# taz.de -- Beim Schlachter in der Prignitz: Wo alle Schweine Lucy heißen | |
> Schlede ist Schlachter in vierter Generation. Er hat die DDR überstanden | |
> und die Wende danach. Montags kommen die Schweine zu ihm. Ein Besuch. | |
Bild: Montags bei Schlede | |
Meine Mutter und ihre Nachbarin siezen sich. Dabei wohnen die beiden Witwen | |
Haus an Haus in einer Siedlung, seit 64 Jahren. Es gab nie Streit, der | |
Umgang war immer freundlich, siez-freundlich. Guten Morgen, Frau Glasow, | |
guten Morgen, Frau Maußhardt, heute soll es noch regnen. | |
Die beiden Häuser stehen in Baden-Württemberg. Das Du blieb reserviert für | |
die Familie und den engeren Freundeskreis und wurde nur in Ausnahmefällen | |
auf Außenstehende exportiert. Nur weil unser Nachbar, Herr Glasow, als er | |
noch lebte, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und somit „Genosse“ | |
war, wurde er von meiner Mutter geduzt. Sie vermied es möglichst, denn es | |
kam ihr doch merkwürdig vor, ihn zu duzen und seine Frau, die nicht | |
Parteimitglied war, zu siezen. Aber so waren nun mal die Regeln. | |
Nach meinem Umzug in die Prignitz in Brandenburg musste ich neue Regeln | |
lernen. Der Regelfall, jedenfalls in unserem Dorf, ist das Du. Niemand käme | |
hier auf die Idee, seinen Nachbarn zu siezen, es sei denn, jemand hat einen | |
Vollrausch. | |
Ich erkläre mir das so: Früher, in der DDR, war die Zahl der Genossen | |
ziemlich groß, das erhöhte automatisch den Duz-Faktor. In den Betrieben | |
kannte man sich sowieso meist nur mit Vornamen, und überhaupt war der | |
kumpelhafte Umgang auch ein Ausdruck von Gleichheit und Abwesenheit von | |
Hierarchie. Noch heute ist das „Sie“ vor allem für die Neubürger aus dem | |
Westen reserviert. Die siezt man lieber, solange man noch nicht weiß, ob | |
man sie leiden kann. | |
Es dauerte auch bei mir eine Zeit, bis sie mich im Dorf duzten. Ich sagte | |
es nicht laut, aber das Du eines Dorfbewohners war mir mehr wert als | |
tausend Likes auf Facebook. Ich habe gewartet, bis sie es mir anboten. | |
## Alle nennen ihn nur „Schlede“ | |
Ich schreibe das alles, weil ich vor ein paar Tagen zu Schlede ging. | |
Schlede ist Schlachter in Lenzen, dem nächstgelegenen Ort. Alle sagen | |
Schlede zu ihm, seinen Vornamen Jürgen kenne ich nur aus dem Telefonbuch. | |
Ich also zu Schlede: „Tag Herr Schlede. Ich habe noch nie ein Schwein | |
geschlachtet. Ich wollte Sie fragen: Kann ich da mal dabei sein?“ Schlede | |
zu mir: „Du bist doch der Schwabe, der in Eldenburg Wein anbaut. Kannste | |
kommen. Immer montags um achte.“ | |
Meine neuen Nachbarn in Brandenburg sind alle entweder Jäger oder haben | |
früher Hausschweine gehalten und selbst geschlachtet. Ein Tier vom Leben in | |
den Tod zu befördern, ist für sie kein emotional stark besetztes Thema. Für | |
mich schon. Ich esse Fleisch, wollte aber nie wissen, wie das Schwein zum | |
Schnitzel wird. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, ich müsste mir das „Du�… | |
verdienen indem ich ein bisschen werde wie sie und ein Schwein schlachte. | |
Ich war einigermaßen pünktlich um achte. Schlede hatte ich mir ausgesucht, | |
weil ich in Deutschland noch nie eine Metzgerei gesehen hatte wie seine: | |
ein bis zur Decke weiß gekachelter Verkaufsraum von vielleicht zwölf | |
Quadratmetern, die Theke nicht länger als ein Meter fünfzig. Darin liegen | |
ein paar Edelstahlschüsseln mit Fleisch und ohne Preisschild und vielleicht | |
sieben Wurstsorten. Nichts ist extra schön hergerichtet, kein | |
Rosmarin-Stängelchen verstellt den Blick auf das, um was es geht: Wurst und | |
Fleisch. Wenn man eintritt, dauert es ein paar Sekunden, dann kommt | |
Schlede, der mit seinem grauen Bart auch als Seefahrer durchgehen würde, | |
aus dem Hinterzimmer. „Watt darf’s sein?“ | |
Doch dieses Mal nehme ich den Nebeneingang, der Viehtransporter steht schon | |
vor der Tür. Ich rüttle an der Klinke und Schlede schreit von Drinnen: | |
„Nicht drücken. Schieben!“ Er ist gerade dabei das Blut vom Boden in den | |
Abguss zu spritzen, das erste Ferkel des Tages habe ich schon verpasst. Es | |
hängt zweigeteilt von Haken an der Decke. | |
## Lucys letzter Gang | |
„Dann woll’n mer mal“, sagt Schlede und holt aus dem Anhänger das nächs… | |
Ferkel. „Lucy komm, ist dein letzter Gang, auf los, stell dich nicht so | |
an!“ | |
Das Ferkel wackelt in den Schlachtraum, schleckt noch ein wenig Blut vom | |
Fußboden auf, da hat Schlede ihm schon mit der Hochspannungszange zwischen | |
die Ohren gezwackt und es fällt betäubt zu Boden. Ein Schnitt mit dem | |
Messer durch die Halsschlagader und Lucys Blut fließt ebenfalls in den | |
Abguss. „Eines weiß ich: In den Schweinehimmel komme ich nie“, sagt | |
Schlede, als er das tote Ferkel abspritzt, dann mit einem Seilzug hochzieht | |
und die Eingeweide herausschneidet. | |
Klatschend fällt es wieder auf den Boden. Schlede schneidet die Hufe ab und | |
sticht die Augen aus – die einzigen Teile des Tieres, die er nicht | |
verwerten kann. „Soll mich nicht auch noch so blöd angucken.“ Behände | |
wuchtet er das Tier in ein Becken mit heißem Wasser, dann brennt er mit | |
einem Flammenwerfer die Borsten ab und entfernt mit der Glocke, einer Art | |
Reibemesser, die oberste Haut. | |
Schlede: Schlachter in vierter Generation. Sein Urgroßvater hat das | |
Geschäft gegründet, auch zu DDR-Zeiten waren die Schledes immer | |
selbstständig. „Die brauchten uns doch.“ Fleisch war das Beruhigungsmittel | |
der Mangelgesellschaft. „Alles habe ich geschlachtet, auch mal einen Bären | |
vom Zirkus. Der wurde aber vor dem Schlachthaus im Käfig mit dem Gewehr | |
erschossen. Da war der ganze Raum hier voll mit Stasi-Leuten. Die wollten | |
das Fleisch für irgendeinen Bonzen in Berlin.“ | |
## Zerlegt wird Dienstag, Wurst gemacht am Mittwoch | |
Erst die Wiedervereinigung hat Schlede an den Rand des Ruins getrieben. | |
Zunächst hat ihn ein westdeutscher „Geschäftspartner“ um viel Geld | |
betrogen, dann rannte seine Kundschaft in die Supermärkte. Es gibt ihn | |
trotzdem noch. | |
Nach zwei Stunden hängen die Hälften von drei Ferkeln und zwei Sauen von | |
der Decke. Alle hießen übrigens Lucy, „weil bei mir alle Schweine Lucy | |
heißen“. Der Tag ist gelaufen. Zerlegt wird morgen, Wurst gemacht am | |
Mittwoch. Donnerstag und Freitag wird verkauft. Alles er alleine, alles | |
Schlede. | |
Am Donnerstag nach der Schlachtung gehe ich durch die Ladentür. Nach ein | |
paar Sekunden kommt Schlede. „Watt darf’s sein?“ Ich nehme dicke Scheiben | |
vom Bauchspeck, vom durchwachsenen Speck, vom Schinkenspeck, drei | |
Bratwürste, eine geräucherte Schlackwurst, eine halbe Salami und drei | |
Schweinekoteletts. „Macht fünfzehn Euro fünfzehn Cent.“ „Schlede“, sa… | |
ich, „Das kann doch nicht sein, da hast du dich verrechnet.“ Ist aber nicht | |
so. Ist der reguläre Preis. „Will ja nicht reich werden. Will nur | |
überleben.“ | |
23 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Philipp Mausshardt | |
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