep 2019
## LINKS
[1] https://vimeo.com/325538603
[2] https://www.field-notes.berlin/de/programm/35909/mario-bertoncini-memorial-…
[3] https://www.youtube.com/watch?v=bulibjyaQ0s
## AUTOREN
Robert Mießner
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