| # taz.de -- Wahlen in Sachsen und Brandenburg: „Heute müssen wir richtig kä… | |
| > In Brandenburg und Sachsen ist Wahltag. Ein 28-Jähriger in Freital würde | |
| > gern teilnehmen, darf aber nicht. In Görlitz sprechen CDU- wie | |
| > AfD-Anhänger von „Schicksalswahl“. | |
| Bild: Der Kampf gegen die AfD ist ihm ein persönliches Anliegen: CDU-Mann Mart… | |
| Rund 5,5 Millionen Menschen waren Sonntag in Sachsen und Brandenburg | |
| [1][zur Wahl] aufgerufen. Das ist zwar nicht einmal jeder zwölfte | |
| Wahlberechtigte in Deutschland, trotzdem wird nach diesen Wahlen vieles | |
| anders sein. In beiden Bundesländern waren [2][CDU] beziehungsweise | |
| [3][SPD] Jahrzehnte quasi unangefochten an der Macht, jetzt büßen beide | |
| Parteien viele Stimmen ein. Bei den [4][Grünen] übersetzt sich das schon | |
| länger anhaltende Umfragehoch wohl in Regierungsmacht. | |
| In manchen Regionen im Osten Sachsens haben linke und grüne Wähler*innen | |
| gar in diesen Tagen darüber nachgedacht, mit der Erststimme Kandidat*innen | |
| der lange so verachteten Union zu wählen, um AfD-Direktmandate zu | |
| verhindern. | |
| Unsere Reporter*innen waren am Wahlsonntag in unterschiedlichen Orten in | |
| Brandenburg und Sachsen unterwegs. Sie haben mit den Menschen vor Ort | |
| geredet, die Stimmung beschrieben. Vom Machtkampf zwischen AfD und CDU in | |
| Görlitz bis zu einem kulinarischen Aktivismus in der Lausitz – im Kampf | |
| gegen die Kohle. Lesen Sie selbst. | |
| Aus Görlitz Das Schicksal entscheidet sich in einer strahlenden Stadt. Im | |
| Zwielicht des Abends wirkt die Pracht von Görlitz, die Jugenstilportale, | |
| die alten Kaufhäuser und der kathedralenartige Bahnhof zu riesig für die | |
| Menschen hier, aber an einem Septembertag wie diesem, blauer Himmel, weiße | |
| Wolkenhügel, da fällt Licht in alle Lücken und füllt sie aus. Eine | |
| Schicksalswahl ist das hier heute, ganz im Osten Deutschlands, das sagen | |
| einem hier insbesondere Menschen von der CDU und jene, die mit der AfD | |
| sympathisieren. Hier liegt der Wahlkreis des sächsischen | |
| Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, 1975 in Görlitz geboren, und die | |
| AfD hat die Chance, ihn zu schlagen und das Direktmandat zu holen. | |
| Das ist wichtig, weil es Kretschmers Position in seiner Partei schwächen | |
| würde. Er wäre für manche CDUler, insbesondere für seine Gegner in der | |
| Partei, dann einer, der nicht einmal im eigenen Wahlkreis gewinnen kann. | |
| 2017 hat Michael Kretschmar gegen einen Mann von der AfD sein | |
| Bundestags-Direktmandat verloren. | |
| Diesmal heißt der AfD-Mann Sebastian Wippel, 1982 in Görlitz geboren, ein | |
| Polizist. Er arbeitet dort im Innendienst in Teilzeit, seit er in den | |
| sächsischen Landtag eingezogen ist. Er trat im Sommer 2019 als Kandidat für | |
| das Amt des Oberbürgermeisters an. Ein Bündnis aus linken Parteien, Grünen | |
| und CDU unterstützte den Christdemokraten Octavian Ursu, der schließlich | |
| mit 55,2 zu 44,8 Prozent [5][gewann]. Wir treffen uns um 12.30 Uhr vor dem | |
| Joliot-Curie-Gymnasium, einem weißen Bau im Stil der Neorenaissance. Hier | |
| ist Wippel früher zur Schule gegangen. Menschen, die sich noch an ihn | |
| erinnern, sagen, er sei damals einer von zwei Rechtsradikalen an dem | |
| Gymnasium gewesen. | |
| Das regt ihn auf. Sebastian Wippel steht die ganze Zeit breitbeinig, wie | |
| man es zum Beispiel beim Judo lernt, damit man nicht so leicht umgeworfen | |
| wird. Er redet wie er steht. Ruhige, defensive, stabile Sätze, er greift | |
| nicht an, er wartet auf den Angriff. Jetzt wiederholt er immer wieder das | |
| Wort „rechtsradikal“, er schüttelt den Kopf, sagt dann: „Ich war nicht | |
| rechtsradikal. Ich war vielleicht rechts oder patriotisch, aber ich war | |
| kein Neonazi.“ Außerdem habe er sich verändert, sei reifer geworden. Wippel | |
| sagt, jeder, der sich in Deutschland engagiere, sich hier an die Regeln | |
| halte, der dürfe auch hierbleiben. „Der Dönerverkäufer, der uns gegenüber | |
| wohnt, der gehört natürlich dazu, ich kenne einen syrischen Arzt, der | |
| gehört natürlich auch dazu.“ | |
| Auf dem Platz vor der Schule hat Sebastian Wippel 2018 Karten verteilt. Es | |
| war beim Zuckerfest der Muslime in der Stadt. Ihnen wurde darauf die | |
| Heimreise nahegelegt. „Das Zuckerfest war eine Provokation der Linken hier. | |
| Wir haben darauf mit einer positiven Botschaft reagiert.“ Man habe mit der | |
| syrischen Botschaft zusammen einen Text aufgesetzt und die Leute gefragt, | |
| ob sie nicht darüber nachgdenken wollten, nach Syrien zurückzugehen. | |
| Die Berichte über die Folter von Rückkehrern unter der Assad-Regierung hält | |
| er für Gerüchte. Ich frage ihn, wie er eigentlich dazu innerlich in der | |
| Lage sei, traumatisierten Menschen eine solche Karte in die Hand zu | |
| drücken. Er sagt, schon die Frage rege ihn auf. Er könne die Tränen der | |
| Männer nicht ernst nehmen. Warum die Männer nicht bei ihren Frauen seien, | |
| um sie zu beschützen? Warum sie nicht dortgeblieben seien und ihre Frauen | |
| und Kinder geschickt hätten? Sebastian Wippel sagt, er sehe hier | |
| „Feiglinge, die ihre Familien im Stich lassen und hier gut leben“. | |
| Am Abend zuvor hat er vor ein paar hundert Menschen auf dem zentralen | |
| Marienplatz in Görlitz gesprochen, der Landesvorsitzende war da, | |
| Bundessprecher Jörg Meuthen auch. Es war für eine Schicksalswahl eine eher | |
| müde Veranstaltung, kaum Applaus, die Redner drangen selten zum Publikum | |
| durch. Wippel sagte, dass die Kirchen mit Millionen „nützliche Idioten“ | |
| finanzierten, die dann wiederum Kriminalität unterstützen würden. Über | |
| Michael Kretschmer sagte Wippel am Samstagabend: „Er muss morgen abgewählt | |
| werden.“ Die CDU müsse abgewählt werden. Die Christdemokraten waren, neben | |
| einigen Verbalattacken auf linke Parteien, auch für die anderen Redner die | |
| Hauptgegner. Auf einem Plakat stand „CDU/CSU, eine kriminelle | |
| Organisation“. | |
| Die CDU sehe sich in einer ungewohnten Rolle, sagt Martin Kulke, als er in | |
| Richtung seines Wahllokales geht, ebenfalls eine Schule: „Früher konnten | |
| wir einen Besenstiel hinstellen und der wurde gewählt. Heute müssen wir | |
| richtig kämpfen.“ Er sagt aber, er genieße das. Der Kampf gegen die AfD sei | |
| ihm ein persönliches Anliegen. | |
| Kulke ist der stellvertretende Vorsitzende der Jungen Union in Görlitz, er | |
| ist 35 und deshalb ist nächstes Jahr Schluss bei der JU. Er gehört, das | |
| sagt er selbst, dem liberalen Flügel der CDU an. Er sagt, er sei ein Fan | |
| von Angela Merkel und [6][Michael Kretschmer]. In die Partei eingetreten | |
| ist er 2017, am Tag nachdem Kretschmer sein Direktmandat im Bundestag | |
| verloren hat. | |
| Martin Kulke besuchte mit Sebastian Wippel das Gymnasium, eine Stufe unter | |
| ihm. Er erzählt, dass er damals Haare bis zum Kinn gehabt habe und in | |
| weiten Baggypants herumgelaufen sei. Teil der Hip Hop-Szene sei er gewesen, | |
| später dann mit Freunden zu House und Elektropartys gefahren. „Klar musste | |
| ich damals vor Nazis weglaufen, es gab Schlägereien.“ Aber das sei gar | |
| nicht seine hauptsächliche Motivation, um gegen die AfD zu kämpfen. Seine | |
| Eltern und Großeltern hätten der DDR sehr kritisch gegenübergestanden. „Mir | |
| ist sozusagen zu Hause ein Misstrauen gegen totalitäre Ansichten anerzogen | |
| worden“, sagt Martin Kulke. Er ist einer von denen, die es gut finden, dass | |
| Michael Kretschmer ausgeschlossen hat, [7][mit der AfD zusammenzuarbeiten]. | |
| Nur hat die CDU Kretschmer in seinem eigenen Wahlkreis düpiert. Am | |
| Donnerstagabend haben die Görlitzer Stadtverordneten der CDU – | |
| höchstwahrscheinlich, die Wahl war geheim – dabei geholfen, einen Mann in | |
| den Stadtrat zu wählen, den die AfD vorgeschlagen hat. Nicht als | |
| Stadtverordneten, aber als „sachkundiger Bürger“, eine Art Berater also. | |
| Dieser Mann arbeitet im Justizvollzug, trat bei der letzten Kommunalwahl | |
| für die AfD an, und auf seiner Facebookseite fanden sich bis vor kurzem | |
| noch Posts wie „home defence low level“ und darunter ein Bild mit einem | |
| Messer, einer Pistole, mehreren Magazinen und anderem Feuerwaffenzubehör. | |
| Es gibt Hinweise, dass er mit der Identitären Bewegung sympathisiert. | |
| Spricht man mit Linken und Grünen im Stadtrat, fühlen die sich böse | |
| verschaukelt. Schließlich haben ihre Kandidat*innen vor der Stichwahl im | |
| Sommer auf ein erneutes Antreten verzichtet, damit der CDU-Kandidat diese | |
| Wahl gewinnt. | |
| Kulke will dazu direkt nichts sagen, nicht die eigenen Leute im Stadtrat | |
| angreifen. Er sagt stattdessen: „Ich erwarte von meiner Partei eine klare | |
| Haltung zu einer Zusammenarbeit mit der AfD. Die Werte, für die die CDU | |
| steht, sind aus meiner Sicht in keiner Art und Weise mit der AfD | |
| vereinbar.“ Davon, wie die Wahl in Görlitz ausgeht, wird wohl auch | |
| abhängen, was davon am Montag noch gilt. Aus der CDU in Dresden hört man | |
| zwar, das Direktmandat für Michael Kretschmer solle in seiner Wichtigkeit | |
| nicht überbewertet werden. Aber die AfD und innerparteiliche Gegner würden | |
| eine Niederlage hier sicher ausnutzen. | |
| [8][Daniel Schulz] | |
| *** | |
| Aus Leipzig Während es in Dresden donnert und regnet, findet in Leipzig die | |
| Sonne den Weg durch die Wolken. Es ist warm, aber nicht heiß. Laut Studien, | |
| die sich mit der Wetterfühligkeit von Wählenden beschäftigen, sind das | |
| ideale Bedingungen für eine hohe Beteiligung und mit Bedacht getroffene | |
| Wahlentscheidungen. | |
| Tatsächlich eine deutliche höhere Beteiligungen als bei der vergangenen | |
| Landtagswahl zu verzeichnen. Um 14 Uhr haben bereits die Hälfte der | |
| Wahlbeteiligten ihre Stimme abgegeben. 2014 waren es zur selben Zeit nur 28 | |
| Prozent. Und Leipzig gilt, gerade aufgrund seiner Subkulturen, Freiräume | |
| und der hohen Beteiligung an linken Protesten als linker als der Rest des | |
| Bundeslandes. | |
| Kleintzschocher, 15:45. Der kleine Spätkaufcontainer am Leipziger Adler | |
| macht an diesem Nachmittag ein gutes Geschäft. Die Schlange von Menschen, | |
| die Bier oder Wein kaufen wollen, wird nicht kürzer. Er steht neben der | |
| Adler Schule, einem Wahllokal. Durch den Knabeneingang des gelben | |
| Backsteingebäudes gehen fast ausnahmslos junge Menschen. | |
| Auf der anderen Seite betritt Ana-Cara Methmann den weiten Schulflur. In | |
| den vergangenen Wochen hat sie als Sprecherin von #unteilbar Sachsen für | |
| eine solidarische und freie Gesellschaft geworben, ein Ergebnis zeigte sich | |
| vergangenen Samstag bei der Demonstration [9][in Dresden]. Damit habe sich | |
| ihre Hoffnung, dass die Zivilgesellschaft näher zusammenrückt um ein | |
| demokratisches Miteinander zu erreichen schon erfüllt. Die Frage bleibt, | |
| wie lange der Aufwind anhalte. | |
| Der Wahltag ändere nichts schlagartig, sagt Ana nachdem sie ihre Stimme | |
| abgegeben hat. Der Prozess der Normalisierung der AfD, der Aufwind der | |
| Rechten, sei längst am Laufen. Mit dieser Normalisierung fühlten sich | |
| Menschen sicherer darin offen rassistisch zu sein und sie wird vermutlich | |
| weitergehen. Das ist eine von vielen Ängsten, wie sie sagt. | |
| In der Folge werden unmittelbare Veränderungen in der Förderung von | |
| Demokratieprojekten und alternativen Jugendzentren sichtbar werden. Auch | |
| wenn Leipzig als Insel im braunen Sumpf bekannt ist, wird es wird zunehmend | |
| schwerer werden. Vor der Schule kommt ein Wind kommt auf. Mit ihm ein weiß | |
| gekleideter Glatzkopf. Er läuft schwungvoll am Wahllokal vorbei und schlägt | |
| gegen ein Straßenschild.Ana macht sich auf den Weg ins KUB, wo es heute | |
| Abend einen #unteilbar Wahlabend geben wird. Party wäre das falsche Wort. | |
| Sie lächelt schräg. | |
| [10][Pia Stendera] | |
| *** | |
| AUS FREITAL Im Südwesten Dresdens ist es sehr windig. Der Himmel zieht sich | |
| an diesem Sonntagnachmittag zu, dunkelgraue Wolken legen sich über die | |
| zuvor blaue Decke. Es sieht aus, als würde ein Sturm aufziehen. Direkt am | |
| Platz des Friedens im sächsischen Freital liegt ein Wahlraum des | |
| Wahlbezirks 9, neben dem Haupteingang des städtischen Kulturhauses. | |
| Vereinzelt kommen hier die Wähler*innen an, schlendernd, die Hände in den | |
| Hosentaschen, mit dem Regenschirm in der Hand, oder einen Trolli hinter | |
| sich herziehend. | |
| Mohammad Mohammad ist keiner von ihnen. Der 28-Jährige darf in Deutschland | |
| nicht wählen. „Aber die Wahl betrifft mich trotzdem“, sagt er. Bei der | |
| [11][#Unteilbar-Demo in Dresden] hat er deshalb gemeinsam mit einem Freund | |
| eine Rede gehalten. Dass andere Menschen mit Migrationserfahrungen nicht an | |
| Anti-AfD-Protesten teilnehmen wollen, weil sie „keinen Stress wollen“, ist | |
| für ihn unverständlich: „Wir leben hier doch in einer Demokratie.“ | |
| 2015 ist Mohammad aus Syrien geflohen, doch er ist kein Syrer. Weil sein | |
| Großvater einst selbst aus Palästina nach Damaskus flüchtete, erhielten | |
| auch Mohammads Vater und er selbst nie die syrische Staatsbürgerschaft. | |
| Deshalb durfte Mohammad noch nie in seinem Leben an einer Wahl teilnehmen. | |
| „Das ist mein Traum: einmal wählen zu gehen“, sagt er. In Deutschland müs… | |
| er darauf noch mindestens acht Jahre warten. Bis dahin wolle er aber nicht | |
| stillsitzen, erklärt er – sondern sich weiter gegen Rassismus und | |
| Diskriminierung engagieren. | |
| Eine Stunde später im Freitaler Stadtteil Burgk regnet es sanft, ein warmer | |
| Sommerregen. In der Ferne hört man Donnergrollen. Der Freitaler | |
| CDU-Stadtrat Candido Mahoche kommt im sonnengelben Fußballshirt und begrüßt | |
| strahlend einen Mann, der auf einer Bank am Schloßcafé sitzt. „Das ist mein | |
| politischer Gegner, Herr Brandau von der FDP“, erklärt er später. „Wir | |
| streiten uns manchmal im Stadtrat, aber am Ende umarmen wir uns doch.“ | |
| [12][Mahoche] war schon am Vormittag wählen, jetzt will er gleich weiter zu | |
| einem Fußballspiel der Männer, um zuzugucken. Der 61-Jährige macht sich in | |
| Freital für Freizeitfußball stark und ist selbst Trainer. Abends um 18 Uhr | |
| will er dann Zuhause sein und sich die ersten Hochrechnungen ansehen. „Ich | |
| hoffe, dass die AfD nicht mehr Stimmen haben wird als die CDU“, sagt er, | |
| und sieht dabei kurz etwas besorgt aus. Zur Wahlparty der CDU am Abend kann | |
| der gebürtige Mosambikaner nicht gehen. Er muss arbeiten. „Die haben | |
| bestimmt etwas zu feiern“, meint er und bedauert, dass er nicht dabei sein | |
| kann. Aber als Braumeister müsse er eben manchmal die Spätschicht | |
| übernehmen. | |
| Mohammad und Mahoche haben schon in Fußballturnieren in Freital | |
| gegeneinander gespielt. Nicht nur der Sport eint sie – beide äußern an | |
| diesem Wahlsonntag auch den Wunsch, dass die sächsische CDU auf gar keinen | |
| Fall eine Koalition mit der AfD eingeht. | |
| [13][ Belinda Grasnick ] | |
| *** | |
| Aus Pirna Durch die makellos renovierte Altstadt von Pirna flanieren am | |
| Sonntagvormittag TouristInnen, bevor ein Gewitter sie in die Cafés und | |
| Restaurants treibt. Die Sächsische Schweiz war einst Hochburg militanter | |
| Nazi-Kameradschaften und der NPD. Heute ist die Zahl ihrer „Sachsenland | |
| wählt Widerstand“-Plakate in der Stadt überschaubar. Das liegt an der AfD, | |
| sagt Steffen Richter. Die habe die NPD verdrängt – und die Atmosphäre in | |
| der Stadt nachhaltig verändert. | |
| Der Sozialarbeiter ist Vorsitzender des Akubiz e.V. Der Verein betreibt | |
| einen Infoladen direkt am historischen Marktplatz von Pirna. Im Fenster | |
| hängen Plakate vom Pro Asyl und für den „Antifaschistischen Jugendkongress�… | |
| in Chemnitz in Oktober. | |
| Am Abend ist Richter aus dem Urlaub zurück gekommen, am Morgen zur Wahl | |
| gegangen. Gleich will er aufbrechen nach Leipzig wo Chemie gegen | |
| Lichtenberg spielt. Richter ist Fan des Regionalliga-Clubs. Abends will er | |
| dann noch in Leipzig zur „Demo der Zuversicht“ gehen. | |
| Mit dieser ist es so eine Sache. Einst hatten Rechte das Auto von Richter | |
| und das seines Bruders angezündet. Danach besserte sich die Lage langsam. | |
| „Wir waren in den letzten Jahren eher zuversichtlich“, sagt Richter. „Es | |
| gab keine organisierte Neonazi-Szene, wir hatten das Gefühl, wir können | |
| unsere Vereinsarbeit gut und störungsfrei organisieren.“ Der Akubiz e.V. | |
| stellte Stolpersteine auf, lud KZ-Überlebende ein, fuhr mit Jugendlichen in | |
| die Normandie, zur D-Day Gedenkfeier. | |
| Doch das Jahr 2015 sei eine Zäsur gewesen, die er so nicht erwartet hätte, | |
| sagt Richter. Einem deutschen Arzt, der Flüchtlingen in der Stadt geholfen | |
| hätten, sei von den eigenen Nachbarn angedroht worden, ihn aufzuhängen, | |
| erzählt er. Auch auf das Akubiz-Büro gab es einen Anschlag. In dieser | |
| Erregungsspirale ist die AfD in Sachsen groß geworden. „Heute gehen die | |
| Attacken nicht in erster Linie von Neonazis aus, die als solche optisch | |
| erkennbar sind. Es ist auch das ältere Ehepaar sechzig-plus, das am | |
| Nachmittag im Netto Migranten anspuckt.“ | |
| In vielen Städten in Sachsen gibt es Einrichtungen wie das Akubiz, die | |
| demokratische, antifaschistische Jugendarbeit betreiben. Alle fürchten nun | |
| stärkeren politischen Gegenwind. Das Akubiz sei noch vergleichsweise gut | |
| dran, sagt Richter, weil es sich ausschließlich aus Spenden finanziere. | |
| Dennoch hätten die Rechten es auf den Verein abgesehen. | |
| In Pirna würden AfD, [14][Frauke Petrys Partei Die Blauen] und CDU im | |
| Stadtrat teils gemeinsam stimmen. Pirna ist Petrys Wahlkreis. Die Blauen | |
| hätten etwa gefordert, die Stadt Pirna solle keine Miete mehr für die | |
| Akubiz-Räume bezahlen. „Das ist Nonsens, weil wir gar keine öffentlichen | |
| Mittel bekommen,“ sagt Richter. „Aber es zeigt, welche Richtung das hier | |
| nehmen wird.“ | |
| Anders als in den Jahren zuvor hätten die Parteien „tatsächlich intensiv | |
| Wahlkampf gemacht“, sagt Richter. Es gab Fahrradtouren an der Elbe, | |
| Kochshows und Grillabende, Toni Hofreiter, Dietmar Bartsch und andere | |
| Bundespolitiker sind nach Pirna gekommen. Man habe gemerkt, dass sie die | |
| Parteien die Wahl diesmal wirklich ernst nehmen, findet Richter. | |
| [15][ Christian Jakob ] | |
| *** | |
| Aus Cottbus Wenn Ahmad Albenny durch Cottbus läuft, zählt er manchmal im | |
| Kopf durch bei den Leuten, denen er begegnet: 1, 2, 3, 4, einer von denen | |
| wählt AfD. Er hat die Europawahl in diesem Jahr verfolgt und die | |
| Brandenburger Kommunalwahlen, er weiß, wie in Cottbus gewählt wird: „Der | |
| blaue Balken ist immer der größte, dann ist viel Platz, und dann kommen die | |
| anderen.“ | |
| Albenny sitzt in einem Café am Cottbuser Altmarkt und trinkt Ananassaft. Im | |
| Sommer 2015 kam er nach Deutschland, seit Herbst 2017 studiert er | |
| Wirtschaftsingenieurwesen in Cottbus, vor ein paar Monaten hat er außerdem | |
| begonnen, als Softwareentwickler für eine in Cottbus ansässige Firma zu | |
| arbeiten. Die taz hat ihn schon [16][einmal getroffen], im Winter | |
| 2017/2018, als die Situation in der Stadt zu kippen drohte: An den | |
| flüchtlingsfeindlichen Demonstrationen der Initiative „Zukunft Heimat“, | |
| deren Vorsitzender Christoph Berndt heute auf Platz 2 der AfD-Landesliste | |
| steht, nahmen damals regelmäßig mehrere tausend Menschen teil, ein | |
| Messerangriff eines jugendlichen syrischen Flüchtlings gab den rechten | |
| Mobilisierungen zusätzlich Aufwind. | |
| Albenny wurde damals von seinen Eltern aus Damaskus angerufen, die von den | |
| Auseinandersetzungen in Cottbus erfahren hatten und wissen wollten, ob er | |
| hier noch sicher ist. Heute habe sich die Situation stabilisiert, sagt er, | |
| es sei ruhiger geworden, die Stimmung weniger aufgeheizt. Unangenehme | |
| Vorfälle erlebt er aber weiterhin ab und an. Neulich zum Beispiel habe ihn | |
| eine ältere Frau in der Bahn beschimpft, scheiß Ausländer. „Ich habe so | |
| getan, als würde ich kein Deutsch verstehen“, sagt Albenny, der fast | |
| akzentfrei spricht. | |
| Der 27-Jährige glaubt nicht, dass die Wahl viel ändern wird: „Wir wissen ja | |
| auch jetzt schon, dass die AfD hier viele Anhänger hat“, sagt er. Dass die | |
| Partei in den nächsten Jahren noch deutlich mehr Stimmenanteile | |
| dazugewinnen könnte, glaubt er aber auch nicht: „Ich denke, dass ungefähr | |
| 25 Prozent die Grenze sind, die die AfD erreichen kann.“ | |
| Albennys wichtigstes Anliegen? „Man darf nicht verallgemeinern. Nicht alle | |
| Flüchtlinge sind gleich, und nicht alle Brandenburger sind gleich.“ Albenny | |
| ist ein sehr höflicher Mensch, aber wenn er ausführt, was er meint, kann er | |
| eine leichte Frustration nicht ganz verbergen: Er hat in wenigen Monaten | |
| Deutsch gelernt, ein Stipendium bekommen, er wird sein Studium in der | |
| Regelzeit und mit guten Noten abschließen, hat bereits einen Job gefunden, | |
| eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen und arbeitet nebenher | |
| ehrenamtlich sowohl als Übersetzer für andere Flüchtlinge als auch in der | |
| Erstsemester-Orientierungshilfe an seiner Uni. Aber wenn, wie im letzten | |
| Winter, ein psychisch kranker Mann aus Syrien im 40 Kilometer entfernten | |
| Senftenberg in der Ausländerbehörde randaliert, schauen manche Menschen in | |
| Cottbus Albenny noch feindseliger an als sonst, sagt er. | |
| Dennoch kann er sich vorstellen, auch noch für den Master hierzubleiben. | |
| „Ich bewege mich in Cottbus immer zwischen Uni, Bibliothek, | |
| Studentenwohnheim, meinem Arbeitsplatz, dem Fitnesscenter und Edeka“, sagt | |
| er und lacht. An diesen Orten habe er keine Probleme, die Leute seien | |
| aufgeschlossen. Trotzdem: Eines Tages wird er wohl aus Cottbus weggehen, | |
| wahrscheinlich nach Bayern oder Baden-Württemberg, sagt er, weil es da gute | |
| Möglichkeiten für Softwareentwickler gebe. Die Antwort auf die Frage, für | |
| wen das wohl ein größerer Verlust sein wird, für Albenny oder die Stadt | |
| Cottbus, fällt nicht schwer. | |
| [17][ Malene Gürgen ] | |
| *** | |
| Aus der Lausitz Sonntagmorgen, Sybille und Alexander Tetsch frühstücken in | |
| der Tankstelle, sie trinken ihren Latte Macchiato aus Tassen bedruckt mit | |
| Agip-Werbung. Sonst gebe es hier nichts, erklären sie, strukturschwache | |
| Region eben. Seit 2014 lebt das Ehepaar in Proschim in der | |
| brandenburgischen Lausitz. Ihr Haus steht nur 500 Meter von der | |
| Abbruchkante des Braunkohle-Tagebaus Welzow-Süd entfernt. Trotzdem eröffnen | |
| sie ein halbes Jahr nach ihrem Umzug das Restaurant „Schmeckerlein“. Um | |
| Lebensqualität in das 310-Einwohner-Dorf und die Region zu bringen, wie sie | |
| sagen. Ihre Zukunft aber ist ungewiss. Nächstes Jahr soll entschieden | |
| werden, ob Proschim und damit auch Familie Tetsch ein Opfer der Bagger | |
| werden. „Und wenn das passiert, werden wir nicht in Brandenburg bleiben“, | |
| sagt Sybille Tetsch. | |
| Das Ergebnis der Landtagswahl, sagen beide Tetschs, habe keinen Einfluss | |
| mehr auf den Kohleabbau in der Lausitz. „Die Kohlelobby arbeitet mit jedem, | |
| der gewählt wird, vollkommen egal, wer da sitzt.“ Trotzdem stehen sie heute | |
| Morgen um halb neun schon im Wahlbüro. Warum? „Wir müssen verhindern, dass | |
| die Ultrarechten an die Macht kommen.“ In den Prognosen liegt die AfD in | |
| Brandenburg fast gleichauf mit der SPD. Und das liege auch daran, dass im | |
| Wahlkampf versäumt worden ist, ein breites Bündnis gegen blau zu | |
| organisieren, meint Alexander Tetsch. „Zwischen den Europawahlen im Mai | |
| 2019 und heute hätte es ein Fenster der Möglichkeit gegeben, sich gemeinsam | |
| der AfD entgegenzustellen.“ Das aber hätten alle Parteien verpasst. Die | |
| Politiker in Brandenburg denken viel zu kurzfristig. Sie seien | |
| „Bedenkenträger ohne Visionen, die bremsen und an ihren Stühlen | |
| festhalten“. Deswegen brauche es die Jugend mit Visionen, eine mutige | |
| Zivilgesellschaft und außerparlamentarische Bewegungen mit langfristigen | |
| Perspektiven. | |
| Wenn die ersten Hochrechnungen öffentlich werden, wird Alexander Tetsch im | |
| „Schmeckerlein“ vor dem Flammkuchenofen stehen, Sybille Tetsch wird | |
| wahrscheinlich gerade Gäste bedienen. Sie werden die Prognosen verfolgen, | |
| sind sie sich sicher. Der Ausgang der Wahl werde das Schicksal von Proschim | |
| nicht verändern. Das muss die Zivilgesellschaft schon selber tun. „Aber wer | |
| rettet eigentlich die Retter?“, fragen Sybille und Alexander Tetsch. Ihr | |
| kulinarischer Kampf gegen die Braunkohle wird weitergehen, egal wie das | |
| Wahlergebnis heute Abend aussehen wird. | |
| [18][ Hanne Tijman ] | |
| *** | |
| Aus Oranienburg In Oranienburg beginnt der [19][Wahlsonntag] geruhsam. | |
| Morgens um halb neun schlendern ein paar Hundebesitzer*innen und | |
| Rentnerpaare gen Wahllokal. Dass dieser 1. September 2019 das Ende einer | |
| landespolitischen Ära bedeuten könnte, stellt sich in dieser | |
| Spätsommeridylle nicht auf Anhieb dar. | |
| Seit 1990 regiert in Brandenburg die [20][SPD] – wenn sie erneut die | |
| Regierung stellen will, wird sie dafür mindestens zwei statt einen | |
| Koalitionspartner brauchen. Das eigentlich Besondere an dieser Wahl ist | |
| jedoch, dass in einem Stammland der Sozialdemokrat*innen erstmals die AfD | |
| unter ihrem rechtsextremen Landeschef [21][Andreas Kalbitz] stärkste Partei | |
| werden könnte. In den Umfragen liegen SPD und AfD nahezu gleichauf bei um | |
| die 22 Prozent. Über der Idylle dieses warmen märkischen Morgens liegt also | |
| der Schleier der Furcht um den gesellschaftlichen Frieden im Land. Aber | |
| auch die Hoffnung auf die Jugend des Landes: Erstmals dürfen 51.000 | |
| Brandenburger*innen zwischen 16 und 18 Jahren ihren Landtag wählen. | |
| Unter hundertjährigen Eichenbäumen geht es gen Wahllokal. Vor dem Haus | |
| einer Ärztin hängen drei AfD-Plakate übereinander, davor parkt ein Kombi | |
| mit FCK-AFD-Aufkleber. Der FDP-Kandidat hat sein Großplakat vorsichtshalber | |
| gleich an den eigenen Gartenzaun gehängt; und vor dem Haus des | |
| Grünen-Kandidaten steht sein Elektromobil. | |
| Im Wahllkokal empfängt der Ortsvorsteher von der SPD jede*n Wähler*in mit | |
| Handschlag. Ehrenamtliche Wahlhelferin ist unter anderen die gut gelaunte | |
| Rentnerin, die zwanzig Jahre in der kirchlichen Behindertenschule | |
| gearbeitet hat. Es ist noch ein kleines Kommen und wieder Gehen. In der | |
| Wahlkabine ist man dann allein mit dem Wahlzettel und zwei Kulis. Kreuzchen | |
| Erststimme, Kreuzchen Zweitstimme, Zettel falten, ab damit in die graue | |
| Wahlurne. Umarmung für die Lehrerin, Handschlag für den Ortsvorsteher, rauf | |
| aufs Rad und rein in diesen Wahlsonntag. Mach keinen Scheiß, Brandenburg! | |
| [22][ Anja Maier ] | |
| 1 Sep 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-Landtagswahlen/!t5281601 | |
| [2] /Landtagswahl-in-Sachsen/!5619210 | |
| [3] /SPD-vor-der-Landtagswahl-in-Brandenburg/!5616162 | |
| [4] /Gruene-in-Ostdeutschland/!5619435 | |
| [5] /Kein-AfD-Buergermeister-in-Goerlitz/!5603184 | |
| [6] /Landtagswahl-in-Sachsen/!5619210 | |
| [7] /Programm-fuer-Regierungsbeteiligung/!5606177 | |
| [8] /Daniel-Schulz/!a119/ | |
| [9] /Grosse-Unteilbar-Demo-in-Dresden/!5620480 | |
| [10] /Pia-Stendera/!a51977/ | |
| [11] /Grosse-Unteilbar-Demo-in-Dresden/!5620480 | |
| [12] /CDU-Stadtrat-in-Freital/!5616451 | |
| [13] /Belinda-Grasnick/!a30227/ | |
| [14] /Blaue-Partei-in-Sachsenwahl-chancenlos/!5617768 | |
| [15] /Christian-Jakob/!a113/ | |
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