# taz.de -- Wahlen in Sachsen und Brandenburg: „Heute müssen wir richtig kä… | |
> In Brandenburg und Sachsen ist Wahltag. Ein 28-Jähriger in Freital würde | |
> gern teilnehmen, darf aber nicht. In Görlitz sprechen CDU- wie | |
> AfD-Anhänger von „Schicksalswahl“. | |
Bild: Der Kampf gegen die AfD ist ihm ein persönliches Anliegen: CDU-Mann Mart… | |
Rund 5,5 Millionen Menschen waren Sonntag in Sachsen und Brandenburg | |
[1][zur Wahl] aufgerufen. Das ist zwar nicht einmal jeder zwölfte | |
Wahlberechtigte in Deutschland, trotzdem wird nach diesen Wahlen vieles | |
anders sein. In beiden Bundesländern waren [2][CDU] beziehungsweise | |
[3][SPD] Jahrzehnte quasi unangefochten an der Macht, jetzt büßen beide | |
Parteien viele Stimmen ein. Bei den [4][Grünen] übersetzt sich das schon | |
länger anhaltende Umfragehoch wohl in Regierungsmacht. | |
In manchen Regionen im Osten Sachsens haben linke und grüne Wähler*innen | |
gar in diesen Tagen darüber nachgedacht, mit der Erststimme Kandidat*innen | |
der lange so verachteten Union zu wählen, um AfD-Direktmandate zu | |
verhindern. | |
Unsere Reporter*innen waren am Wahlsonntag in unterschiedlichen Orten in | |
Brandenburg und Sachsen unterwegs. Sie haben mit den Menschen vor Ort | |
geredet, die Stimmung beschrieben. Vom Machtkampf zwischen AfD und CDU in | |
Görlitz bis zu einem kulinarischen Aktivismus in der Lausitz – im Kampf | |
gegen die Kohle. Lesen Sie selbst. | |
Aus Görlitz Das Schicksal entscheidet sich in einer strahlenden Stadt. Im | |
Zwielicht des Abends wirkt die Pracht von Görlitz, die Jugenstilportale, | |
die alten Kaufhäuser und der kathedralenartige Bahnhof zu riesig für die | |
Menschen hier, aber an einem Septembertag wie diesem, blauer Himmel, weiße | |
Wolkenhügel, da fällt Licht in alle Lücken und füllt sie aus. Eine | |
Schicksalswahl ist das hier heute, ganz im Osten Deutschlands, das sagen | |
einem hier insbesondere Menschen von der CDU und jene, die mit der AfD | |
sympathisieren. Hier liegt der Wahlkreis des sächsischen | |
Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, 1975 in Görlitz geboren, und die | |
AfD hat die Chance, ihn zu schlagen und das Direktmandat zu holen. | |
Das ist wichtig, weil es Kretschmers Position in seiner Partei schwächen | |
würde. Er wäre für manche CDUler, insbesondere für seine Gegner in der | |
Partei, dann einer, der nicht einmal im eigenen Wahlkreis gewinnen kann. | |
2017 hat Michael Kretschmar gegen einen Mann von der AfD sein | |
Bundestags-Direktmandat verloren. | |
Diesmal heißt der AfD-Mann Sebastian Wippel, 1982 in Görlitz geboren, ein | |
Polizist. Er arbeitet dort im Innendienst in Teilzeit, seit er in den | |
sächsischen Landtag eingezogen ist. Er trat im Sommer 2019 als Kandidat für | |
das Amt des Oberbürgermeisters an. Ein Bündnis aus linken Parteien, Grünen | |
und CDU unterstützte den Christdemokraten Octavian Ursu, der schließlich | |
mit 55,2 zu 44,8 Prozent [5][gewann]. Wir treffen uns um 12.30 Uhr vor dem | |
Joliot-Curie-Gymnasium, einem weißen Bau im Stil der Neorenaissance. Hier | |
ist Wippel früher zur Schule gegangen. Menschen, die sich noch an ihn | |
erinnern, sagen, er sei damals einer von zwei Rechtsradikalen an dem | |
Gymnasium gewesen. | |
Das regt ihn auf. Sebastian Wippel steht die ganze Zeit breitbeinig, wie | |
man es zum Beispiel beim Judo lernt, damit man nicht so leicht umgeworfen | |
wird. Er redet wie er steht. Ruhige, defensive, stabile Sätze, er greift | |
nicht an, er wartet auf den Angriff. Jetzt wiederholt er immer wieder das | |
Wort „rechtsradikal“, er schüttelt den Kopf, sagt dann: „Ich war nicht | |
rechtsradikal. Ich war vielleicht rechts oder patriotisch, aber ich war | |
kein Neonazi.“ Außerdem habe er sich verändert, sei reifer geworden. Wippel | |
sagt, jeder, der sich in Deutschland engagiere, sich hier an die Regeln | |
halte, der dürfe auch hierbleiben. „Der Dönerverkäufer, der uns gegenüber | |
wohnt, der gehört natürlich dazu, ich kenne einen syrischen Arzt, der | |
gehört natürlich auch dazu.“ | |
Auf dem Platz vor der Schule hat Sebastian Wippel 2018 Karten verteilt. Es | |
war beim Zuckerfest der Muslime in der Stadt. Ihnen wurde darauf die | |
Heimreise nahegelegt. „Das Zuckerfest war eine Provokation der Linken hier. | |
Wir haben darauf mit einer positiven Botschaft reagiert.“ Man habe mit der | |
syrischen Botschaft zusammen einen Text aufgesetzt und die Leute gefragt, | |
ob sie nicht darüber nachgdenken wollten, nach Syrien zurückzugehen. | |
Die Berichte über die Folter von Rückkehrern unter der Assad-Regierung hält | |
er für Gerüchte. Ich frage ihn, wie er eigentlich dazu innerlich in der | |
Lage sei, traumatisierten Menschen eine solche Karte in die Hand zu | |
drücken. Er sagt, schon die Frage rege ihn auf. Er könne die Tränen der | |
Männer nicht ernst nehmen. Warum die Männer nicht bei ihren Frauen seien, | |
um sie zu beschützen? Warum sie nicht dortgeblieben seien und ihre Frauen | |
und Kinder geschickt hätten? Sebastian Wippel sagt, er sehe hier | |
„Feiglinge, die ihre Familien im Stich lassen und hier gut leben“. | |
Am Abend zuvor hat er vor ein paar hundert Menschen auf dem zentralen | |
Marienplatz in Görlitz gesprochen, der Landesvorsitzende war da, | |
Bundessprecher Jörg Meuthen auch. Es war für eine Schicksalswahl eine eher | |
müde Veranstaltung, kaum Applaus, die Redner drangen selten zum Publikum | |
durch. Wippel sagte, dass die Kirchen mit Millionen „nützliche Idioten“ | |
finanzierten, die dann wiederum Kriminalität unterstützen würden. Über | |
Michael Kretschmer sagte Wippel am Samstagabend: „Er muss morgen abgewählt | |
werden.“ Die CDU müsse abgewählt werden. Die Christdemokraten waren, neben | |
einigen Verbalattacken auf linke Parteien, auch für die anderen Redner die | |
Hauptgegner. Auf einem Plakat stand „CDU/CSU, eine kriminelle | |
Organisation“. | |
Die CDU sehe sich in einer ungewohnten Rolle, sagt Martin Kulke, als er in | |
Richtung seines Wahllokales geht, ebenfalls eine Schule: „Früher konnten | |
wir einen Besenstiel hinstellen und der wurde gewählt. Heute müssen wir | |
richtig kämpfen.“ Er sagt aber, er genieße das. Der Kampf gegen die AfD sei | |
ihm ein persönliches Anliegen. | |
Kulke ist der stellvertretende Vorsitzende der Jungen Union in Görlitz, er | |
ist 35 und deshalb ist nächstes Jahr Schluss bei der JU. Er gehört, das | |
sagt er selbst, dem liberalen Flügel der CDU an. Er sagt, er sei ein Fan | |
von Angela Merkel und [6][Michael Kretschmer]. In die Partei eingetreten | |
ist er 2017, am Tag nachdem Kretschmer sein Direktmandat im Bundestag | |
verloren hat. | |
Martin Kulke besuchte mit Sebastian Wippel das Gymnasium, eine Stufe unter | |
ihm. Er erzählt, dass er damals Haare bis zum Kinn gehabt habe und in | |
weiten Baggypants herumgelaufen sei. Teil der Hip Hop-Szene sei er gewesen, | |
später dann mit Freunden zu House und Elektropartys gefahren. „Klar musste | |
ich damals vor Nazis weglaufen, es gab Schlägereien.“ Aber das sei gar | |
nicht seine hauptsächliche Motivation, um gegen die AfD zu kämpfen. Seine | |
Eltern und Großeltern hätten der DDR sehr kritisch gegenübergestanden. „Mir | |
ist sozusagen zu Hause ein Misstrauen gegen totalitäre Ansichten anerzogen | |
worden“, sagt Martin Kulke. Er ist einer von denen, die es gut finden, dass | |
Michael Kretschmer ausgeschlossen hat, [7][mit der AfD zusammenzuarbeiten]. | |
Nur hat die CDU Kretschmer in seinem eigenen Wahlkreis düpiert. Am | |
Donnerstagabend haben die Görlitzer Stadtverordneten der CDU – | |
höchstwahrscheinlich, die Wahl war geheim – dabei geholfen, einen Mann in | |
den Stadtrat zu wählen, den die AfD vorgeschlagen hat. Nicht als | |
Stadtverordneten, aber als „sachkundiger Bürger“, eine Art Berater also. | |
Dieser Mann arbeitet im Justizvollzug, trat bei der letzten Kommunalwahl | |
für die AfD an, und auf seiner Facebookseite fanden sich bis vor kurzem | |
noch Posts wie „home defence low level“ und darunter ein Bild mit einem | |
Messer, einer Pistole, mehreren Magazinen und anderem Feuerwaffenzubehör. | |
Es gibt Hinweise, dass er mit der Identitären Bewegung sympathisiert. | |
Spricht man mit Linken und Grünen im Stadtrat, fühlen die sich böse | |
verschaukelt. Schließlich haben ihre Kandidat*innen vor der Stichwahl im | |
Sommer auf ein erneutes Antreten verzichtet, damit der CDU-Kandidat diese | |
Wahl gewinnt. | |
Kulke will dazu direkt nichts sagen, nicht die eigenen Leute im Stadtrat | |
angreifen. Er sagt stattdessen: „Ich erwarte von meiner Partei eine klare | |
Haltung zu einer Zusammenarbeit mit der AfD. Die Werte, für die die CDU | |
steht, sind aus meiner Sicht in keiner Art und Weise mit der AfD | |
vereinbar.“ Davon, wie die Wahl in Görlitz ausgeht, wird wohl auch | |
abhängen, was davon am Montag noch gilt. Aus der CDU in Dresden hört man | |
zwar, das Direktmandat für Michael Kretschmer solle in seiner Wichtigkeit | |
nicht überbewertet werden. Aber die AfD und innerparteiliche Gegner würden | |
eine Niederlage hier sicher ausnutzen. | |
[8][Daniel Schulz] | |
*** | |
Aus Leipzig Während es in Dresden donnert und regnet, findet in Leipzig die | |
Sonne den Weg durch die Wolken. Es ist warm, aber nicht heiß. Laut Studien, | |
die sich mit der Wetterfühligkeit von Wählenden beschäftigen, sind das | |
ideale Bedingungen für eine hohe Beteiligung und mit Bedacht getroffene | |
Wahlentscheidungen. | |
Tatsächlich eine deutliche höhere Beteiligungen als bei der vergangenen | |
Landtagswahl zu verzeichnen. Um 14 Uhr haben bereits die Hälfte der | |
Wahlbeteiligten ihre Stimme abgegeben. 2014 waren es zur selben Zeit nur 28 | |
Prozent. Und Leipzig gilt, gerade aufgrund seiner Subkulturen, Freiräume | |
und der hohen Beteiligung an linken Protesten als linker als der Rest des | |
Bundeslandes. | |
Kleintzschocher, 15:45. Der kleine Spätkaufcontainer am Leipziger Adler | |
macht an diesem Nachmittag ein gutes Geschäft. Die Schlange von Menschen, | |
die Bier oder Wein kaufen wollen, wird nicht kürzer. Er steht neben der | |
Adler Schule, einem Wahllokal. Durch den Knabeneingang des gelben | |
Backsteingebäudes gehen fast ausnahmslos junge Menschen. | |
Auf der anderen Seite betritt Ana-Cara Methmann den weiten Schulflur. In | |
den vergangenen Wochen hat sie als Sprecherin von #unteilbar Sachsen für | |
eine solidarische und freie Gesellschaft geworben, ein Ergebnis zeigte sich | |
vergangenen Samstag bei der Demonstration [9][in Dresden]. Damit habe sich | |
ihre Hoffnung, dass die Zivilgesellschaft näher zusammenrückt um ein | |
demokratisches Miteinander zu erreichen schon erfüllt. Die Frage bleibt, | |
wie lange der Aufwind anhalte. | |
Der Wahltag ändere nichts schlagartig, sagt Ana nachdem sie ihre Stimme | |
abgegeben hat. Der Prozess der Normalisierung der AfD, der Aufwind der | |
Rechten, sei längst am Laufen. Mit dieser Normalisierung fühlten sich | |
Menschen sicherer darin offen rassistisch zu sein und sie wird vermutlich | |
weitergehen. Das ist eine von vielen Ängsten, wie sie sagt. | |
In der Folge werden unmittelbare Veränderungen in der Förderung von | |
Demokratieprojekten und alternativen Jugendzentren sichtbar werden. Auch | |
wenn Leipzig als Insel im braunen Sumpf bekannt ist, wird es wird zunehmend | |
schwerer werden. Vor der Schule kommt ein Wind kommt auf. Mit ihm ein weiß | |
gekleideter Glatzkopf. Er läuft schwungvoll am Wahllokal vorbei und schlägt | |
gegen ein Straßenschild.Ana macht sich auf den Weg ins KUB, wo es heute | |
Abend einen #unteilbar Wahlabend geben wird. Party wäre das falsche Wort. | |
Sie lächelt schräg. | |
[10][Pia Stendera] | |
*** | |
AUS FREITAL Im Südwesten Dresdens ist es sehr windig. Der Himmel zieht sich | |
an diesem Sonntagnachmittag zu, dunkelgraue Wolken legen sich über die | |
zuvor blaue Decke. Es sieht aus, als würde ein Sturm aufziehen. Direkt am | |
Platz des Friedens im sächsischen Freital liegt ein Wahlraum des | |
Wahlbezirks 9, neben dem Haupteingang des städtischen Kulturhauses. | |
Vereinzelt kommen hier die Wähler*innen an, schlendernd, die Hände in den | |
Hosentaschen, mit dem Regenschirm in der Hand, oder einen Trolli hinter | |
sich herziehend. | |
Mohammad Mohammad ist keiner von ihnen. Der 28-Jährige darf in Deutschland | |
nicht wählen. „Aber die Wahl betrifft mich trotzdem“, sagt er. Bei der | |
[11][#Unteilbar-Demo in Dresden] hat er deshalb gemeinsam mit einem Freund | |
eine Rede gehalten. Dass andere Menschen mit Migrationserfahrungen nicht an | |
Anti-AfD-Protesten teilnehmen wollen, weil sie „keinen Stress wollen“, ist | |
für ihn unverständlich: „Wir leben hier doch in einer Demokratie.“ | |
2015 ist Mohammad aus Syrien geflohen, doch er ist kein Syrer. Weil sein | |
Großvater einst selbst aus Palästina nach Damaskus flüchtete, erhielten | |
auch Mohammads Vater und er selbst nie die syrische Staatsbürgerschaft. | |
Deshalb durfte Mohammad noch nie in seinem Leben an einer Wahl teilnehmen. | |
„Das ist mein Traum: einmal wählen zu gehen“, sagt er. In Deutschland müs… | |
er darauf noch mindestens acht Jahre warten. Bis dahin wolle er aber nicht | |
stillsitzen, erklärt er – sondern sich weiter gegen Rassismus und | |
Diskriminierung engagieren. | |
Eine Stunde später im Freitaler Stadtteil Burgk regnet es sanft, ein warmer | |
Sommerregen. In der Ferne hört man Donnergrollen. Der Freitaler | |
CDU-Stadtrat Candido Mahoche kommt im sonnengelben Fußballshirt und begrüßt | |
strahlend einen Mann, der auf einer Bank am Schloßcafé sitzt. „Das ist mein | |
politischer Gegner, Herr Brandau von der FDP“, erklärt er später. „Wir | |
streiten uns manchmal im Stadtrat, aber am Ende umarmen wir uns doch.“ | |
[12][Mahoche] war schon am Vormittag wählen, jetzt will er gleich weiter zu | |
einem Fußballspiel der Männer, um zuzugucken. Der 61-Jährige macht sich in | |
Freital für Freizeitfußball stark und ist selbst Trainer. Abends um 18 Uhr | |
will er dann Zuhause sein und sich die ersten Hochrechnungen ansehen. „Ich | |
hoffe, dass die AfD nicht mehr Stimmen haben wird als die CDU“, sagt er, | |
und sieht dabei kurz etwas besorgt aus. Zur Wahlparty der CDU am Abend kann | |
der gebürtige Mosambikaner nicht gehen. Er muss arbeiten. „Die haben | |
bestimmt etwas zu feiern“, meint er und bedauert, dass er nicht dabei sein | |
kann. Aber als Braumeister müsse er eben manchmal die Spätschicht | |
übernehmen. | |
Mohammad und Mahoche haben schon in Fußballturnieren in Freital | |
gegeneinander gespielt. Nicht nur der Sport eint sie – beide äußern an | |
diesem Wahlsonntag auch den Wunsch, dass die sächsische CDU auf gar keinen | |
Fall eine Koalition mit der AfD eingeht. | |
[13][ Belinda Grasnick ] | |
*** | |
Aus Pirna Durch die makellos renovierte Altstadt von Pirna flanieren am | |
Sonntagvormittag TouristInnen, bevor ein Gewitter sie in die Cafés und | |
Restaurants treibt. Die Sächsische Schweiz war einst Hochburg militanter | |
Nazi-Kameradschaften und der NPD. Heute ist die Zahl ihrer „Sachsenland | |
wählt Widerstand“-Plakate in der Stadt überschaubar. Das liegt an der AfD, | |
sagt Steffen Richter. Die habe die NPD verdrängt – und die Atmosphäre in | |
der Stadt nachhaltig verändert. | |
Der Sozialarbeiter ist Vorsitzender des Akubiz e.V. Der Verein betreibt | |
einen Infoladen direkt am historischen Marktplatz von Pirna. Im Fenster | |
hängen Plakate vom Pro Asyl und für den „Antifaschistischen Jugendkongress�… | |
in Chemnitz in Oktober. | |
Am Abend ist Richter aus dem Urlaub zurück gekommen, am Morgen zur Wahl | |
gegangen. Gleich will er aufbrechen nach Leipzig wo Chemie gegen | |
Lichtenberg spielt. Richter ist Fan des Regionalliga-Clubs. Abends will er | |
dann noch in Leipzig zur „Demo der Zuversicht“ gehen. | |
Mit dieser ist es so eine Sache. Einst hatten Rechte das Auto von Richter | |
und das seines Bruders angezündet. Danach besserte sich die Lage langsam. | |
„Wir waren in den letzten Jahren eher zuversichtlich“, sagt Richter. „Es | |
gab keine organisierte Neonazi-Szene, wir hatten das Gefühl, wir können | |
unsere Vereinsarbeit gut und störungsfrei organisieren.“ Der Akubiz e.V. | |
stellte Stolpersteine auf, lud KZ-Überlebende ein, fuhr mit Jugendlichen in | |
die Normandie, zur D-Day Gedenkfeier. | |
Doch das Jahr 2015 sei eine Zäsur gewesen, die er so nicht erwartet hätte, | |
sagt Richter. Einem deutschen Arzt, der Flüchtlingen in der Stadt geholfen | |
hätten, sei von den eigenen Nachbarn angedroht worden, ihn aufzuhängen, | |
erzählt er. Auch auf das Akubiz-Büro gab es einen Anschlag. In dieser | |
Erregungsspirale ist die AfD in Sachsen groß geworden. „Heute gehen die | |
Attacken nicht in erster Linie von Neonazis aus, die als solche optisch | |
erkennbar sind. Es ist auch das ältere Ehepaar sechzig-plus, das am | |
Nachmittag im Netto Migranten anspuckt.“ | |
In vielen Städten in Sachsen gibt es Einrichtungen wie das Akubiz, die | |
demokratische, antifaschistische Jugendarbeit betreiben. Alle fürchten nun | |
stärkeren politischen Gegenwind. Das Akubiz sei noch vergleichsweise gut | |
dran, sagt Richter, weil es sich ausschließlich aus Spenden finanziere. | |
Dennoch hätten die Rechten es auf den Verein abgesehen. | |
In Pirna würden AfD, [14][Frauke Petrys Partei Die Blauen] und CDU im | |
Stadtrat teils gemeinsam stimmen. Pirna ist Petrys Wahlkreis. Die Blauen | |
hätten etwa gefordert, die Stadt Pirna solle keine Miete mehr für die | |
Akubiz-Räume bezahlen. „Das ist Nonsens, weil wir gar keine öffentlichen | |
Mittel bekommen,“ sagt Richter. „Aber es zeigt, welche Richtung das hier | |
nehmen wird.“ | |
Anders als in den Jahren zuvor hätten die Parteien „tatsächlich intensiv | |
Wahlkampf gemacht“, sagt Richter. Es gab Fahrradtouren an der Elbe, | |
Kochshows und Grillabende, Toni Hofreiter, Dietmar Bartsch und andere | |
Bundespolitiker sind nach Pirna gekommen. Man habe gemerkt, dass sie die | |
Parteien die Wahl diesmal wirklich ernst nehmen, findet Richter. | |
[15][ Christian Jakob ] | |
*** | |
Aus Cottbus Wenn Ahmad Albenny durch Cottbus läuft, zählt er manchmal im | |
Kopf durch bei den Leuten, denen er begegnet: 1, 2, 3, 4, einer von denen | |
wählt AfD. Er hat die Europawahl in diesem Jahr verfolgt und die | |
Brandenburger Kommunalwahlen, er weiß, wie in Cottbus gewählt wird: „Der | |
blaue Balken ist immer der größte, dann ist viel Platz, und dann kommen die | |
anderen.“ | |
Albenny sitzt in einem Café am Cottbuser Altmarkt und trinkt Ananassaft. Im | |
Sommer 2015 kam er nach Deutschland, seit Herbst 2017 studiert er | |
Wirtschaftsingenieurwesen in Cottbus, vor ein paar Monaten hat er außerdem | |
begonnen, als Softwareentwickler für eine in Cottbus ansässige Firma zu | |
arbeiten. Die taz hat ihn schon [16][einmal getroffen], im Winter | |
2017/2018, als die Situation in der Stadt zu kippen drohte: An den | |
flüchtlingsfeindlichen Demonstrationen der Initiative „Zukunft Heimat“, | |
deren Vorsitzender Christoph Berndt heute auf Platz 2 der AfD-Landesliste | |
steht, nahmen damals regelmäßig mehrere tausend Menschen teil, ein | |
Messerangriff eines jugendlichen syrischen Flüchtlings gab den rechten | |
Mobilisierungen zusätzlich Aufwind. | |
Albenny wurde damals von seinen Eltern aus Damaskus angerufen, die von den | |
Auseinandersetzungen in Cottbus erfahren hatten und wissen wollten, ob er | |
hier noch sicher ist. Heute habe sich die Situation stabilisiert, sagt er, | |
es sei ruhiger geworden, die Stimmung weniger aufgeheizt. Unangenehme | |
Vorfälle erlebt er aber weiterhin ab und an. Neulich zum Beispiel habe ihn | |
eine ältere Frau in der Bahn beschimpft, scheiß Ausländer. „Ich habe so | |
getan, als würde ich kein Deutsch verstehen“, sagt Albenny, der fast | |
akzentfrei spricht. | |
Der 27-Jährige glaubt nicht, dass die Wahl viel ändern wird: „Wir wissen ja | |
auch jetzt schon, dass die AfD hier viele Anhänger hat“, sagt er. Dass die | |
Partei in den nächsten Jahren noch deutlich mehr Stimmenanteile | |
dazugewinnen könnte, glaubt er aber auch nicht: „Ich denke, dass ungefähr | |
25 Prozent die Grenze sind, die die AfD erreichen kann.“ | |
Albennys wichtigstes Anliegen? „Man darf nicht verallgemeinern. Nicht alle | |
Flüchtlinge sind gleich, und nicht alle Brandenburger sind gleich.“ Albenny | |
ist ein sehr höflicher Mensch, aber wenn er ausführt, was er meint, kann er | |
eine leichte Frustration nicht ganz verbergen: Er hat in wenigen Monaten | |
Deutsch gelernt, ein Stipendium bekommen, er wird sein Studium in der | |
Regelzeit und mit guten Noten abschließen, hat bereits einen Job gefunden, | |
eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen und arbeitet nebenher | |
ehrenamtlich sowohl als Übersetzer für andere Flüchtlinge als auch in der | |
Erstsemester-Orientierungshilfe an seiner Uni. Aber wenn, wie im letzten | |
Winter, ein psychisch kranker Mann aus Syrien im 40 Kilometer entfernten | |
Senftenberg in der Ausländerbehörde randaliert, schauen manche Menschen in | |
Cottbus Albenny noch feindseliger an als sonst, sagt er. | |
Dennoch kann er sich vorstellen, auch noch für den Master hierzubleiben. | |
„Ich bewege mich in Cottbus immer zwischen Uni, Bibliothek, | |
Studentenwohnheim, meinem Arbeitsplatz, dem Fitnesscenter und Edeka“, sagt | |
er und lacht. An diesen Orten habe er keine Probleme, die Leute seien | |
aufgeschlossen. Trotzdem: Eines Tages wird er wohl aus Cottbus weggehen, | |
wahrscheinlich nach Bayern oder Baden-Württemberg, sagt er, weil es da gute | |
Möglichkeiten für Softwareentwickler gebe. Die Antwort auf die Frage, für | |
wen das wohl ein größerer Verlust sein wird, für Albenny oder die Stadt | |
Cottbus, fällt nicht schwer. | |
[17][ Malene Gürgen ] | |
*** | |
Aus der Lausitz Sonntagmorgen, Sybille und Alexander Tetsch frühstücken in | |
der Tankstelle, sie trinken ihren Latte Macchiato aus Tassen bedruckt mit | |
Agip-Werbung. Sonst gebe es hier nichts, erklären sie, strukturschwache | |
Region eben. Seit 2014 lebt das Ehepaar in Proschim in der | |
brandenburgischen Lausitz. Ihr Haus steht nur 500 Meter von der | |
Abbruchkante des Braunkohle-Tagebaus Welzow-Süd entfernt. Trotzdem eröffnen | |
sie ein halbes Jahr nach ihrem Umzug das Restaurant „Schmeckerlein“. Um | |
Lebensqualität in das 310-Einwohner-Dorf und die Region zu bringen, wie sie | |
sagen. Ihre Zukunft aber ist ungewiss. Nächstes Jahr soll entschieden | |
werden, ob Proschim und damit auch Familie Tetsch ein Opfer der Bagger | |
werden. „Und wenn das passiert, werden wir nicht in Brandenburg bleiben“, | |
sagt Sybille Tetsch. | |
Das Ergebnis der Landtagswahl, sagen beide Tetschs, habe keinen Einfluss | |
mehr auf den Kohleabbau in der Lausitz. „Die Kohlelobby arbeitet mit jedem, | |
der gewählt wird, vollkommen egal, wer da sitzt.“ Trotzdem stehen sie heute | |
Morgen um halb neun schon im Wahlbüro. Warum? „Wir müssen verhindern, dass | |
die Ultrarechten an die Macht kommen.“ In den Prognosen liegt die AfD in | |
Brandenburg fast gleichauf mit der SPD. Und das liege auch daran, dass im | |
Wahlkampf versäumt worden ist, ein breites Bündnis gegen blau zu | |
organisieren, meint Alexander Tetsch. „Zwischen den Europawahlen im Mai | |
2019 und heute hätte es ein Fenster der Möglichkeit gegeben, sich gemeinsam | |
der AfD entgegenzustellen.“ Das aber hätten alle Parteien verpasst. Die | |
Politiker in Brandenburg denken viel zu kurzfristig. Sie seien | |
„Bedenkenträger ohne Visionen, die bremsen und an ihren Stühlen | |
festhalten“. Deswegen brauche es die Jugend mit Visionen, eine mutige | |
Zivilgesellschaft und außerparlamentarische Bewegungen mit langfristigen | |
Perspektiven. | |
Wenn die ersten Hochrechnungen öffentlich werden, wird Alexander Tetsch im | |
„Schmeckerlein“ vor dem Flammkuchenofen stehen, Sybille Tetsch wird | |
wahrscheinlich gerade Gäste bedienen. Sie werden die Prognosen verfolgen, | |
sind sie sich sicher. Der Ausgang der Wahl werde das Schicksal von Proschim | |
nicht verändern. Das muss die Zivilgesellschaft schon selber tun. „Aber wer | |
rettet eigentlich die Retter?“, fragen Sybille und Alexander Tetsch. Ihr | |
kulinarischer Kampf gegen die Braunkohle wird weitergehen, egal wie das | |
Wahlergebnis heute Abend aussehen wird. | |
[18][ Hanne Tijman ] | |
*** | |
Aus Oranienburg In Oranienburg beginnt der [19][Wahlsonntag] geruhsam. | |
Morgens um halb neun schlendern ein paar Hundebesitzer*innen und | |
Rentnerpaare gen Wahllokal. Dass dieser 1. September 2019 das Ende einer | |
landespolitischen Ära bedeuten könnte, stellt sich in dieser | |
Spätsommeridylle nicht auf Anhieb dar. | |
Seit 1990 regiert in Brandenburg die [20][SPD] – wenn sie erneut die | |
Regierung stellen will, wird sie dafür mindestens zwei statt einen | |
Koalitionspartner brauchen. Das eigentlich Besondere an dieser Wahl ist | |
jedoch, dass in einem Stammland der Sozialdemokrat*innen erstmals die AfD | |
unter ihrem rechtsextremen Landeschef [21][Andreas Kalbitz] stärkste Partei | |
werden könnte. In den Umfragen liegen SPD und AfD nahezu gleichauf bei um | |
die 22 Prozent. Über der Idylle dieses warmen märkischen Morgens liegt also | |
der Schleier der Furcht um den gesellschaftlichen Frieden im Land. Aber | |
auch die Hoffnung auf die Jugend des Landes: Erstmals dürfen 51.000 | |
Brandenburger*innen zwischen 16 und 18 Jahren ihren Landtag wählen. | |
Unter hundertjährigen Eichenbäumen geht es gen Wahllokal. Vor dem Haus | |
einer Ärztin hängen drei AfD-Plakate übereinander, davor parkt ein Kombi | |
mit FCK-AFD-Aufkleber. Der FDP-Kandidat hat sein Großplakat vorsichtshalber | |
gleich an den eigenen Gartenzaun gehängt; und vor dem Haus des | |
Grünen-Kandidaten steht sein Elektromobil. | |
Im Wahllkokal empfängt der Ortsvorsteher von der SPD jede*n Wähler*in mit | |
Handschlag. Ehrenamtliche Wahlhelferin ist unter anderen die gut gelaunte | |
Rentnerin, die zwanzig Jahre in der kirchlichen Behindertenschule | |
gearbeitet hat. Es ist noch ein kleines Kommen und wieder Gehen. In der | |
Wahlkabine ist man dann allein mit dem Wahlzettel und zwei Kulis. Kreuzchen | |
Erststimme, Kreuzchen Zweitstimme, Zettel falten, ab damit in die graue | |
Wahlurne. Umarmung für die Lehrerin, Handschlag für den Ortsvorsteher, rauf | |
aufs Rad und rein in diesen Wahlsonntag. Mach keinen Scheiß, Brandenburg! | |
[22][ Anja Maier ] | |
1 Sep 2019 | |
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[16] /Linke-und-rechte-Demonstrationen/!5479626 | |
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Sächsische Spitzengrüne Katja Meier: „Ausloten, was da geht“ | |
Die Prognosen für Sachsens Grüne stehen gut. Werden sie mit der CDU | |
koalieren? Katja Meier über das Interesse an grünen Themen und mögliche | |
Verhandlungen. | |
Wahlkampfabschluss in Sachsen: The final countdown | |
48 Stunden vor der Landtagswahl geben CDU, SPD, Linke, Grüne und AfD noch | |
einmal alles. Die einen mit mehr, die anderen mit weniger Publikum. | |
Rechte versuchen Protest in Dresden: Wie ein Tag der offenen Moschee | |
Die Rechten sind kurz vor der Landtagswahl in Sachsen hungrig nach | |
Symbolen. Also wollen sie in Dresden gegen den Bau einer Moschee | |
demonstrieren. | |
Initiative vor der Landtagswahl: Real Talk in Brandenburg | |
Aktivist*innen der Initiative „Brandenburg, wir möchten reden!“ fahren zwei | |
Wochen lang durch verschiedene Städte und tun genau das: reden. |