# taz.de -- Kohleausstieg in der Lausitz: Angst vor der zweiten Wende | |
> Die Pläne für den Kohleausstieg erinnern viele in der Lausitz an die | |
> Strukturbrüche nach 1990. Vor Ort ist man deshalb mehr als skeptisch. | |
Bild: Noch Platz für Badegäste: See neben dem Kraftwerk Boxberg | |
LAUSITZ taz | Die Hoffnung starb schon einmal in der Lausitz. Im | |
Industriegebiet Ost von Spremberg südlich von Cottbus springt ins Auge, | |
was der erste große Strukturbruch nach 1990 hinterließ. Die Landschaften | |
blühen, aber nicht so, wie Helmut Kohl sich das einst dachte. Über den | |
Gleisanschlüssen wuchern junge Bäume, zwischen den Pflasterritzen der | |
Radwege grünt es teils kniehoch. Top ausgebaute Straßen enden im Nichts. | |
Einstellig ist die Zahl der aktiven Firmen hier, es gibt auch einige | |
Betriebsruinen. Ansonsten dominiert die grüne Wiese. | |
82 Hektar Gewerbegebiet hat Spremberg ausgebaut. Für Investoren, die die | |
Jobverluste durch den Kraftwerksumbau und die Rationalisierung in den | |
Tagebauen der Lausitz ausgleichen sollten. Aus der Region [1][im südlichen | |
Brandenburg] und im östlichen Sachsen wanderten nach der Wende 220.000 | |
überwiegend junge Menschen ab, etwa ein Fünftel der Einwohner. In der DDR | |
war deren Zahl noch durch den Kraftwerksausbau enorm angestiegen. 60.000 | |
Menschen arbeiteten damals in der Kohle, heute sind es noch 8.200 direkt | |
Beschäftigte. | |
Noch. Der zweite große Strukturwandel steht unmittelbar bevor – wegen des | |
in Berlin beschlossenen Kohleausstiegs bis 2038. Die kohleverbundene | |
Bürgerbewegung „Pro Lausitz“ kann das Wort schon nicht mehr hören: „Wir | |
stecken doch seit 25 Jahren mittendrin“, im Strukturwandel, heißt es dort. | |
Die Skepsis gegenüber einer Zeit ohne fossile Energieträger ist in der | |
Region überall greifbar. „1990 wurde hier alles verscherbelt und die Region | |
systematisch kaputtgespielt“, empören sich zwei ältere Bürger aus | |
Hoyerswerda auf einer der Lausitz-Konferenzen, die die Sächsische | |
Staatskanzlei seit dem Frühjahr veranstaltet. Und immer wieder taucht hier | |
das Wort „Niedergang“ auf. | |
Das bemerken auch die wenigen Touristen, die hier vorbeikommen. Wer auf den | |
von der staatlichen Sanierungsgesellschaft LMBV zwischen den gefluteten | |
Tagebaurestlöchern angelegten Radwegen radelt, genießt einen Mix aus | |
norwegischer Einsamkeit und deprimierenden Eindrücken. In Uhyst am | |
einladend gestalteten Bärwalder See in der niederschlesischen Oberlausitz | |
hat am Freitagnachmittag bei bestem Sommerwetter nur ein einziger Imbiss | |
geöffnet, der höchstens ein Dutzend Gäste versorgt. | |
Gegenüber am Kraftwerk Boxberg verkündet am Seeufer ein Schild: „Hier | |
entsteht Zukunft“. 2015 scheiterte hier ein Kunst- und alternatives | |
Wohnprojekt namens „Transnaturale“, jetzt sollen hier bis 2022 Seehotel, | |
Camping- und Golfplatz entstehen – kurz: die „beliebteste Sommerfrische | |
Sachsens“. „Der Tourismus wird mit 5 Prozent Anteil am Bruttosozialprodukt | |
nie die Defizite in der produktiven Wertschöpfung ausgleichen“, sagt jedoch | |
der Bürgermeister von Boxberg, Achim Junker (CDU). | |
Junker rechnet mit Problemen nicht erst mit dem kommenden Kohleausstieg, er | |
hat sie jetzt schon. Von Vattenfall als Kraftwerkseigentümer flossen lange | |
Zeit jährlich 10 Millionen Euro Gewerbesteuer und machten Boxberg mit | |
seinen 4.500 Einwohnern in 18 Ortsteilen zu einer der reichsten Gemeinden | |
Sachsens. Außerdem war der schwedische Staatskonzern wegen seines | |
Sponsorings für Kultur und Vereine in der Region beliebt, wovon bei dem | |
tschechischen Nachfolger Leag keine Rede mehr sein kann. Längst versiegten | |
die Steuereinnahmen, nun soll Boxberg sogar noch 13 Millionen Euro | |
zurückzahlen. Klein- und Mittelständler bringen nicht viel. „Tragende | |
Alternativen zur Kohle sind in 25 Jahren nicht entwickelt worden“, sagt | |
Junker. | |
„Ein weiterer Strukturbruch wie in den 1990ern darf nicht kommen“, warnt | |
der Bürgermeister. Kann er auch gar nicht, denn der radikalste | |
Arbeitsplatzabbau hat bereits stattgefunden. Nach Branchenangaben sollen | |
noch bis zu 25.000 Beschäftigte in der Region bei Zulieferern indirekt von | |
der Braunkohle abhängig sein. | |
„Der Mensch geht, der Wolf kommt“, lautet ein böses Wort in der Lausitz. | |
Fährt man nördlich von Boxberg am Braunkohletagebau Nochten entlang in | |
Richtung Schleife, kommt minutenlang kein Auto. Die Vorstellung, die | |
vierspurige Schnellstraße, die nach Plänen aus der Landeshauptstadt Dresden | |
die Lausitz retten soll, sei ähnlich ausgelastet, hat etwas Makabres. | |
Auf demagogische Weise bedient die AfD den alten Mythos Kohle, der in der | |
DDR für gutes Einkommen, Zuzug und eine junge Lausitz sorgte. „Ohne | |
Kohlestrom stirbt die Region“, plakatiert sie in den Wahlkämpfen dieses | |
Jahres. „Das ist die größte Chance, die die Lausitz je gehabt hat“, ruft | |
dagegen Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) bei jedem Auftritt vor | |
der Wahl am 1. September – und erntet eher schwachen Beifall. | |
## Rezepte aus den 1990er-Jahren | |
Wie aber lautet die goldene Lausitz-Formel? Klar ist, dass sie mindestens | |
zwei Komponenten haben muss. Es gilt, Kräfte in der Region zu mobilisieren. | |
Außerdem müssen Investoren her. Dafür werden im Grunde die gleichen Rezepte | |
wie nach 1990 bemüht – einschließlich ihrer Kehrseiten. „Wir sind abhäng… | |
von Großkonzernen wie Leag, Siemens, Bombardier oder BASF“, sagt Heike | |
Zettwitz, Wirtschaftsdezernentin des Landkreises Görlitz. „Aber damit sind | |
wir zugleich fremdbestimmt von Entscheidungen, die außerhalb Sachsens | |
getroffen werden.“ | |
Die Erinnerung an den geplanten Rückzug von Siemens aus Görlitz ist frisch. | |
Die Münchner wollen ihr Werk mit 700 Jobs schließen, jetzt soll hier ein | |
Forschungscampus zu Wasserstoff entstehen. Eine Zukunftstechnologie, aber | |
mit zunächst viel weniger Arbeitsplätzen. Wie chancenlos die Lausitz im | |
Wettlauf um Subventionen ist, zeigte jüngst die Bewerbung um eine | |
Batterieforschungsfabrik in Großröhrsdorf, die nach Münster in Westfalen | |
kommt. | |
Wiederentdeckt wird deshalb die „Sonderwirtschaftszone“ nach dem Muster der | |
frühen 90er. Sozusagen die Lausitz als der Osten im Osten: | |
Investitionszulage, Sonderabschreibungen, ein | |
Planungsbeschleunigungsgesetz, verbunden mit Ausnahmen. Dazu eine für | |
Investoren „unwiderstehliche“ Infrastruktur: die Elektrifizierung der | |
Strecke Dresden–Görlitz, eine ICE-Trasse, Schnellstraßen. Forschungsinseln | |
werden als Katalysatoren entdeckt wie „Elite-Campus Informationstechnik“ in | |
Hoyerswerda. Der Bund will mit einer Behördenverlagerung etwa 2.500 Stellen | |
in der Lausitz schaffen. Ob das was wird, fragen sich derzeit viele bei den | |
Wahlveranstaltungen. | |
28 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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