# taz.de -- Das Ruhrgebiet als Freizeitregion: Die Halde ruft! | |
> „Schicht im Schacht“: Kunstberge aus dem Abraum des Kohlebergbaus werden | |
> als Freizeiparks begrünt oder mit der längsten Skihalle der Welt bebaut. | |
Bild: Die Skulptur Bramme von Richard Serra auf der Halde Schurenbach | |
Ein früher Spätjulimorgen. Die Hitze raubt den Atem. Sophie sitzt auf der | |
steilen Treppe der Halde Rheinelbe in Gelsenkirchen-Ückendorf, das | |
Ruhrgebiet liegt ihr zu Füßen. Die Treppe führt über den grauen Spitzkegel, | |
der auf das obere Plateau der Halde aufgeschüttet ist, hoch zur Skulptur | |
„Himmelstreppe“. 35 unförmige Betonquader ließ der Künstler Hermann Prig… | |
zu einem Turm stapeln, Hinterlassenschaft einer abgerissenen Zeche. Sophie, | |
die Lehramtsstudentin aus Göttingen, kann mit den Steinen nicht viel | |
anfangen, freut sich aber – „Mein Papa ist Schalke-Fan“ – über die | |
blau-weißen S-04-Grafitti eines unbekannten Sprayers und das zum Greifen | |
nahe Ufo-Dach der Arena auf Schalke. | |
Den 360-Grad-Panoramablick über das gesamte mittlere Ruhrgebiet findet | |
Sophie „schon cool, aber auch erschlagend“. Sie irritiert der | |
Siedlungsbrei, die mangelnde Trennschärfe der Städte, „nicht schön | |
übersichtlich wie in Göttingen oder Lüneburg“, die vielen Strommasten, „… | |
Denkmäler“, sie meint die Fördertürme der Zechen als Relikte des Bergbaus. | |
Ihr fehlen die Berge. Dabei steht sie hier auf einem, nur heißt der hier | |
nicht Berg, sondern Halde. Lexikalisch-semantisch korrekt: Bergehalde, das | |
ist eine Halde aus Bergematerial, im Bergmannsdeutsch auch taubes Gestein | |
oder Abraum genannt, also Abfallgestein, das bei der Förderung des | |
„schwarzen Goldes“ im Untertagebergbau anfällt und in der Kohlenwäsche vom | |
Rohstoff getrennt wird. Nur ein Viertel davon konnte weitergenutzt werden, | |
etwa als Baustoff im Straßenbau oder zum Verfüllen von Tagebau. Wohin aber | |
mit dem großen nutzlosen Rest? Er wurde kurzerhand, neben Bauschutt und | |
Industrieschlacke, auf Halde verkippt. | |
## Schnörkellos, wuchtig, klare Kante | |
Mehr als hundert Halden gibt es im Ruhrgebiet mit Gipfeln bis zu 140 | |
Metern. Es sind Kunstberge, von Menschenhand angelegt und teilweise | |
künstlerisch möbliert. Viele sind rundherum rekultiviert, Birken, Sanddorn, | |
Robinien haben so auch die früher nackte schwarze Halde Rheinelbe mit | |
gnädigem Grün überzogen. Weidenröschen und Natternkopf wachsen am | |
Wegesrand. Ein artenreicher „Industriewald“, sogar mit eigenem Forsthaus, | |
das Erlebniswanderungen anbietet. Und oben auf den Gipfeln thronen nicht | |
selten monumentale Kunstinstallationen, weit sichtbare Landmarken. | |
Ein paar Radkilometer weiter strampeln wir hoch zur Skulptur „Bramme für | |
das Ruhrgebiet“ von Richard Serra. Die rostpatinierte Stahlplatte auf der | |
Schurenbachhalde in Essen, 15 Meter hoch und nur 10 Zentimeter dick, | |
bespielt als Solitär eindrucksvoll das vegetationslose Plateau. | |
Schnörkellos, wuchtig, klare Kante. Für den Kulturjournalisten Andreas | |
Rossmann symbolisiert die Bramme, „scheinbar einsinkend“, das Verschwinden | |
der Montanindustrie. „Allein übrig geblieben“ stecke die Bramme „in | |
Beckett’scher Einöde.“ Nicht einmal ein Bäumchen wie bei Godot bietet | |
Schatten bei dieser gottverdammten Hitze. Während am Haldenfuß die A 42 in | |
Endlosschleife rauscht, zeugen nur ein paar sonnengedörrte Pferdeäpfel vom | |
Brammen-Besuch. | |
Ein enges Netz asphaltierter, ausgeschilderter Radwege, die oft auf Trassen | |
ehemaliger Industriebahnen und abseits von Straßen verlaufen, wurde vom | |
Regionalverband Ruhr (RVR) gemeinsam mit den Kommunen angelegt. Ideal, um | |
die grünen Höhenzüge zu erkunden, von Halde zu Halde zu hoppen. Von der | |
Halde Norddeutschland in Neukirchen-Vluyn tief im Westen einmal quer durch | |
das Revier bis zur Halde Sachsen in Hamm ganz im Osten. Unser nächster | |
Haldenstopp: Beckstraße, „Haldenereignis Emscherblick“ in Bottrop, mit der | |
Landmarke schlechthin im Ruhrgebiet, dem eleganten 50 Meter hohen | |
Tetraeder. | |
Wir haben die Qual der Wahl beim Aufstieg zum Haldentop: über die | |
„Direttissima“, 387 Treppenstufen hoch. Oder über gewundene Wanderwege. | |
Oder über die asphaltierte Serpentinenstraße per Rad. Egal, oben geht es | |
weiter, denn der Tetraeder, eine vom Architekten Wolfgang Christ | |
entworfene, auf vier Stahlbetonsäulen „schwebende“ Dreieckspyramide aus | |
Stahlrohren ist eine begehbare Skulptur. | |
Uns stockt der Atem, als wir zu den drei Plattformen – die letzte obendrein | |
in leichter Schieflage – hochsteigen. Denn die Treppen sind durchlöchert, | |
die Plattformen vergittert. Haldenthrill! Aber die phänomenale Aussicht | |
überkompensiert den Nervenkitzel. Rauchende Schlote und Kühltürme von | |
Kraftwerken, aufgelassene Industrieareale und ehemalige Zechenkolonien, | |
Bahnanlagen und Autobahnen. Und so viel Grün! | |
## Sommerflaute in der Skihalle | |
Gegenüber, auf der Nachbarhalde Prosperstraße, vor der filmerprobten | |
Kulisse der Kokerei Prosper mit Dampfwolken, schlängelt sich wie ein | |
hellgrüner Lindwurm die Hallenkonstruktion des Alpincenters, von einer | |
holländischen Unternehmerfamilie betrieben, in drei Kurven den Hang | |
hinunter. Mit 640 Metern die längste Skihalle der Welt. Vor der | |
„Bergstation“ parken fast nur Autos mit holländischen Kennzeichen. | |
„Sommerflaute“, sagt die Kassiererin, „heute sind nur 200 Besucher da.“ | |
Schon klar, wer will bei 40 Grad Celsius in die auf minus 4 Grad | |
runtergekühlte, energiefressende künstliche Winterwelt rein? Wohl nur: der | |
wedelnde Holländer. Mit klobigen Skischuhen und teilweise nackten | |
Oberkörpern sitzen die Jungs beim Après-Ski im „höchsten Biergarten des | |
Ruhrgebiets“ über Pommes-Mayo-Wurst-Bier-Bergen. Überhaupt: Die Halde ist | |
eine geballte Spaßhalde mit hohem Adrenalinfaktor. Neben der Skihalle noch | |
im Angebot: eine Sommerrodelbahn und eine Paintballanlage, ein | |
Hochseilklettergarten und eine Indoor-Skydiving-Halle. | |
Der RVR hat in den letzten Jahrzehnten vom Zechenbetreiber, der Ruhrkohle | |
AG, 37 Halden gekauft. Zurzeit feilscht der RVR mit der RAG um die | |
Bedingungen für die Übernahme von weiteren 23 Halden. Dabei geht es vor | |
allem um die Frage: Wer zahlt die Zeche für Pflege und Unterhaltung? Wer | |
haftet für etwaige Altlasten und Haldenbrände? Im „Rahmennutzungskonzept zu | |
Haldenstandorten der Metropole Ruhr“, das im September dem | |
RVR-Umweltausschuss vorgestellt werden soll, gehe es um „mögliche Nutzungen | |
und dem daraus entstehenden Bewirtschaftungs- und Investitionsaufwand“, | |
sagt Barbara Klask, Pressesprecherin des RVR. „Neun Halden könnten | |
touristisch ausgerichtet werden, damit sie Besucher auch außerhalb des | |
Ruhrgebiets anziehen.“ | |
Nach der Art der Schüttung unterscheidet man grob drei Haldengenerationen: | |
Urtyp waren die Spitzkegelhalden, die gleich neben den Zechen über | |
Förderbänder und Seilbahnen unbearbeitet aufgehäuft wurden. Mangels | |
Verdichtung und Eintritt von Sauerstoff konnte die Restkohle im Abraum | |
Schwelbrände auslösen („brennende Halden“). Daher wurde der Abraum zu | |
terrassenförmigen, verdichteten geometrischen Tafelbergen aufgeschichtet, | |
gegen Erosion und Haldenbrand gesichert. Und bepflanzt nach dem Motto: „Die | |
Halden wollen wir nicht so schwatt in der Gegend liegen lassen“, erklärt | |
Barbara Klask, „damit sie sich begrünt in die Landschaft einfügen.“ | |
## Ausgeklügeltes Wegenetz | |
Seit den achtziger Jahren wurden die Halden direkt zu | |
„Landschaftsbauwerken“ mit gewaltiger Grundfläche und Höhe gestaltet. Vor… | |
geplant, gezielt gekippt, ins Landschaftsbild eingefügt, zu naturnahen | |
Freizeit- und Erholungsräumen umgestaltet. | |
Der Landschaftspark Hoheward, neben der ehemaligen Zeche Ewald im | |
Städtedreieck Herten/Recklinghausen/Herne gelegen, ist ein klassisches | |
Landschaftsbauwerk. Ein Haldenkoloss, 240 Hektar umfassend, zusammen mit | |
der Schwesterhalde Hoppenbruch „die größte Haldenlandschaft Europas“. Und | |
der touristisch am besten präparierte Kunstberg für Freizeit, Erholung und | |
Sport. Mit einem ausgeklügelten Wegenetz, umlaufender asphaltierter | |
Ringpromenade am Haldenfuß und Balkonpromenade auf halber Höhe, mit | |
Serpentinenwegen, Treppen, Balkonen, Brücken und Mäuerchen aus Gabionen. | |
Auf dem kahlen Gipfelplateau ruhen zwei großformatige Astro-Installationen: | |
ein Horizontobservatorium mit zwei 45 Metern hohen Stahlbögen und die | |
Horizontalsonnenuhr mit Obelisk. Für das SunsetPicknick im September wird | |
das Plateau wieder zur Bühne, auf der Tausende zum Elektrosound von DJs | |
abtanzen. Schon lange ist Hoheward, die Sporthalde, kein Geheimtipp mehr | |
für Mountainbiker, die auf den Trails der Cross-Country-Strecke oder dem | |
Enduro-Rundkurs abrocken. Und für Rentner, die unter Führung stoisch | |
stehend auf Segways hochsurren. | |
Letzter Haldenwechsel: noch mal nach Bottrop, zur Halde Haniel. Diesmal zu | |
Fuß über den Bergbaukreuzweg die begrünte Südflanke hoch zum Gipfel. Wir | |
passieren 15 Stationen, die die heilige Allianz von Bergbau und Kirche | |
darstellen. Ein doppelter Lehrpfad: Kupferstiche mit den Leiden Jesu werden | |
gekreuzt mit originalen Objekten samt Infotafeln aus der Bergmannswelt. | |
Von Station I, „Pilatus wäscht seine Hände“/ mit Steinen gefüllter | |
Teufkübel, über Station XI, „Annagelung“/ mit Meißeln versehener | |
Walzenkörper, bis zur Endstation XV, „Auferstehung“/ Der Greifer. | |
Haniel ist die Kulturhalde. Auf dem halbrunden Haldenkamm stehen „Totems“ | |
Spalier, über hundert senkrecht in den Boden gerammte, bunt bemalte | |
Eisenbahnschwellen. Eine Installation des baskischen Künstlers Agustín | |
Ibarrola, der damit „die scheinbaren Gegensätze von Industrieraum und | |
Natur“ verbinden will. | |
Darunter liegt, wie in einem Vulkankessel, die „Bergarena“, ein | |
Amphitheater mit 800 Plätzen, wo traditionelle Kulturkost wie „Aida“ und | |
„Frau Luna“, „Jedermann“ und „Der fliegende Holländer“ gegeben wir… | |
auch experimentelle Konzerte wie „Boredoms“ beim Kunstfestival | |
Ruhrtriennale, „ein rituelles Spaceshuttle“, ekstatisch entrückte Musik | |
von 12 Schlagzeugern plus schamanischem Vokalisten. | |
Der Filmkünstler Julian Rosefeldt hat diese apokalyptische wie surreale | |
Haldenlandschaft eindrucksvoll mit Bildern einer Drohne eingefangen. | |
Statisten in weißen Einmaloveralls bewegen sich in Zeitlupe, wie Neil | |
Armstrong auf dem Mond, durch die postindustrielle Wüste aus Abraum und | |
Schlacke, um sich final als Menschenknäuel im Amphitheater zu vereinen. | |
Oben auf dem Plateau steht Uwe Pichler aus Oberhausen, mutterseelenallein | |
neben seinem 7-Gang-Rad, mit dem er sich hochgequält hat. Pichler ist | |
Stammgast auf Haniel, er genießt „den Ausblick, die Ruhe“. Wehmütig blickt | |
er hinunter auf das Fördergerüst von Prosper Haniel, die als letzte | |
Steinkohlezeche in Deutschland Ende 2018 stillgelegt wurde. | |
„Schicht im Schacht“, sagt Pichler. Und beiläufig: „Ist schon schade.“ | |
17 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Günter Ermlich | |
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