# taz.de -- Bottroper Protokolle von Erika Runge: „Alle hatten damals eine Ma… | |
> Vom Bergmann bis zur Putzfrau: 1968 dokumentiert Erika Runge, was | |
> Arbeiter*innen aus dem Ruhrgebiet ihr erzählen. Eine Begegnung. | |
Bild: Heute 79, beschreibt sie die junge Frau von damals als „im Grunde unpol… | |
Der Erstkontakt erfolgt am Telefon und gerät beinahe zur Abfuhr. „Von einer | |
Zeitung rufen Sie an? Was wollen Sie denn von mir?“, fragt Erika Runge. | |
Dann: „Tut mir leid, ich verstehe nicht, warum wir uns unterhalten | |
sollten.“ Es klingt nicht kokett, sondern nach aufrechtem Widerwillen. | |
Sogar spöttisch. „Mir ist nicht klar, was Sie sich da vorstellen, und ich | |
wüsste wirklich nicht, was unser Thema sein könnte.“ | |
Dabei hat die Journalistin am anderen Ende der Leitung zwei Filme der | |
Angerufenen gesehen, drei ihrer Bücher gelesen und mehrfach | |
weiterempfohlen. Es ist doch alles so aktuell: die Arbeiterinnen und | |
Arbeiter! Der Strukturwandel! Die viel zitierten „Abgehängten“! Der | |
Populismus allerorten! Die Überschrift für das Interview steht ihr auch | |
schon leuchtend vor Augen: „Erika Runge – die Frau, die Bottrop eine Stimme | |
gab“. | |
Doch bevor Erika Runge irgendwelche Fragen beantwortet, stellt sie erst mal | |
selbst welche: „Sagen Sie mir: Aus welcher Familie kommen Sie, aus was für | |
einem Elternhaus?“ – „Keinerlei akademischer Hintergrund, kein größeres | |
Erbe. Aus dem Kaufleute-Kleinbürgertum ins Halbintellektuellen-Milieu | |
gewurschtelt.“ Es scheint die richtige Antwort zu sein. Runge willigt doch | |
in ein Treffen ein. In einem Café nahe ihrer Wohnung in | |
Berlin-Charlottenburg. | |
Fünfzig Jahre ist es her, dass Erika Runge bei Suhrkamp einen Band | |
veröffentlicht hat, der das enthält, was sie nun gern verweigern würde: | |
Gespräche, seitenlange O-Töne – die „Bottroper Protokolle“. Das Buch gi… | |
als Meilenstein der Dokumentarliteratur. Und als ein Schlüsseltext für das | |
Verständnis derjenigen, die bis heute von allen Parteien (außer der FDP) | |
aufs Aufdringlichste umworben werden – die sogenannten kleinen Leute. | |
Runge geht damals ähnlich wie eine Journalistin vor: Sie schaltet das | |
Mikrofon an und lässt andere erzählen – die Arbeiterhausfrau Erna E., den | |
Verkäufer Dieter V., die Angestellte Verena D. Das liest sich etwa so: „Man | |
hat uns ja den Strick um ’n Hals gelegt: entweder reißt ihr eure Ställe ab | |
und schafft euer Viehzeug weg oder ihr fliegt aus de Wohnung raus.“ Oder | |
so: „Ich wollte unbedingt Zeichenlehrerin werden […]. Meine Eltern, die | |
würden das nich verstehen: ,Du hast doch dein Beruf, du verdienst doch gut, | |
was willst’n da noch lange lernen.'“ | |
## Wo sie ganz praktisch malochen | |
Die „Bottroper Protokolle“ erscheinen 1968. Der frühere NSDAP-Mann Kurt | |
Georg Kiesinger ist Kanzler. Erika Runge ist Ende 20, ledig, wissbegierig | |
und hat Theaterwissenschaft in München studiert – just in der Zeit, als | |
dort ein Großmaul namens Andreas Baader eine gewisse Subkulturprominenz | |
erwarb. Runge lernt Tippen, um Geld zu verdienen. Plötzlich glauben immer | |
mehr Bürgerkinder, ihre Liebe zum Marxismus zu entdecken. Während die | |
Wortführer der sogenannten Studentenrevolution – es waren ja doch meist | |
Männer – im Namen der Arbeiterklasse von mörderischen Diktatoren wie Ho Chi | |
Minh und Mao Tse-tung schwärmen, fährt Runge da hin, wo nicht nur | |
theoretisch, sondern ganz praktisch malocht wird: in den Ruhrpott. | |
Heute 79, beschreibt sie die junge Frau von damals als „im Grunde | |
unpolitisch. Für mich gab es nur eines: keine Wiederbewaffnung, kein | |
Krieg!“ Schon 1958 finden die ersten Ostermärsche in Deutschland statt, das | |
Ruhrgebiet ist ihr Zentrum. Mit einem Münchner Freund, dem Maler Carlo | |
Schellemann, fährt Runge hin, mit Kamera und Tonbandgerät, ohne festen | |
Plan. Carlo hat im Krieg einen Arm verloren, Erika Runge hat vor allem | |
seelisch gelitten: „Ich war wie verstummt, ging in eine Sonderschule. Ich | |
konnte nicht richtig sprechen, schon gar nicht über mich selbst.“ | |
Geboren 1939 als Tochter einer großbürgerlich erzogenen Mutter und eines | |
etwas gröber geschnitzten Vaters – versehrt in Verdun, Nazi, später Beamter | |
und CDU-Wähler – hat sie 1945 eine der letzten großen Bombennächte im | |
Keller eines Potsdamer Mietshauses überlebt. Siebziehn Menschen sterben | |
vor, hinter, neben der Sechsjährigen. „Die Leichen lagen noch Wochen unter | |
dem Schutt, es hat gestunken. Es war widerlich!“ Sie setzt hinzu: „Wir | |
waren alle gestört und kaputt. Alle hatten damals eine Macke. Alle eine Oma | |
unter Trümmern verloren, oder der Vater war kaputt oder war ein Nazi und | |
hat nur rumgebrüllt.“ | |
Bei den OstermarschiererInnen lernt Runge „eine Gruppe stämmiger Frauen“ | |
kennen: „Die kamen vom Asso-Verlag in Oberhausen, da erschien proletarische | |
Literatur.“ Die Frauen nehmen sie zu einer ArbeiterInnenversammlung mit. | |
Runge trifft auf den Gewerkschaftsfunktionär und DKP-Neubegründer Clemens | |
Krayenhorst – und ist so begeistert von dessen kämpferischem „Wat denn, dat | |
denn“, dass sie in die Partei eintritt (und bis 1989 dort bleibt). Dann | |
fällt ihr noch jemand auf: „Es lief Musik in der Halle. Da war eine ältere, | |
weißhaarige Frau, die tanzte, ganz allein.“ Das sei das Lieblingslied ihres | |
Sohnes, sagt die Frau plötzlich zu Erika Runge, „weil ich wohl so blöd | |
geguckt habe“. Der Sohn sei tot, ergänzt die Frau. Und Erika Runge schaltet | |
das Mikro ein. | |
Die Frau ist Maria Bürger, eine Kriegswitwe und Putzfrau, die ihre zwei | |
noch lebenden Söhne allein großzieht. Was sie ins Mikro erzählt, wird nicht | |
nur ein Kapitel der „Bottroper Protokolle“, sondern auch Runges erster | |
Film: die 40-minütige TV-Dokumentation „Warum ist Frau B. glücklich?“. | |
Maria Bürger, also Frau B., ist bei der Arbeit zu sehen, und wie sie mit | |
„Gastarbeitern“ scherzt und singt. Sie spricht auch über Politik: In | |
Weimarer Tagen sei sie „überzeugte Kommunistin“ gewesen. Als die Nazis | |
kamen, sei sie umgeschwenkt, es habe endlich wieder Arbeit gegeben, | |
außerdem Urlaube, „Kraft durch Freude“. Nach dem Krieg sei sie dann in die | |
SPD eingetreten. | |
## Heute AfD statt SPD? | |
Frau B. wirkt durchaus sympathisch. Aber: Sind ihre Aussagen nicht | |
erschreckend, gerade aus heutiger Sicht? „Warum?“, fragt Runge. Die | |
Fragestellerin konkretisiert: „Na, von den Kommunisten zu den Nazis zur | |
SPD: Frau B. lebt hier ja das Querfrontprinzip, die enge Verwandtschaft von | |
rechts und links außen. Und auch heute werden die angeblichen Ängste der | |
,kleinen Leute‘ wieder als Begründung für Nationalismus und Rassismus | |
bemüht.“ Erika Runge zögert. „So viel hat man damals noch nicht | |
abstrahiert. Ich jedenfalls nicht. Mir hat noch nie jemand so viel | |
Vertrauen und so viele Geschichten geschenkt wie diese Leute im Ruhrgebiet. | |
Sie haben mir geholfen, zu einer eigenen Sprache zu kommen. Wie Menschen | |
sind: Das war alles, was mich damals interessiert hat.“ | |
Trotzdem: Könnte sie sich vorstellen, dass Frau B. heute AfD wählen und | |
„Ausländer raus“ keifen würde, statt SPD anzukreuzen und sich mit | |
„Gastarbeitern“ anzufreunden? „Ich verfolge das alles. Aber wissen Sie: I… | |
habe ein gewisses Alter erreicht. Die Distanz wird größer. Wir haben so | |
viel versucht damals. Aber manches ist heute noch immer so. Einiges | |
vielleicht schlimmer?“ | |
Runges „Protokolle“ erscheinen zunächst in der linken Zeitschrift | |
Kürbiskern. Martin Walser, damals Shootingstar der Literatur, vermittelt | |
den Kontakt zu Suhrkamp, schreibt das Vorwort. Bald mischt Runge überall | |
mit: hält eine Rede gegen den Axel-Springer-Verlag im Zirkus Krone; | |
schließt sich der Dortmunder Gruppe 61“ für Literatur aus der Arbeitswelt | |
an; schreibt für konkret; ist mit der Autorin Barbara Bronnen und der | |
Filmemacherin Helke Sander befreundet. | |
## Unterstützt aus der DDR | |
„Ich ließ lieber andere erzählen, eigene Texte fielen mir schwer.“ So | |
veröffentlicht Runge weitere Protokolle, etwa „Reise nach Rostock“ (1971) | |
mit O-Tönen aus dem realexistierenden Sozialismus. Die Gespräche seien wohl | |
von der SED vorbereitet gewesen, räumt sie heute ein. „Mit der DDR waren | |
wir alle sehr naiv. Jetzt weiß ich, dass von dort auch der Kürbiskern | |
finanziert wurde. Man wollte den Westen zermürben, über die Kultur. Wir | |
hatten immer Geld, keiner wusste so genau, woher. Die DDR als Struktur, die | |
habe ich lange nicht begriffen.“ | |
Einige halbdokumentarische Filme dreht sie in den 1970ern und erhält Preise | |
dafür. 1975 spielt Runge in Rainer Werner Fassbinders TV-Film „Ich will | |
doch nur, daß ihr mich liebt“ mit – als Psychotherapeutin. Tatsächlich hat | |
sie da schon beschlossen, das Filmen und Schreiben aufzugeben. Sie hat sich | |
weiter fortgebildet und eröffnet eine Praxis für Psychologie in Berlin, in | |
der sie vor allem Frauen und Kinder therapiert. Der Glaube, dass Texte oder | |
Filme die Welt verändern, ist ihr irgendwann abhandengekommen. „Wer den | |
ganzen Tag schwer schuftet, der liest abends nicht noch Bücher oder schaut | |
politische Filme. Menschen sind auch viel individueller als wir früher | |
dachten. Die lassen sich nicht in Raster stecken.“ | |
Mit dieser Feststellung sind die Kaffees ausgetrunken, Befragte und | |
Fragende etwas erschöpft. Eine Kurve nach Bottrop muss aber noch sein. Dort | |
schließt zum Jahresende die letzte Steinkohlezeche Deutschlands. „Ich fände | |
es anmaßend, mich dazu zu äußern“, sagt Runge. Eine klar identifizierbare | |
Arbeiterklasse existiere heute ohnehin nicht mehr – „nicht in dieser | |
Organisiertheit, aus der Kraft erwächst“. Aber es gebe einen „menschlichen | |
Erfahrungsvorrat an Solidarität“. Nur: „Was sich daraus heute machen ließe | |
– das weiß ich leider auch nicht.“ | |
27 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Katja Kullmann | |
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