| # taz.de -- Schorsch Kamerun bei der Ruhrtriennale: Yoga für die Zugezogenen | |
| > Multikulti und Grenzen: Schorsch Kameruns „Nordstadt Phantasien“ erzählen | |
| > bei der Ruhrtriennale von der Wandlung eines Arbeiterviertels. | |
| Bild: Straßenszene oder Inszenierung? Ruhrpottrevue in der Dortmunder Nordstadt | |
| Die Dortmunder Nordstadt ist ein „Problemviertel“ wie aus dem Lehrbuch: ein | |
| Arbeiterstadtteil hinter dem Hauptbahnhof mit Drogenszene, Straßenstrich | |
| und Genossenschaftswohnungen, in dem rund 30 Prozent der 60.000 Bewohner | |
| von Sozialleistungen leben. Aber der Stadtteil ist auch die Heimat der | |
| migrantischen Communitys. Sie war es von Mehmet Kubaşık, der 2006 in seinem | |
| Kiosk vom NSU erschossen wurde. | |
| Der Rest des Ruhrgebiets schaut fasziniert und angewidert zugleich auf die | |
| Nordstadt. Voyeuristische Sozialreportagen inszenieren das Viertel als | |
| rechtsfreien Raum und rücken noch die letzte Spritze der Heroinsüchtigen | |
| auf dem Nordmarkt ins Bild. | |
| Der Hamburger Musiker Schorsch Kamerun inszeniert jetzt bei der | |
| Ruhrtriennale in der Nähe des Dortmunder Hafens seine „Nordstadt | |
| Phantasien“. Am Donnerstag war Premiere. Aber anstatt für Sozialrealismus | |
| haben sich Kamerun und sein Mitmusiker PC Nackt für eine Revue im Revier | |
| entschieden. Gegenüber einem verklinkerten Haus, in dem sich ein türkischer | |
| Supermarkt, ein Café und eine Trinkhalle das Erdgeschoss teilen, werden wir | |
| Zuschauer in einem Glaskasten platziert. Das Leben auf der Straße wird über | |
| vier Bildschirme ins Innere übertragen, vom Lärm der Straße sind wir durch | |
| geschlossene Kopfhörer abgeschirmt. | |
| Wir, die interessierten Kulturbürger, sind die Eindringlinge. Aber wer | |
| beobachtet wen? Immer wieder laufen Bewohner der Nordstadt vorbei und | |
| werfen einen Blick auf uns im Inneren des Kastens. | |
| Auf der Straße spielen sich typische Szenen ab. Vorm Kiosk wird Bier | |
| getrunken, vor dem Café türkischer Tee, zwischendrin spielen Kinder. Aber | |
| schon die Authentizität dieses Szenarios ist nicht verbürgt. Ist der Mann, | |
| der mit einer Packung Klopapier am Fahrradlenker durch die Szene fährt, | |
| jetzt ein Statist, oder kommt er nur vom Einkaufen? Und hat Kamerun die | |
| Kinder gecastet, die auf der Straße tanzen und klatschen? Oder waren sie | |
| einfach froh darüber, dass in ihrem langweiligen Viertel endlich mal was | |
| los ist? | |
| Schließlich fährt ein schwarz gekleideter Mann auf einem Tretroller vor. Er | |
| setzt zu einem Monolog an. Die Nordstadt besitze „pure Authentizität“, sagt | |
| er. Ihre Architektur verweise auf die Improvisation ihrer Bewohner. | |
| Schließlich fällt er sein Urteil: „Unglaubliches Potenzial.“ Von dem Mome… | |
| an wird die Straße gentrifiziert. Sie wird zur Kulisse eines Fotoshootings, | |
| während Touristen durchs Viertel geführt werden. Ein paar Bühnenarbeiter | |
| bauen dazu einen Pop-up-Laden auf, in dem „Jelly Friends“ verkauft werden: | |
| Süßwasserquallen aus dem Becken des Dortmunder Hafens. Zur Eröffnung spielt | |
| das Dortmunder Akkordeon-Orchester 79 – alles so lokal hier. | |
| Schließlich treten noch zwei maskierte Wrestler gegeneinander an. Die | |
| Neuankömmlinge formen den Arbeiterstadtteil so, wie es ihrer Vorstellung | |
| von proletarischem Freizeitvergnügen entspricht. | |
| ## Von Usbekistan in die Dortmunder Nordstadt | |
| Die Figuren der „Nordstadt Phantasien“ werden dabei nie zu Charakteren, | |
| sondern sprechen in Klischees. Ein Immobilienmensch redet von „business | |
| opportunities“, und als er von seinem Geschäftspartner ausgebootet wird, | |
| kompensiert er dies mit Yogaübungen. Eine junge Frau im Ostfriesennerz, | |
| geschminkt wie ein Zombie, erzählt von ihrem Leben als Dauertourist in | |
| Usbekistan und Nordafrika. Die letzte Station ihres Abenteuers aber soll | |
| ein Umzug sein: der in die Dortmunder Nordstadt. | |
| Kamerun besingt dazu die Widersprüche: Multikultiviertel lieben, aber nicht | |
| gegen Grenzzäune protestieren; der Aktienmarkt als Taktgeber für die Träume | |
| vom Eigenheim im Arbeiterviertel. Er trägt all dies über minimalistischer | |
| Lo-Fi-Elektronik vor, die über die Dauer des Stücks eine formale Strenge | |
| erfüllt. Aber das ist kein Wunder, schließlich antworten die „Nordstadt | |
| Phantasien“ auf eine andere Form, die ebenfalls formal streng ist: die | |
| Fantasien der „creative city“, die die Stadtplanung des letzten Jahrzehnts | |
| geprägt haben. Auch in Dortmund fand dieser Masterplan Gehör. Als das | |
| Ruhrgebiet 2010 Kulturhauptstadt war, erhoffte man sich dort den „Wandel | |
| durch Kultur“. | |
| Designer, Softwareentwickler und sonstige Kreativarbeiter würden die Kumpel | |
| von morgen sein und in den „Kreativquartieren“ im Schatten ehemaliger | |
| Industriebauten arbeiten, die mit öffentlichen Mitteln bezugsfertig gemacht | |
| wurden. Der berühmteste von ihnen mit dem leuchtenden U, dem Wahrzeichen | |
| der ehemaligen Union-Brauerei, strahlt bis in die Nordstadt. Aber anstelle | |
| von Ateliers und Designstudios sind dort heute Firmen aus der | |
| Gesundheitsbranche und dem Asset-Management untergebracht – Wandel durch | |
| Immobilienwirtschaft. | |
| Auch die „Nordstadt Phantasien“ erfüllen sich nicht. Die Zugezogenen auf | |
| der Bühne haben Angst um ihre Eigentumswerte, sie wenden sich an den | |
| Immobilienentwickler, der sie hergelockt hat. Es ist seine Bewährungsprobe, | |
| und er besteht sie, indem er die Unzufriedenen mit Musik, Tanz und | |
| Motivationsvokabeln betreut. Wenn der Markt sein Versprechen nicht halten | |
| kann, bleibt nur die Esoterik übrig. | |
| 25 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
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