| # taz.de -- WG in Berlin zwangsgeräumt: Räumung im roten Wedding | |
| > Eine WG wird nach vier Jahren Streit zwangsgeräumt. Unterstützer | |
| > organisieren in der Nacht eine Blockade, während sich Nachbarn gestört | |
| > fühlen. | |
| Bild: Protest gegen die Zwangsräumung in der Dubliner Straße im Wedding | |
| Berlin taz | Vor dem Eingang des Wohnhauses in der Dubliner Straße 8 in | |
| Berlin-Wedding steht eine Bücherkiste, ausgemusterte Mathe-Lernbücher des | |
| Abiturjahrgangs 2007 liegen darin. Drei Etagen höher steht eine Wohnungstür | |
| offen. Die Wohngemeinschaft aus vier Personen, die es hier seit 2010 gibt, | |
| hat an diesem Montagabend eingeladen. Nicht offiziell, aber über ihre | |
| Freundeskanäle und Politikkreise. Alle, die wollen, sollen in der Wohnung | |
| übernachten, um am nächsten Morgen dabei zu helfen, die [1][angekündigte | |
| Zwangsräumung] zu verhindern. | |
| Es ist kurz vor 23 Uhr. Bevor das Plenum starten kann, muss noch die | |
| Waschmaschine aus der Wohnung getragen werden. Die Wohnung haben sie in den | |
| letzten Tagen leer geräumt, der lange Flur und die von ihm abgehenden | |
| Zimmer sind kahl, das Mintgrün an der Wand ist verblasst. Alles, was die | |
| Gerichtsvollzieherin am nächsten Tag vorfindet, wird kostenpflichtig | |
| entsorgt. Während im Innenhof die Lichter der Nachbarwohnungen ausgehen, | |
| setzen sich die mehr als 20 Anwesenden zusammen; es sind mehr Frauen als | |
| Männer, die meisten unter 30, einige aber auch doppelt so alt. In ihrer | |
| Mitte liegen Chipstüten und Schokolade. | |
| Flo, ein junger Mann mit lockigen Haaren, eröffnet die Runde. Er ist einer | |
| der Hauptmieter, der einzige, der die Energie aufbringen kann, sich in die | |
| letzte Schlacht zu stürzen. Unterstützung erhält er von Calotta, die | |
| zuletzt einige Monate in der Wohnung lebte. Sie wollte den Kampf um die | |
| Wohnung unterstützen, hatte sie vorher gesagt und dabei unschuldig | |
| gelächelt. | |
| Der Plan: Vor der Eingangstür zur Dubliner Straße ist ab 6 Uhr eine | |
| Kundgebung angemeldet; hier wird die Polizei nicht reingehen, ist man sich | |
| sicher. Ums Eck in der Glasgower Straße gibt es aber noch eine Haustür und | |
| ein Tor, die ebenfalls beide auf ihre Seite des Innenhofs führen. Weil es | |
| sein kann, dass die Polizei die Straße bereits in der Nacht absperrt, sind | |
| sie hier. Am frühen Morgen wollen sie die beiden Zugänge blockieren. | |
| Eine Debatte, in der alle sehr behutsam miteinander umgehen, entzündet sich | |
| daran, ob die Waschmaschine direkt hinter dem Tor stehen bleiben kann. | |
| „Materialblockaden waren nicht ausgemacht“, heißt es. Später wird sie | |
| weggeräumt. Rabiat will sich hier niemand zur Wehr setzen. Eine Blockade | |
| des Treppenhauses wollen sie nicht – aus Angst vor Polizeigewalt. Glauben | |
| sie an ihren Erfolg? Ein Aktivist der Stadtteilgruppe „Hände weg vom | |
| Wedding“ ist skeptisch: „Am Ende werden wir geräumt.“ Niemand widerspric… | |
| ## Zermürbende Auseinandersetzung | |
| Vier Jahre liegt die erste Kündigung für die Studi-WG zurück. Damals hieß | |
| es, die Mietminderung wegen eines Wasserschadens sei dem Abtrocknungsgrad | |
| nicht angepasst worden. Es folgten Klagen auf Klagen, Prozesse und immer | |
| wieder Proteste. Die Briefkastenfirma, der das Haus gehört, und die | |
| ausführende Hausverwaltung verbeißen sich in dem Ziel, ihre renitenten | |
| Mieter loszuwerden. Und die politisieren den Konflikt, sorgen für | |
| Öffentlichkeit. | |
| Schlussendlich wird ein Hauptmieterwechsel, der der WG zusteht, zum | |
| Verhängnis. Ein Weddinger Amtsrichter folgt der Argumentation der | |
| Eigentümer, dass es sich nicht um eine WG handle, sondern um einen | |
| „Personenzusammenhang“ ohne entsprechendes Recht. Eine „fortgesetzte | |
| Rechtsbeugung“ nennt das ein grauhaariger Aktivist vom Bündnis | |
| „Zwangsräumung verhindern“, das den Konflikt über Jahre begleitete. Er | |
| könnte der Großvater der Runde sein, aber milde ist er nicht: „Ich bin | |
| hier, weil ich wütend bin.“ | |
| Nach anderthalb Stunden ist das Plenum vorbei. Während noch ein paar Sachen | |
| aus der Wohnung getragen werden, öffnet eine Nachbarin ihre Wohnungstür: | |
| „Wenn ihr nicht ruhig seid, ruf ich die Polizei. Dann seid ihr schon viel | |
| früher raus.“ Kurz darauf haben sich alle auf die vier Zimmer der Wohnung | |
| aufgeteilt und in ihre Schlafsäcke gehüllt. | |
| Kurz vor 5 Uhr steht ein Freund der WG auf dem Balkon, an dem ein | |
| „Verdrängt im Wedding“-Transpi hängt, und schaut auf die leere Straße: �… | |
| unschuldiger Tag. Es ist alles nur ein Traum.“ Wenige Minuten später sind | |
| alle aus ihren Träumen gerissen. Während eine Handvoll Aktivisten flüsternd | |
| im Hof steht, meldet sich ein Nachbar lautstark zu Wort, in der Hand hält | |
| er einen Schlagstock: „Verpisst euch. Ich hab die Schnauze voll von euch | |
| scheiß Zecken“, brüllt er. Kurz darauf pöbeln zwei Frauen quer über den | |
| Hof. Zu laut sei es die ganze Nacht gewesen. „Im Gegensatz zu euch muss ich | |
| arbeiten.“ Die Aktivisten sind perplex. Zurück will keiner keifen. | |
| Der rote Wedding hieß es einmal. Heute gibt es die Solidarität nicht mehr | |
| geschenkt. | |
| ## Die Blockade steht | |
| 5.29 Uhr: Die Blockierer haben sich an den drei Zugängen verteilt. Vor dem | |
| Tor stehen sie hinter einem großen Transparent, daneben vor der Tür sitzen | |
| sie hinter dem Schild: „Wir kämpfen auch für Euer Recht auf | |
| menschenwürdiges Leben und Arbeiten.“ Statt feindseliger Nachbarn stehen | |
| ihnen nun die ersten Polizisten gegenüber. Etwa zehn Mannschaftswagen sind | |
| an dem Einsatz beteiligt. | |
| Immer mehr Unterstützer trudeln ein. Pünktlich 6 Uhr beginnt die Kundgebung | |
| mit einer Rede, die auch die letzten Nachbarn aus den Federn reißen wird: | |
| „Diese Zwangsräumung geht uns alle an. Morgen schon könnt ihr die Nächsten | |
| sein.“ | |
| Mehr als 100 Menschen sind nun um das Haus und in den verschiedenen | |
| Blockaden verteilt. Viel Solidarität für eine Zwangsräumung. Die | |
| allermeisten – zwischen 10 und 20 sollen es am Tag in Berlin sein – gehen | |
| still und leise über die Bühne. Zu den beiden Blockaden der nächtlichen | |
| Aktivisten darf niemand mehr hinzustoßen. Immer wieder schallen Sprechchöre | |
| um den Block, ein Demonstrant singt „Bella Ciao“. Flo läuft aufgeregt durch | |
| die Reihen. Calotta steht vor der wenig umkämpften Haupteingangstür, | |
| lächelt und verteilt Tee an die Umstehenden. Eine Aktivistin hat es sich in | |
| einem Sessel bequem gemacht. | |
| Tobias Schulze, Abgeordneter der Linken, der im Wedding seinen Wahlkreis | |
| hat, beobachtet die Szenerie. Der Bezirk leide inzwischen unter einem | |
| „enormen Aufwertungsdruck“; nirgendwo im Land gäbe es mehr | |
| Immobilienverkäufe als hier, und „die Käufer setzen nur noch darauf, die | |
| Leute schnell rauszukriegen“. Immer mehr Betroffene würden in die | |
| Wohnungslosigkeit verdrängt: „Das ist keine Verdrängung, sondern eine | |
| Vernichtung“, so Schulze. | |
| ## Hinten rum zum Ziel | |
| Während um 7 Uhr alle auf die Gerichtsvollzieherin und eine beginnende | |
| Räumung warten, sind Polizisten schon in den Hof vorgedrungen. Sie haben | |
| einen Eingang eine Hausnummer weiter genutzt und den Zaun überwunden, der | |
| den Hof teilt. Ins Haus kommen sie, in dem sie die Tür auframmen und dabei | |
| auch die Scheibe zerbrechen. Flo, der auf der anderen Seite stand, fliegen | |
| die Glassplitter um die Ohren. Kurz darauf kann er von der Straße aus | |
| zusehen, wie oben die Fenster der Wohnung geschlossen werden. | |
| Es ist der Moment, in dem ihr jahrelanger Kampf verloren ist. Bei jeder | |
| Gerichtsverhandlung hat Flo einen handschriftlich verfassten Brief | |
| verlesen, er hat sich und andere organisiert, mehr Zeit und Geld | |
| aufgewendet, als es gesund ist. Bei alldem wirkt er zurückhaltend, stets | |
| freundlich. Nun sagt er nur: „Mir geht's scheiße.“ Als einziger der vier | |
| Bewohner hat er eine neue Wohnung, die anderen müssen bei Bekannten | |
| unterkommen, einer sogar nach Brandenburg ziehen. | |
| Während sich die Blockaden schon auflösen, schreit vom Nachbarbalkon der | |
| geräumten Wohnung eine Frau herunter und fordert Ruhe. Sie möchte mit ihrem | |
| Welpen spazieren gehen. | |
| 6 Aug 2019 | |
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| Erik Peter | |
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