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# taz.de -- Wahlen in Sachsen und Brandenburg: „Heute müssen wir richtig kä…
> In Brandenburg und Sachsen ist Wahltag. Ein 28-Jähriger in Freital würde
> gern teilnehmen, darf aber nicht. In Görlitz sprechen CDU- wie
> AfD-Anhänger von „Schicksalswahl“.
Bild: Der Kampf gegen die AfD ist ihm ein persönliches Anliegen: CDU-Mann Mart…
Rund 5,5 Millionen Menschen waren Sonntag in Sachsen und Brandenburg
[1][zur Wahl] aufgerufen. Das ist zwar nicht einmal jeder zwölfte
Wahlberechtigte in Deutschland, trotzdem wird nach diesen Wahlen vieles
anders sein. In beiden Bundesländern waren [2][CDU] beziehungsweise
[3][SPD] Jahrzehnte quasi unangefochten an der Macht, jetzt büßen beide
Parteien viele Stimmen ein. Bei den [4][Grünen] übersetzt sich das schon
länger anhaltende Umfragehoch wohl in Regierungsmacht.
In manchen Regionen im Osten Sachsens haben linke und grüne Wähler*innen
gar in diesen Tagen darüber nachgedacht, mit der Erststimme Kandidat*innen
der lange so verachteten Union zu wählen, um AfD-Direktmandate zu
verhindern.
Unsere Reporter*innen waren am Wahlsonntag in unterschiedlichen Orten in
Brandenburg und Sachsen unterwegs. Sie haben mit den Menschen vor Ort
geredet, die Stimmung beschrieben. Vom Machtkampf zwischen AfD und CDU in
Görlitz bis zu einem kulinarischen Aktivismus in der Lausitz – im Kampf
gegen die Kohle. Lesen Sie selbst.
Aus Görlitz Das Schicksal entscheidet sich in einer strahlenden Stadt. Im
Zwielicht des Abends wirkt die Pracht von Görlitz, die Jugenstilportale,
die alten Kaufhäuser und der kathedralenartige Bahnhof zu riesig für die
Menschen hier, aber an einem Septembertag wie diesem, blauer Himmel, weiße
Wolkenhügel, da fällt Licht in alle Lücken und füllt sie aus. Eine
Schicksalswahl ist das hier heute, ganz im Osten Deutschlands, das sagen
einem hier insbesondere Menschen von der CDU und jene, die mit der AfD
sympathisieren. Hier liegt der Wahlkreis des sächsischen
Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, 1975 in Görlitz geboren, und die
AfD hat die Chance, ihn zu schlagen und das Direktmandat zu holen.
Das ist wichtig, weil es Kretschmers Position in seiner Partei schwächen
würde. Er wäre für manche CDUler, insbesondere für seine Gegner in der
Partei, dann einer, der nicht einmal im eigenen Wahlkreis gewinnen kann.
2017 hat Michael Kretschmar gegen einen Mann von der AfD sein
Bundestags-Direktmandat verloren.
Diesmal heißt der AfD-Mann Sebastian Wippel, 1982 in Görlitz geboren, ein
Polizist. Er arbeitet dort im Innendienst in Teilzeit, seit er in den
sächsischen Landtag eingezogen ist. Er trat im Sommer 2019 als Kandidat für
das Amt des Oberbürgermeisters an. Ein Bündnis aus linken Parteien, Grünen
und CDU unterstützte den Christdemokraten Octavian Ursu, der schließlich
mit 55,2 zu 44,8 Prozent [5][gewann]. Wir treffen uns um 12.30 Uhr vor dem
Joliot-Curie-Gymnasium, einem weißen Bau im Stil der Neorenaissance. Hier
ist Wippel früher zur Schule gegangen. Menschen, die sich noch an ihn
erinnern, sagen, er sei damals einer von zwei Rechtsradikalen an dem
Gymnasium gewesen.
Das regt ihn auf. Sebastian Wippel steht die ganze Zeit breitbeinig, wie
man es zum Beispiel beim Judo lernt, damit man nicht so leicht umgeworfen
wird. Er redet wie er steht. Ruhige, defensive, stabile Sätze, er greift
nicht an, er wartet auf den Angriff. Jetzt wiederholt er immer wieder das
Wort „rechtsradikal“, er schüttelt den Kopf, sagt dann: „Ich war nicht
rechtsradikal. Ich war vielleicht rechts oder patriotisch, aber ich war
kein Neonazi.“ Außerdem habe er sich verändert, sei reifer geworden. Wippel
sagt, jeder, der sich in Deutschland engagiere, sich hier an die Regeln
halte, der dürfe auch hierbleiben. „Der Dönerverkäufer, der uns gegenüber
wohnt, der gehört natürlich dazu, ich kenne einen syrischen Arzt, der
gehört natürlich auch dazu.“
Auf dem Platz vor der Schule hat Sebastian Wippel 2018 Karten verteilt. Es
war beim Zuckerfest der Muslime in der Stadt. Ihnen wurde darauf die
Heimreise nahegelegt. „Das Zuckerfest war eine Provokation der Linken hier.
Wir haben darauf mit einer positiven Botschaft reagiert.“ Man habe mit der
syrischen Botschaft zusammen einen Text aufgesetzt und die Leute gefragt,
ob sie nicht darüber nachgdenken wollten, nach Syrien zurückzugehen.
Die Berichte über die Folter von Rückkehrern unter der Assad-Regierung hält
er für Gerüchte. Ich frage ihn, wie er eigentlich dazu innerlich in der
Lage sei, traumatisierten Menschen eine solche Karte in die Hand zu
drücken. Er sagt, schon die Frage rege ihn auf. Er könne die Tränen der
Männer nicht ernst nehmen. Warum die Männer nicht bei ihren Frauen seien,
um sie zu beschützen? Warum sie nicht dortgeblieben seien und ihre Frauen
und Kinder geschickt hätten? Sebastian Wippel sagt, er sehe hier
„Feiglinge, die ihre Familien im Stich lassen und hier gut leben“.
Am Abend zuvor hat er vor ein paar hundert Menschen auf dem zentralen
Marienplatz in Görlitz gesprochen, der Landesvorsitzende war da,
Bundessprecher Jörg Meuthen auch. Es war für eine Schicksalswahl eine eher
müde Veranstaltung, kaum Applaus, die Redner drangen selten zum Publikum
durch. Wippel sagte, dass die Kirchen mit Millionen „nützliche Idioten“
finanzierten, die dann wiederum Kriminalität unterstützen würden. Über
Michael Kretschmer sagte Wippel am Samstagabend: „Er muss morgen abgewählt
werden.“ Die CDU müsse abgewählt werden. Die Christdemokraten waren, neben
einigen Verbalattacken auf linke Parteien, auch für die anderen Redner die
Hauptgegner. Auf einem Plakat stand „CDU/CSU, eine kriminelle
Organisation“.
Die CDU sehe sich in einer ungewohnten Rolle, sagt Martin Kulke, als er in
Richtung seines Wahllokales geht, ebenfalls eine Schule: „Früher konnten
wir einen Besenstiel hinstellen und der wurde gewählt. Heute müssen wir
richtig kämpfen.“ Er sagt aber, er genieße das. Der Kampf gegen die AfD sei
ihm ein persönliches Anliegen.
Kulke ist der stellvertretende Vorsitzende der Jungen Union in Görlitz, er
ist 35 und deshalb ist nächstes Jahr Schluss bei der JU. Er gehört, das
sagt er selbst, dem liberalen Flügel der CDU an. Er sagt, er sei ein Fan
von Angela Merkel und [6][Michael Kretschmer]. In die Partei eingetreten
ist er 2017, am Tag nachdem Kretschmer sein Direktmandat im Bundestag
verloren hat.
Martin Kulke besuchte mit Sebastian Wippel das Gymnasium, eine Stufe unter
ihm. Er erzählt, dass er damals Haare bis zum Kinn gehabt habe und in
weiten Baggypants herumgelaufen sei. Teil der Hip Hop-Szene sei er gewesen,
später dann mit Freunden zu House und Elektropartys gefahren. „Klar musste
ich damals vor Nazis weglaufen, es gab Schlägereien.“ Aber das sei gar
nicht seine hauptsächliche Motivation, um gegen die AfD zu kämpfen. Seine
Eltern und Großeltern hätten der DDR sehr kritisch gegenübergestanden. „Mir
ist sozusagen zu Hause ein Misstrauen gegen totalitäre Ansichten anerzogen
worden“, sagt Martin Kulke. Er ist einer von denen, die es gut finden, dass
Michael Kretschmer ausgeschlossen hat, [7][mit der AfD zusammenzuarbeiten].
Nur hat die CDU Kretschmer in seinem eigenen Wahlkreis düpiert. Am
Donnerstagabend haben die Görlitzer Stadtverordneten der CDU –
höchstwahrscheinlich, die Wahl war geheim – dabei geholfen, einen Mann in
den Stadtrat zu wählen, den die AfD vorgeschlagen hat. Nicht als
Stadtverordneten, aber als „sachkundiger Bürger“, eine Art Berater also.
Dieser Mann arbeitet im Justizvollzug, trat bei der letzten Kommunalwahl
für die AfD an, und auf seiner Facebookseite fanden sich bis vor kurzem
noch Posts wie „home defence low level“ und darunter ein Bild mit einem
Messer, einer Pistole, mehreren Magazinen und anderem Feuerwaffenzubehör.
Es gibt Hinweise, dass er mit der Identitären Bewegung sympathisiert.
Spricht man mit Linken und Grünen im Stadtrat, fühlen die sich böse
verschaukelt. Schließlich haben ihre Kandidat*innen vor der Stichwahl im
Sommer auf ein erneutes Antreten verzichtet, damit der CDU-Kandidat diese
Wahl gewinnt.
Kulke will dazu direkt nichts sagen, nicht die eigenen Leute im Stadtrat
angreifen. Er sagt stattdessen: „Ich erwarte von meiner Partei eine klare
Haltung zu einer Zusammenarbeit mit der AfD. Die Werte, für die die CDU
steht, sind aus meiner Sicht in keiner Art und Weise mit der AfD
vereinbar.“ Davon, wie die Wahl in Görlitz ausgeht, wird wohl auch
abhängen, was davon am Montag noch gilt. Aus der CDU in Dresden hört man
zwar, das Direktmandat für Michael Kretschmer solle in seiner Wichtigkeit
nicht überbewertet werden. Aber die AfD und innerparteiliche Gegner würden
eine Niederlage hier sicher ausnutzen.
[8][Daniel Schulz]
***
Aus Leipzig Während es in Dresden donnert und regnet, findet in Leipzig die
Sonne den Weg durch die Wolken. Es ist warm, aber nicht heiß. Laut Studien,
die sich mit der Wetterfühligkeit von Wählenden beschäftigen, sind das
ideale Bedingungen für eine hohe Beteiligung und mit Bedacht getroffene
Wahlentscheidungen.
Tatsächlich eine deutliche höhere Beteiligungen als bei der vergangenen
Landtagswahl zu verzeichnen. Um 14 Uhr haben bereits die Hälfte der
Wahlbeteiligten ihre Stimme abgegeben. 2014 waren es zur selben Zeit nur 28
Prozent. Und Leipzig gilt, gerade aufgrund seiner Subkulturen, Freiräume
und der hohen Beteiligung an linken Protesten als linker als der Rest des
Bundeslandes.
Kleintzschocher, 15:45. Der kleine Spätkaufcontainer am Leipziger Adler
macht an diesem Nachmittag ein gutes Geschäft. Die Schlange von Menschen,
die Bier oder Wein kaufen wollen, wird nicht kürzer. Er steht neben der
Adler Schule, einem Wahllokal. Durch den Knabeneingang des gelben
Backsteingebäudes gehen fast ausnahmslos junge Menschen.
Auf der anderen Seite betritt Ana-Cara Methmann den weiten Schulflur. In
den vergangenen Wochen hat sie als Sprecherin von #unteilbar Sachsen für
eine solidarische und freie Gesellschaft geworben, ein Ergebnis zeigte sich
vergangenen Samstag bei der Demonstration [9][in Dresden]. Damit habe sich
ihre Hoffnung, dass die Zivilgesellschaft näher zusammenrückt um ein
demokratisches Miteinander zu erreichen schon erfüllt. Die Frage bleibt,
wie lange der Aufwind anhalte.
Der Wahltag ändere nichts schlagartig, sagt Ana nachdem sie ihre Stimme
abgegeben hat. Der Prozess der Normalisierung der AfD, der Aufwind der
Rechten, sei längst am Laufen. Mit dieser Normalisierung fühlten sich
Menschen sicherer darin offen rassistisch zu sein und sie wird vermutlich
weitergehen. Das ist eine von vielen Ängsten, wie sie sagt.
In der Folge werden unmittelbare Veränderungen in der Förderung von
Demokratieprojekten und alternativen Jugendzentren sichtbar werden. Auch
wenn Leipzig als Insel im braunen Sumpf bekannt ist, wird es wird zunehmend
schwerer werden. Vor der Schule kommt ein Wind kommt auf. Mit ihm ein weiß
gekleideter Glatzkopf. Er läuft schwungvoll am Wahllokal vorbei und schlägt
gegen ein Straßenschild.Ana macht sich auf den Weg ins KUB, wo es heute
Abend einen #unteilbar Wahlabend geben wird. Party wäre das falsche Wort.
Sie lächelt schräg.
[10][Pia Stendera]
***
AUS FREITAL Im Südwesten Dresdens ist es sehr windig. Der Himmel zieht sich
an diesem Sonntagnachmittag zu, dunkelgraue Wolken legen sich über die
zuvor blaue Decke. Es sieht aus, als würde ein Sturm aufziehen. Direkt am
Platz des Friedens im sächsischen Freital liegt ein Wahlraum des
Wahlbezirks 9, neben dem Haupteingang des städtischen Kulturhauses.
Vereinzelt kommen hier die Wähler*innen an, schlendernd, die Hände in den
Hosentaschen, mit dem Regenschirm in der Hand, oder einen Trolli hinter
sich herziehend.
Mohammad Mohammad ist keiner von ihnen. Der 28-Jährige darf in Deutschland
nicht wählen. „Aber die Wahl betrifft mich trotzdem“, sagt er. Bei der
[11][#Unteilbar-Demo in Dresden] hat er deshalb gemeinsam mit einem Freund
eine Rede gehalten. Dass andere Menschen mit Migrationserfahrungen nicht an
Anti-AfD-Protesten teilnehmen wollen, weil sie „keinen Stress wollen“, ist
für ihn unverständlich: „Wir leben hier doch in einer Demokratie.“
2015 ist Mohammad aus Syrien geflohen, doch er ist kein Syrer. Weil sein
Großvater einst selbst aus Palästina nach Damaskus flüchtete, erhielten
auch Mohammads Vater und er selbst nie die syrische Staatsbürgerschaft.
Deshalb durfte Mohammad noch nie in seinem Leben an einer Wahl teilnehmen.
„Das ist mein Traum: einmal wählen zu gehen“, sagt er. In Deutschland müs…
er darauf noch mindestens acht Jahre warten. Bis dahin wolle er aber nicht
stillsitzen, erklärt er – sondern sich weiter gegen Rassismus und
Diskriminierung engagieren.
Eine Stunde später im Freitaler Stadtteil Burgk regnet es sanft, ein warmer
Sommerregen. In der Ferne hört man Donnergrollen. Der Freitaler
CDU-Stadtrat Candido Mahoche kommt im sonnengelben Fußballshirt und begrüßt
strahlend einen Mann, der auf einer Bank am Schloßcafé sitzt. „Das ist mein
politischer Gegner, Herr Brandau von der FDP“, erklärt er später. „Wir
streiten uns manchmal im Stadtrat, aber am Ende umarmen wir uns doch.“
[12][Mahoche] war schon am Vormittag wählen, jetzt will er gleich weiter zu
einem Fußballspiel der Männer, um zuzugucken. Der 61-Jährige macht sich in
Freital für Freizeitfußball stark und ist selbst Trainer. Abends um 18 Uhr
will er dann Zuhause sein und sich die ersten Hochrechnungen ansehen. „Ich
hoffe, dass die AfD nicht mehr Stimmen haben wird als die CDU“, sagt er,
und sieht dabei kurz etwas besorgt aus. Zur Wahlparty der CDU am Abend kann
der gebürtige Mosambikaner nicht gehen. Er muss arbeiten. „Die haben
bestimmt etwas zu feiern“, meint er und bedauert, dass er nicht dabei sein
kann. Aber als Braumeister müsse er eben manchmal die Spätschicht
übernehmen.
Mohammad und Mahoche haben schon in Fußballturnieren in Freital
gegeneinander gespielt. Nicht nur der Sport eint sie – beide äußern an
diesem Wahlsonntag auch den Wunsch, dass die sächsische CDU auf gar keinen
Fall eine Koalition mit der AfD eingeht.
[13][ Belinda Grasnick ]
***
Aus Pirna Durch die makellos renovierte Altstadt von Pirna flanieren am
Sonntagvormittag TouristInnen, bevor ein Gewitter sie in die Cafés und
Restaurants treibt. Die Sächsische Schweiz war einst Hochburg militanter
Nazi-Kameradschaften und der NPD. Heute ist die Zahl ihrer „Sachsenland
wählt Widerstand“-Plakate in der Stadt überschaubar. Das liegt an der AfD,
sagt Steffen Richter. Die habe die NPD verdrängt – und die Atmosphäre in
der Stadt nachhaltig verändert.
Der Sozialarbeiter ist Vorsitzender des Akubiz e.V. Der Verein betreibt
einen Infoladen direkt am historischen Marktplatz von Pirna. Im Fenster
hängen Plakate vom Pro Asyl und für den „Antifaschistischen Jugendkongress�…
in Chemnitz in Oktober.
Am Abend ist Richter aus dem Urlaub zurück gekommen, am Morgen zur Wahl
gegangen. Gleich will er aufbrechen nach Leipzig wo Chemie gegen
Lichtenberg spielt. Richter ist Fan des Regionalliga-Clubs. Abends will er
dann noch in Leipzig zur „Demo der Zuversicht“ gehen.
Mit dieser ist es so eine Sache. Einst hatten Rechte das Auto von Richter
und das seines Bruders angezündet. Danach besserte sich die Lage langsam.
„Wir waren in den letzten Jahren eher zuversichtlich“, sagt Richter. „Es
gab keine organisierte Neonazi-Szene, wir hatten das Gefühl, wir können
unsere Vereinsarbeit gut und störungsfrei organisieren.“ Der Akubiz e.V.
stellte Stolpersteine auf, lud KZ-Überlebende ein, fuhr mit Jugendlichen in
die Normandie, zur D-Day Gedenkfeier.
Doch das Jahr 2015 sei eine Zäsur gewesen, die er so nicht erwartet hätte,
sagt Richter. Einem deutschen Arzt, der Flüchtlingen in der Stadt geholfen
hätten, sei von den eigenen Nachbarn angedroht worden, ihn aufzuhängen,
erzählt er. Auch auf das Akubiz-Büro gab es einen Anschlag. In dieser
Erregungsspirale ist die AfD in Sachsen groß geworden. „Heute gehen die
Attacken nicht in erster Linie von Neonazis aus, die als solche optisch
erkennbar sind. Es ist auch das ältere Ehepaar sechzig-plus, das am
Nachmittag im Netto Migranten anspuckt.“
In vielen Städten in Sachsen gibt es Einrichtungen wie das Akubiz, die
demokratische, antifaschistische Jugendarbeit betreiben. Alle fürchten nun
stärkeren politischen Gegenwind. Das Akubiz sei noch vergleichsweise gut
dran, sagt Richter, weil es sich ausschließlich aus Spenden finanziere.
Dennoch hätten die Rechten es auf den Verein abgesehen.
In Pirna würden AfD, [14][Frauke Petrys Partei Die Blauen] und CDU im
Stadtrat teils gemeinsam stimmen. Pirna ist Petrys Wahlkreis. Die Blauen
hätten etwa gefordert, die Stadt Pirna solle keine Miete mehr für die
Akubiz-Räume bezahlen. „Das ist Nonsens, weil wir gar keine öffentlichen
Mittel bekommen,“ sagt Richter. „Aber es zeigt, welche Richtung das hier
nehmen wird.“
Anders als in den Jahren zuvor hätten die Parteien „tatsächlich intensiv
Wahlkampf gemacht“, sagt Richter. Es gab Fahrradtouren an der Elbe,
Kochshows und Grillabende, Toni Hofreiter, Dietmar Bartsch und andere
Bundespolitiker sind nach Pirna gekommen. Man habe gemerkt, dass sie die
Parteien die Wahl diesmal wirklich ernst nehmen, findet Richter.
[15][ Christian Jakob ]
***
Aus Cottbus Wenn Ahmad Albenny durch Cottbus läuft, zählt er manchmal im
Kopf durch bei den Leuten, denen er begegnet: 1, 2, 3, 4, einer von denen
wählt AfD. Er hat die Europawahl in diesem Jahr verfolgt und die
Brandenburger Kommunalwahlen, er weiß, wie in Cottbus gewählt wird: „Der
blaue Balken ist immer der größte, dann ist viel Platz, und dann kommen die
anderen.“
Albenny sitzt in einem Café am Cottbuser Altmarkt und trinkt Ananassaft. Im
Sommer 2015 kam er nach Deutschland, seit Herbst 2017 studiert er
Wirtschaftsingenieurwesen in Cottbus, vor ein paar Monaten hat er außerdem
begonnen, als Softwareentwickler für eine in Cottbus ansässige Firma zu
arbeiten. Die taz hat ihn schon [16][einmal getroffen], im Winter
2017/2018, als die Situation in der Stadt zu kippen drohte: An den
flüchtlingsfeindlichen Demonstrationen der Initiative „Zukunft Heimat“,
deren Vorsitzender Christoph Berndt heute auf Platz 2 der AfD-Landesliste
steht, nahmen damals regelmäßig mehrere tausend Menschen teil, ein
Messerangriff eines jugendlichen syrischen Flüchtlings gab den rechten
Mobilisierungen zusätzlich Aufwind.
Albenny wurde damals von seinen Eltern aus Damaskus angerufen, die von den
Auseinandersetzungen in Cottbus erfahren hatten und wissen wollten, ob er
hier noch sicher ist. Heute habe sich die Situation stabilisiert, sagt er,
es sei ruhiger geworden, die Stimmung weniger aufgeheizt. Unangenehme
Vorfälle erlebt er aber weiterhin ab und an. Neulich zum Beispiel habe ihn
eine ältere Frau in der Bahn beschimpft, scheiß Ausländer. „Ich habe so
getan, als würde ich kein Deutsch verstehen“, sagt Albenny, der fast
akzentfrei spricht.
Der 27-Jährige glaubt nicht, dass die Wahl viel ändern wird: „Wir wissen ja
auch jetzt schon, dass die AfD hier viele Anhänger hat“, sagt er. Dass die
Partei in den nächsten Jahren noch deutlich mehr Stimmenanteile
dazugewinnen könnte, glaubt er aber auch nicht: „Ich denke, dass ungefähr
25 Prozent die Grenze sind, die die AfD erreichen kann.“
Albennys wichtigstes Anliegen? „Man darf nicht verallgemeinern. Nicht alle
Flüchtlinge sind gleich, und nicht alle Brandenburger sind gleich.“ Albenny
ist ein sehr höflicher Mensch, aber wenn er ausführt, was er meint, kann er
eine leichte Frustration nicht ganz verbergen: Er hat in wenigen Monaten
Deutsch gelernt, ein Stipendium bekommen, er wird sein Studium in der
Regelzeit und mit guten Noten abschließen, hat bereits einen Job gefunden,
eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen und arbeitet nebenher
ehrenamtlich sowohl als Übersetzer für andere Flüchtlinge als auch in der
Erstsemester-Orientierungshilfe an seiner Uni. Aber wenn, wie im letzten
Winter, ein psychisch kranker Mann aus Syrien im 40 Kilometer entfernten
Senftenberg in der Ausländerbehörde randaliert, schauen manche Menschen in
Cottbus Albenny noch feindseliger an als sonst, sagt er.
Dennoch kann er sich vorstellen, auch noch für den Master hierzubleiben.
„Ich bewege mich in Cottbus immer zwischen Uni, Bibliothek,
Studentenwohnheim, meinem Arbeitsplatz, dem Fitnesscenter und Edeka“, sagt
er und lacht. An diesen Orten habe er keine Probleme, die Leute seien
aufgeschlossen. Trotzdem: Eines Tages wird er wohl aus Cottbus weggehen,
wahrscheinlich nach Bayern oder Baden-Württemberg, sagt er, weil es da gute
Möglichkeiten für Softwareentwickler gebe. Die Antwort auf die Frage, für
wen das wohl ein größerer Verlust sein wird, für Albenny oder die Stadt
Cottbus, fällt nicht schwer.
[17][ Malene Gürgen ]
***
Aus der Lausitz Sonntagmorgen, Sybille und Alexander Tetsch frühstücken in
der Tankstelle, sie trinken ihren Latte Macchiato aus Tassen bedruckt mit
Agip-Werbung. Sonst gebe es hier nichts, erklären sie, strukturschwache
Region eben. Seit 2014 lebt das Ehepaar in Proschim in der
brandenburgischen Lausitz. Ihr Haus steht nur 500 Meter von der
Abbruchkante des Braunkohle-Tagebaus Welzow-Süd entfernt. Trotzdem eröffnen
sie ein halbes Jahr nach ihrem Umzug das Restaurant „Schmeckerlein“. Um
Lebensqualität in das 310-Einwohner-Dorf und die Region zu bringen, wie sie
sagen. Ihre Zukunft aber ist ungewiss. Nächstes Jahr soll entschieden
werden, ob Proschim und damit auch Familie Tetsch ein Opfer der Bagger
werden. „Und wenn das passiert, werden wir nicht in Brandenburg bleiben“,
sagt Sybille Tetsch.
Das Ergebnis der Landtagswahl, sagen beide Tetschs, habe keinen Einfluss
mehr auf den Kohleabbau in der Lausitz. „Die Kohlelobby arbeitet mit jedem,
der gewählt wird, vollkommen egal, wer da sitzt.“ Trotzdem stehen sie heute
Morgen um halb neun schon im Wahlbüro. Warum? „Wir müssen verhindern, dass
die Ultrarechten an die Macht kommen.“ In den Prognosen liegt die AfD in
Brandenburg fast gleichauf mit der SPD. Und das liege auch daran, dass im
Wahlkampf versäumt worden ist, ein breites Bündnis gegen blau zu
organisieren, meint Alexander Tetsch. „Zwischen den Europawahlen im Mai
2019 und heute hätte es ein Fenster der Möglichkeit gegeben, sich gemeinsam
der AfD entgegenzustellen.“ Das aber hätten alle Parteien verpasst. Die
Politiker in Brandenburg denken viel zu kurzfristig. Sie seien
„Bedenkenträger ohne Visionen, die bremsen und an ihren Stühlen
festhalten“. Deswegen brauche es die Jugend mit Visionen, eine mutige
Zivilgesellschaft und außerparlamentarische Bewegungen mit langfristigen
Perspektiven.
Wenn die ersten Hochrechnungen öffentlich werden, wird Alexander Tetsch im
„Schmeckerlein“ vor dem Flammkuchenofen stehen, Sybille Tetsch wird
wahrscheinlich gerade Gäste bedienen. Sie werden die Prognosen verfolgen,
sind sie sich sicher. Der Ausgang der Wahl werde das Schicksal von Proschim
nicht verändern. Das muss die Zivilgesellschaft schon selber tun. „Aber wer
rettet eigentlich die Retter?“, fragen Sybille und Alexander Tetsch. Ihr
kulinarischer Kampf gegen die Braunkohle wird weitergehen, egal wie das
Wahlergebnis heute Abend aussehen wird.
[18][ Hanne Tijman ]
***
Aus Oranienburg In Oranienburg beginnt der [19][Wahlsonntag] geruhsam.
Morgens um halb neun schlendern ein paar Hundebesitzer*innen und
Rentnerpaare gen Wahllokal. Dass dieser 1. September 2019 das Ende einer
landespolitischen Ära bedeuten könnte, stellt sich in dieser
Spätsommeridylle nicht auf Anhieb dar.
Seit 1990 regiert in Brandenburg die [20][SPD] – wenn sie erneut die
Regierung stellen will, wird sie dafür mindestens zwei statt einen
Koalitionspartner brauchen. Das eigentlich Besondere an dieser Wahl ist
jedoch, dass in einem Stammland der Sozialdemokrat*innen erstmals die AfD
unter ihrem rechtsextremen Landeschef [21][Andreas Kalbitz] stärkste Partei
werden könnte. In den Umfragen liegen SPD und AfD nahezu gleichauf bei um
die 22 Prozent. Über der Idylle dieses warmen märkischen Morgens liegt also
der Schleier der Furcht um den gesellschaftlichen Frieden im Land. Aber
auch die Hoffnung auf die Jugend des Landes: Erstmals dürfen 51.000
Brandenburger*innen zwischen 16 und 18 Jahren ihren Landtag wählen.
Unter hundertjährigen Eichenbäumen geht es gen Wahllokal. Vor dem Haus
einer Ärztin hängen drei AfD-Plakate übereinander, davor parkt ein Kombi
mit FCK-AFD-Aufkleber. Der FDP-Kandidat hat sein Großplakat vorsichtshalber
gleich an den eigenen Gartenzaun gehängt; und vor dem Haus des
Grünen-Kandidaten steht sein Elektromobil.
Im Wahllkokal empfängt der Ortsvorsteher von der SPD jede*n Wähler*in mit
Handschlag. Ehrenamtliche Wahlhelferin ist unter anderen die gut gelaunte
Rentnerin, die zwanzig Jahre in der kirchlichen Behindertenschule
gearbeitet hat. Es ist noch ein kleines Kommen und wieder Gehen. In der
Wahlkabine ist man dann allein mit dem Wahlzettel und zwei Kulis. Kreuzchen
Erststimme, Kreuzchen Zweitstimme, Zettel falten, ab damit in die graue
Wahlurne. Umarmung für die Lehrerin, Handschlag für den Ortsvorsteher, rauf
aufs Rad und rein in diesen Wahlsonntag. Mach keinen Scheiß, Brandenburg!
[22][ Anja Maier ]
1 Sep 2019
## LINKS
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[18] /Hanne-Tijman/!a52203/
[19] /Schwerpunkt-Landtagswahl-2019-in-Brandenburg/!t5032810
[20] /SPD-vor-der-Landtagswahl-in-Brandenburg/!5616162
[21] /AfD-Spitzenkandidat-bei-Nazi-Demo/!5621963
[22] /Anja-Maier/!a47/
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Wochen lang durch verschiedene Städte und tun genau das: reden.
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