# taz.de -- Kulinarisches im Osten: Durch den Magen Brandenburgs | |
> Eine kulinarische Tour auf den Spuren des in diesem Jahr gefeierten | |
> Brandenburg-Fans Theodor Fontane. Dabei ist Vorsicht geboten. | |
Bild: Auf kulinarischer Tour, auch im Hafen von Neuruppin | |
Normalerweise fährt man aufs Land, um dort Landschaft zu sehen und Dinge | |
aus der Landwirtschaft in einem Landgasthof zu essen. Brandenburg ist eine | |
Ausnahme. Zwar ist das Land, wie es sich für Land gehört, eine Gegend mit | |
viel Gegend und wenig Behausung. Aber kulinarisch steht Brandenburg schwer | |
im Verruf. | |
Anlässlich des Fontane-Jahres wirbt jede Ackergemeinde in diesem Bundesland | |
damit, dass der nach Angela Merkel berühmteste Brandenburger bei ihnen auf | |
Klo war, eine saure Gurke gegessen hat oder auf der Durchreise hier | |
vorbeikam. | |
Trotzdem kam keine noch so windige Eventagentur auf die Idee, im Gedenkjahr | |
2019 Wanderungen durch den Magen Brandenburgs zu verkaufen. „Nimm dir essen | |
mit, wir fahren nach BRANDENBURG!“, sang Rainald Grebe 2005. Hat sich im | |
30. Jahr nach Mauerfall auf den Speisekarten dieses Bundeslandes wirklich | |
nichts getan? Und wie kam Theodor Fontane auf die Idee, dass „unsere | |
verschriene Mark ein wahres Eldorado für Feinschmecker ist“? | |
Fährt man von Berlin aus Richtung Norden auf der einst wichtigsten Straße | |
der DDR, der Bundesstraße B96, trifft man nach 50 Kilometern auf der linken | |
Seite auf den Imbiss „Curry B96“. Um die Ecke liegt der Teschendorfer | |
Landgasthof. Wer sich hier einquartiert und die Tage und Nächte vor der | |
Pommesbude verbringt, wo es mindestens einen Gast gibt, der „Schlachtschiff | |
Bismarck“ auf seinem T-Shirt stehen hat, kommt mit Stoff für fünf | |
Dia-Abende, zwei Romane und drei Sachbüchern zurück. | |
## Schmalzstulle für einen Euro | |
Wer sich hier wann und warum verirrt, verabredet und versteckt, was hier | |
gegessen und geredet wird, ist erkenntnisreicher als 2.500 Meinungstexte zu | |
Ostdeutschland. Und die Currywurst mit Pommes schmeckt, wie Currywurst mit | |
Pommes eben schmecken muss: nach Currywurst mit Pommes. | |
Die wenigsten Touristen aber wollen ihren Brandenburgurlaub an der | |
Bundesstraße verbringen und besuchen deswegen in Scharen das östlicher | |
gelegene Neuruppin, die Geburtsstadt Theodor Fontanes. Dort steht vor der | |
Kulturkirche ebenfalls ein Imbiss. Im Angebot: Schmalzstulle für 1 Euro, | |
Sunkist Kirsche und Orange, Snickers, und nebenan grillt Discounterwurst | |
auf Discounterholzkohle. Die Schmalzstullenverkäuferin grummelt nur | |
„vierfuffzich“, ansonsten zieht sie es vor, nichts zu sagen. | |
Etwas außerhalb des Zentrums, am Ufer des Ruppiner Sees, reihen sich neuere | |
Speisegaststätten, die von außen so aussehen wie ein DDR-Eigenheim Typ | |
EW58, dessen graubrauner Kratzputz mit einer im örtlichen Supermarkt im | |
Sonderangebot gekauften Neonfarbe erst kürzlich gestrichen wurde. Wer mit | |
dem Vorurteil, im Osten essen sie nur Schmalzstulle und Würzfleisch, | |
aufräumen will, besucht hier das „Restaurant Seewirtschaft“. Es ist Teil | |
des „Resorts Mark Brandenburg“, zu dem auch die Fontane-Thermen gehören. | |
Das Angebot: hausgemachter Eistee eines Berliner Start-up-Unternehmens | |
(4,50 Euro), „Suprême vom Märkischen Landhuhn“ (16,90 Euro), „Zippelsf�… | |
Regenbogenforelle“ (16,10 Euro) und „Mutter Fontanes Brotpudding“ (7,90 | |
Euro). Nicht nur die Speisekarte hört sich an wie die eines hippen | |
Restaurants, auch das Interieur ist dem einfachen Holztischestyle des | |
Prenzlauer Bergs nachempfunden. Es schmeckt alles so, wie es Großstädter | |
kennen und mögen. Auch der sündhafte teure Rotwein „Fontanes Roter“ dürf… | |
dem Gaumen des Schwabingers und Prenzlauer-Bergers genauso gefallen wie der | |
Sound der Servicekräfte, der von dem der Schmalzstullenverkäuferin so weit | |
entfernt ist wie die Schmalzstulle vom Grünkern-Tofu-Burger. | |
## Kartoffelpuffer mit Kräuterlachs | |
Der 30 Kilometer nördlich gelegene nächste Fontane-Hotspot Rheinsberg zieht | |
jährlich Tausende Touristen ins friderizianische Rokokoschloss am | |
Grienericksee und das darin beheimatete Kurt-Tucholsky-Museum. In | |
unmittelbarer Nähe aber gibt es nichts zu essen außer Eis aus der Truhe. Im | |
Stadtzentrum hat man dann die Wahl zwischen Sky Döner oder dem Ratskeller | |
Rheinsberg. | |
Auf der Menükarte des Ratskellers stehen „Scampis mit einem Hauch von | |
Knoblauch“, „Salat mit Himbeervinaigrette“ und „Dijonsenfcremesüppchen… | |
Akazienhonig“. Betritt man den ebenerdig gelegenen Keller, steht man auf | |
einem hellweißen Klofliesenboden und guckt auf mit schwarzem Lederimitat | |
überzogene Stühle und will lieber keinen Hauch von irgendwas hier essen. | |
Der etwas versteckt gelegene Laternenhof sieht einladender aus, seine | |
Gerichte heißen aber „Meeresrauschen“, „Schlossgeflüster“ oder | |
„Landpartie“. Doch wer antritt, um Vorurteile abzubauen, muss da eben | |
durch. | |
„Schall&Rauch“ wird bestellt, zwei Kartoffelpuffer mit Räucherlachs und die | |
in Brandenburg anscheinend mittlerweile Standard gewordene Honigsenfsauce | |
kommen. Es schmeckt besser, als es klingt, und auch die Pasta | |
„Straßenfeger“ ist nicht schlechter als die durchschnittliche Nudel in den | |
allermeisten Touristenabfertigungsbetrieben dieser Welt. | |
Der Stechlinsee ist auch so ein Betrieb. Im Winter gibt’s hier nichts zu | |
essen, weil alles zu ist. Kommt man im Sommer, quellen die zwei, drei | |
gastronomischen Einrichtungen über, und es riecht nach Kinderpisse und | |
Sonnencreme. Etwas versteckt auf der rechten Seeseite liegt die „Fischerei | |
Stechlinsee“. Die Braterei ist ein in der siebten Generation geführter | |
Familienbetrieb und hat nur Fisch: Quappen, Schlei, Plötze und die | |
Spezialität Maräne, „gebacken, geräuchert oder sauer eingelegt“. Im Preis | |
inbegriffen: „ein Salat und eine Beilage (Pommes, Bratkartoffeln, Kroketten | |
und Kartoffelsalat)“. Kosten: zwischen 6 Euro („Plötze, sauer eingelegt“) | |
und 13,50 Euro („Aal, geräuchert, in Aspik“). | |
## Gebratene Stechlinseemaränen | |
Der Fisch schmeckt nach Fisch, der weder an Honigsenfsauce ertränkt oder | |
auf Gojibeerenspiegel ausgerutscht ist. Wer die Kartoffeln übrigens lieber | |
an statt bei seiner Maräne liegen hat, der muss ins südlicher gelegene | |
Meseberg, berühmt durch das Barockschloss, das als Gästehaus der | |
Bundesrepublik dient. Hier bietet der Schlosswirt Meseberg „gebratene | |
Stechlinseemaränen an Röstkartoffeln und Gurkensalat“ für 19,50 Euro. | |
Teller und Besteck sollen immer vorrätig vorhanden sein. | |
Mitunter muss man immer noch sehr lange durchs Uckermärkische marschieren, | |
bis man überhaupt irgendwas kriegt, manchmal sogar um einen ganzen See, | |
beispielsweise die 20 Kilometer um den wunderschönen Oberuckersee. Und auch | |
wer das Boitzenburger Schloss besichtigen will, muss sich was mitnehmen | |
oder sich in der Schokoladen- und Tortenmanufaktur auf weiße | |
Lederimitatsessel an goldfarbene Tische setzen, zwischen „Eis, Torte, | |
Kuchen, Kaffee, Bier und Backwaren“ wählen und das Gefühl haben, auf | |
Honeckers Hochzeit habe es in etwa das Gleiche gegeben. | |
Hungersnöte sind in der Uckermark ein bekanntes Phänomen. Im Mündesee bei | |
Angermünde liegt auf einer Sandbank unter der Wasseroberfläche ein | |
Findling, genannt Hungerstein. Wenn in trockenen Sommern der Wasserspiegel | |
sinkt, ist er zu sehen. Für die Angermünder symbolisiert er die drohende | |
Gefahr einer schlechten Ernte und damit einer Hungersnot. | |
Direkt am See hat sich deswegen ein Restaurant den schönen Namen Zum | |
Hungerstein gegeben. Abseits des Namens ist auch die Speisekarte ohne | |
Erklärung schwer zu verstehen. Oder wüssten Sie, was „Kalekutenoolsch im | |
Döschkasten“ oder „Heuhnereten vor Klookschieterr“ ist? | |
„Putengeschnetzeltes an einer scharfen Paprikasahnesauce“ und | |
„Hähnchenbrust auf Blattspinat“. Dass auch hier die Modebewusstsein | |
demonstrieren wollenden Präpositionen „an“ und „auf“ (statt „mit“ … | |
„und“) benutzt werden, ist zwar ein ästhetisches Problem. Aber darüber mu… | |
man hinwegsehen, denn auch diese Gastwirtschaft serviert nicht wie | |
befürchtet Schnitzel auf Hawaiitoast oder Fischbulette an Ketwurstsauce, | |
sondern das, was die Touristenverkostungsindustrie Europas überall | |
bereithält: nichts irre Außergewöhnliches, durchschnittlich gutes Fleisch | |
eben mit Gemüse, Mais- und Erbsenhäufchen „auf Mayodressing“. | |
## Gefriertorte Himbeersahne | |
Vorsicht vor Hunger ist in diesem Bundesland dennoch weiterhin geboten: | |
Folgt man in Angermünde den braunen Schildern „Unesco Weltnaturerbe | |
Buchenwald Grumsin“, landet man 10 Kilometer westlich in einem Urwald | |
zwischen Altkünkendorf und Althüttendorf. Am Ende kommt man an einer | |
Bushaltestelle raus, an der ein in Plastikfolie steckendes Papier verrät: | |
„Die Anerkennung der Unesco des Buchenwalds als Weltkulturerbe erfolgte | |
2011. | |
Nach so kurzer Zeit können wir Ihnen noch kein adäquates touristisches | |
Umfeld bieten. Schrittweise wird unser Dorfgemeinschaftshaus jetzt zu einem | |
Informationspunkt mit Imbissversorgung umgebaut.“ Und weiter unten: | |
„IMBISS-Versorgung: Cafeteria der Rehaklinik Wolletzsee ab 12 Uhr“. Zur | |
Klinik sind es schlappe 15 Kilometer. Dort sitzt man im schönen, alten | |
Parkettsaal eines ehemaligen Jagdschlosses mit Seeblick, muss aber mit | |
Gefriertorte Himbeersahne oder Sahnemarzipan und einem Kännchen Kaffee | |
vorliebnehmen. | |
Die Grumsiner haben mittlerweile ein touristisches Angebot angekündigt, das | |
sich „Kulinarisches Genusswandern“ nennt. Die Anlaufstationen dieser Tour | |
sind eine Molkerei und eine Schnapsbrennerei. Auf dem Zettel an der | |
Bushaltestelle steht übrigens noch Folgendes: „Hilfestellung im Ort: Im | |
Notfall helfen ihnen Altkünkendorfer Einwohner (bei Anwesenheit) auf | |
freiwilliger Basis.“ Man wird dort sicher jemanden finden, der einem eine | |
Stulle schmiert. | |
3 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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