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# taz.de -- Fachkräftemangel in Deutschland: Frau Bui rettet die deutsche Wurst
> Ein Fleischer aus Schmalkalden findet keine Azubis mehr – in Thüringen,
> in Deutschland, in Europa. Aber in Vietnam.
Bild: Thi Hong Bui, Auszubildende der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkaden GmbH …
SCHMALKALDEN taz |Schweinelachs, Rinderhack, Brühwürstchen, Glossar eines
deutschen Fleischerlebens, zwischen Schlachtbank und Zerlegung. Ein Leben,
in das die zwanzigjährige Thi Hong Bui gerade hineinwächst, genauso wie in
den weißen Kittel, der ihr bei jedem Schritt um den schmalen Körper
schlackert wie ein lasches Segel. Nicht mehr lang, vielleicht ein paar
Monate, und Buis Schultern werden den Kittel vermutlich ausfüllen. Der
Körper wächst mit seinen Aufgaben, und Thi Hong Bui wird in den nächsten 35
Monaten Kisten tragen, Schweinehälften zerlegen und Rinderrouladen drehen.
Thi Hong Bui wird Fleischerin. Eine Fachkraft, dringend gebraucht auf dem
deutschen Arbeitsmarkt.
Ein Mittwochmorgen im September. Es ist kurz vor acht, seit zwei Stunden
steht Bui an ihrem Platz in der Zerlegehalle der Fleisch- und Wurstwaren
Schmalkaden GmbH Thüringen. Einer der größten Schlachter im Umkreis, 400
Angestellte, Spezialist für Thüringer Rostbratwurst und Pasteten. Ein
weißer Schlauch aus Hallen, Kühlräumen und Büros. Der Geruch von rohem
Fleisch liegt wie eine Decke über der Halle. 12 Grad, die Kälte kriecht
sofort in die Knochen.
Von Thi Hong Bui ist nicht viel zu sehen. Kittel, Haarnetz, schwarzer
Fleece. In der rechten Hand hält Bui ein langes Messer, ein Fleischstück
vor sich, groß wie ein Laib Brot. Bui setzt an, Hautstücke lösen sich,
weißes Fett in Flocken. Handgriffe eines deutschen Fleischerlebens. Für Bui
„gut“. Auch Deutschland findet sie „gut“. Auch wenn sie noch nicht viel…
ihrer neuen Heimat gesehen hat. Sie lächelt. Was soll sie auch sagen? Bui
ist seit einem Monat in Deutschland, steht täglich acht Stunden in der
Kälte und übt einen Beruf aus, den es in ihrer Heimat so nicht gibt.
21 Auszubildende arbeiten in der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH
Thüringen, 14 von ihnen aus Vietnam. Nächstes Jahr kommen vier weitere.
Bui, die beiden Nguyens, die nicht verwandt sind, Pham, Ly und die anderen
sind hier, weil sie eine Lücke füllen, die ohne sie immer weiter
auseinanderklaffen und irgendwann so groß würde, dass Betriebe wie die
Schmalkalden GmbH in ihr versinken. Eine Lücke, die Deutschland jedes Jahr
30 Milliarden Euro kostet, so schätzt das Institut der deutschen
Wirtschaft.
Rund 1,6 Millionen Fachkräfte fehlen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die
Wirtschaft ist im Aufschwung. Die Arbeitslosenquote bei 4,9 Prozent, so
niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. In Teilen von
Baden-Württemberg und Bayern gibt es Vollbeschäftigung. Die Auftragsbücher
sind gefüllt. Nur ist keiner da, der die Aufträge ausführen kann. Immer
länger dauert es, geeignetes Personal zu finden, immer mehr Stellen bleiben
unbesetzt, durchschnittlich 107 Tage lang – 50 Tage länger als vor zehn
Jahren. Die Mehrheit der Betriebe sehen im Fachkräftemangel ein Risiko für
ihre Wirtschaftlichkeit. Die Folge: Zuerst stauen sich die Aufträge. Dann
sinken die Umsätze. Dann zieht die Konkurrenz vorbei.
Ein Dreiklang des wirtschaftlichen Niedergangs, den auch Peter Lesser
kennt. Lesser ist Geschäftsführer der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden
GmbH Thüringen, der Chef von Bui. An diesem Morgen begrüßt er in seinem
Büro, erster Stock, direkt über der Zerlegehalle. Auch hier riecht es nach
rohem Fleisch. Ein weißer Fleischerkittel hängt griffbereit über der Lehne.
Peter Lesser ist 63 Jahre alt und Wurstfachmann. Fester Händedruck,
stämmige Statur, weißes Hemd.
Lesser arbeitete schon in dem Betrieb, als dieser noch Eigentum des Staates
war, 1990 übernahm er ihn mit drei Kollegen. Gemeinsam machten sie die
Firma groß. Mittlerweile beliefert Lesser 41 Fleischtheken im Umkreis: Aldi
in Gotha, Rewe in Weimar, Lidl und Norma in Ohrdruf. Im Oktober verkauft
Lesser seine Würstchen auf der Wiesn in München. Stolz sind sie auf ihre
Wurst in Thüringen, nur herstellen will sie keiner mehr.
Peter Lesser seufzt jetzt schwer. Die Alten scheiden aus und die Jungen
kommen nicht nach. Das Durchschnittsalter in seinem Betrieb liegt bei 43
Jahren. Früher bewarben sich jedes Jahr fünf bis sieben neue Fleischer bei
Lesser. 2011 nur noch drei. „Danach wurde es nicht besser“, sagt er. Lesser
verteilte Prospekte und Gratiswürstchen auf Berufsmessen und in Schulen.
Ohne Erfolg.
Peter Lesser kämpft mit einem wirtschaftlichen Niedergang auf Raten. Bald
könnte niemand mehr da sein, der die Tiere in die Schlachtung führt, der
den Vertrieb leitet. Niemand, der den Kunden die Wurst verkauft.
Fleischer ist neben Restaurantfachmann der unbeliebteste Ausbildungsberuf
der deutschen Jugend. Bundesweit bleibt jede dritte Stelle unbesetzt.
Zwischen 200 und 900 Euro netto verdient ein angehender Fleischer in seinen
Lehrjahren. Das Einstiegsgehalt nach der Ausbildung liegt bei 1.900 Euro
brutto. Nicht viel für ein Leben in 12 Grad, zwischen Schweinehälften und
Leberwurst.
Drei Jahre lang bewarben sich weniger Azubis bei Lesser, als es Lehrstellen
gab. 2013 machte er sich daran, die Lücke zu füllen. Mit Auszubildenden aus
Vietnam.
Ausländische Fachkräfte als Retter des deutschen Handwerks. Kann das
funktionieren? Ein Blick nach Schmalkalden zeigt: Ja. Nicht nur in der
Thüringer Provinz, in ganz Deutschland.
Wenn die politischen Voraussetzungen stimmen und wenn einer wie Peter
Lesser da ist. Einer, der ausländische Fachkräfte als das sieht, was sie
sind. Die einzige Möglichkeit, den Betrieb am Laufen zu halten.
Studien gehen davon aus, dass Deutschland jährlich rund 400.000 Leute aus
Nicht-EU-Ländern braucht, damit die deutsche Wirtschaft nicht absackt. Die
GIZ, die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, holt gemeinsam mit
dem Bundeswirtschaftsministerium junge Vietnamesen als Pflegekräfte nach
Deutschland. Die Bundesagentur für Arbeit versucht, Pflegekräfte auf den
Philippinen, Serbien und Bosnien-Herzegowina zu werben. Eine Kooperation
mit Tunesien ist geplant. Die Bundesregierung arbeitet an einem neuen
Einwanderungsgesetz, das Fachkräften den Weg nach Deutschland erleichtern
soll.
„Längst überfällig“, sagt Peter Lesser. In seinem Thüringer Bariton
schwingt die Gewissheit der Erfahrenen mit. Als die Auszubildenden
ausblieben, wandte Lesser sich an Industrie- und Handelskammer,
Handwerkskammer, und Landesregierung. Man riet ihm, es doch mal mit
Geflüchteten zu versuchen. „Hätt ich ja gern gemacht“, sagt Lesser. Aber
was, wenn sie abgeschoben werden?
## „Zu wem gehe ich, um eine Jeans ändern zu lassen?“
Für Geflüchtete gilt die 3-plus-2-Regel. Drei Jahre Ausbildung plus zwei
Jahre Beschäftigung. Danach liegt es an den Behörden, ob der
Aufenthaltsstatus verlängert wird. Für die Betriebe ein enormes Risiko.
Ausbildung kostet Geld, Zeit und viele Jahre der Erklärung. Ausgaben, die
Betriebe wie der von Lesser nicht investieren, wenn sie nicht wissen, ob es
sich auch lohnt.
„Und außerdem“, sagt Lesser. Er schaut aus dem Fenster. „Können Sie sich
vorstellen, dass hier ein gläubiger Muslim Schweinefleisch verarbeitet“? Er
schüttelt den Kopf.
Weil er zu Hause niemanden fand, fuhr Lesser auf Berufsmessen in ganz
Europa, um seinen Betrieb vorzustellen. Nach Spanien, Rumänien und Polen.
Im Kopf die Hoffnung auf neue Fleischer für Thüringen. Motto: Wenn die
Auszubildenden nicht zu uns kommen, dann wir zu den Auszubildenden. Reisen,
die erfolglos blieben. „Die Spanier waren zu jung für die Sache“, sagt
Lesser. Mit 16 oder 17 gehen wenige jahrelang ins Ausland. Und die Rumänen
und Polen? Im Sommer arbeiten Hilfskräfte aus ganz Europa in Lessers
Fleischerei. Sommer, das ist in Deutschland Grillzeit, und ohne die
zusätzlichen Hände aus Osteuropa, würden den Deutschen die Thüringer
Rostbratwürstchen bald ausgehen. „Da sind gute Leute dabei“, sagt Lesser.
Aber: „Geld verdienen wollen die ja alle, nur eine Ausbildung machen, des
will keiner von denen.“
Weil er in Europa nicht fündig wurde, schaute Lesser noch ein bisschen
weiter in die Ferne, rund 8.500 Kilometer. Und ein bisschen in die
Vergangenheit. In der DDR der 1970 und 80er Jahre arbeiteten vietnamesische
Vertragsarbeiter in deutschen Betrieben. Auch in Schmalkalden.
Lesser erinnerte sich an die gut geschneiderten Jeans nach westlichem
Design und an Strebsamkeit. Beides Dinge, die er schätzt. „Zu wem gehe ich,
wenn ich eine Jeans geändert haben will?“, fragt er. „Zum Vietnamesen“.
Lesser begann, sich kundig zu machen. Er sprach mit Bekannten über deren
Erfahrungen mit den vietnamesischen Kollegen von damals. Was er hörte,
gefiel ihm. Keine Probleme mit der Religion, keine mit dem Essen. Hohes
Ansehen bei deutschen Kunden.
Er las sich ein in die vietnamesische Kultur. Er erfuhr, so erzählt Lesser
es, dass Vietnamesen viel für ihr Land täten. Er erfuhr, dass Vietnam eine
junge Nation sei. Viele junge Menschen auf der Suche nach Arbeit, auch im
Ausland. Peter Lesser beschloss: Das passt.
Ein „privater Kontakt“, wie Lesser sagt, fand, was er suchte: drei junge
Vietnamesen, die bereit waren, seinem Ruf nach Schmalkalden zu folgen. Ganz
reibungslos verlief die Vermittlung nicht. Mittelsmänner hätten die
Jugendlichen in Vietnam angesprochen, erzählt Lesser. Später kam heraus:
Die Jungs mussten ihre Reise nach Deutschland abbezahlen, mit
Wochenendschichten in vietnamesischen Imbissen rund um Schmalkalden. Lesser
ist noch immer bestürzt, wenn er davon spricht. „Wir haben das natürlich
unterbunden.“ Für ihn ein Grund mehr, endlich gesetzliche Regelungen zu
schaffen, die es Betrieben erleichtert, Nachwuchs aus dem Ausland zu
werben.
Einer der drei, die damals angeworben wurden, ist „der Quan“, wie Van Quan
Le von Lesser und Kollegen gerufen wird – man duzt sich bei der Fleisch-
und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. Im Juli 2014 landete er mit
zwei anderen angehenden Fleischern am Flughafen Frankfurt, sein altes Leben
in einem Koffer.
An diesem Vormittag sitzt er auf einem Drehstuhl im Schlachtereibüro, einem
Kabuff mit Schreibtischen und viel Papier. 11.30 Uhr, Zeit für eine Pause.
Le, Mitte 20, ist klein und stämmig, vielleicht auch von den letzten vier
Jahren im Schlachthof. Sein weißer Kittel ist fleckig braun. Vielleicht
Blut, vielleicht Reste vom Wurststopfen. Aus der Halle nebenan dringt das
Quieken der Schweine auf dem letzten Gang zur Schlachtbank.
## Typisch deutsch: Saubere Luft. Auto fahren. Fußball schauen.
Deutschland sei anders gewesen als in seinen Vorstellungen, sagt Le.
Ruhiger, aufgeräumter. Le kommt aus Hanoi, der Hauptstadt Vietnams,
Einwohnerzahl: 7,5 Millionen. Wohntürme, Menschenmassen, Smog.
Sein Deutsch ist noch etwas holprig, manche Wörter schneidet er ab, andere
dehnt er. Ob Le deswegen einsilbig ist oder weil er ein stiller Typ ist,
wird nicht ganz klar. Was ihm gut gefällt: die saubere Luft. Was er typisch
deutsch findet: Auto fahren und Fußball schauen. Was er vermisst: Nur seine
Familie, sagt Le. Und dann: „Okay, und das Essen.“ Für beides hat er eine
Lösung gefunden. Skype und einen vietnamesischen Shop in Erfurt, „der
liefert ab 200 Euro umsonst.“ Seitdem macht er Sammelbestellungen.
In Vietnam hatte Van Quan Le gerade sein Abitur gemacht. Dann kam das
Angebot aus Deutschland, und er griff sofort zu. Der Durchschnittslohn in
Vietnam liegt bei 160 Euro pro Monat. Im Thüringer Schlachthof verdient Le
mittlerweile etwa das Zehnfache. Über seinen Job sagt er: „Es ist gut, was
mit den Händen zu machen.“
Seine Abschlussprüfung im vorigen Jahr absolvierte er als Jahrgangsbester.
Das erzählt nicht er, das erzählt ein stolzer Peter Lesser. Einmal in der
Woche spielt Le Tischtennis in einem Verein. Wenn er freihat, schaut er
sich Deutschland an. Bisher war er in Hamburg „sehr schön“, Würzburg,
Nürnberg, München und Berlin. Dort haben Verwandte seit den 1980er Jahren
einen Blumenladen.
Vor acht Monaten ist Le Vater eines Mädchen geworden. Seine Frau kommt
ebenfalls aus Vietnam. Gemeinsam wohnen sie in einem großen Zimmer im
Lehrlingsheim der Firma. Einem modernen zweistöckigen Flachbau, gleich
gegenüber vom Schlachthof. Gemeinschaftsküche mit Reiskochern,
Gemeinschaftsbäder, hölzerne Tisch-Schrank-Kombos in den Zimmern. Lesser
ließ den Bau 2015 für seine vietnamesischen Auszubildenden herrichten. „Für
die Mädchen und Jungen“, wie er seine Auszubildenden nennt.
Schaut man sich Les Werdegang an, könnte man sagen, er ist so was wie der
Vorzeige-Azubi des Betriebs. Einer, dem man Verantwortung übergibt. Trotz
des rumpeligen Starts, trotz der Sprachprobleme. Le wird bei Lesser
bleiben. Vielleicht ist deutsche Wurst nicht unbedingt seine Leidenschaft,
aber durchaus eine Chance, die er zu nutzen weiß.
Das findet auch Peter Lesser. Mittlerweile arbeiten 17 Vietnamesen für die
Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. Ginge es nach Lesser,
wären es noch viel mehr. 2016 stieg die Industrie- und Handelskammer Suhl
in Lessers Projekt ein, die Landesregierung stellt finanzielle
Unterstützung und einen organisatorischen Rahmen. Der sieht vor, dass
jährlich 40 Auszubildende aus Vietnam nach Thüringen kommen. Die Akquise
läuft über eine vietnamesische Unternehmensberatung in Hanoi. Geworben wird
in technischen Hochschulen und Colleges. Kommen kann jeder mit einem
Schulabschluss und genügend Geld für den Flug. Einzige Voraussetzungen: ein
Sprachkurs. Level B2, und eine erfolgreiche Prüfung am Goethe-Institut in
Hanoi. Mittlerweile machen 52 junge Vietnamesen eine Ausbildung in der
Region. Beim Glaser, in der Gastronomie und im Metallbau.
Ein Abkommen zwischen Deutschland und Vietnam sichert den jungen Azubis
ihren Aufenthalt. Drei Jahre Ausbildung, mit Option auf Verlängerung, wenn
Arbeit vorhanden ist.
Das Projekt ist erfolgreich. Im August 2019 kommen die nächsten 40. In
diesem Jahr sei die Nachfrage doppelt so hoch gewesen wie das Angebot,
schreibt die Handelskammer Suhl in ihrer Broschüre.
Nicht nur Peter Lesser hat zu kämpfen mit der Lücke. In Thüringen werden
bis zum Jahr 2030 rund 300.000 Fachkräfte fehlen. Lesser erzählt von
Betrieben aus der Region, die kurz vor dem Ruin sind, weil sie keinen
Nachwuchs mehr finden. Elektriker, Schreiner, Polsterer. „Auslaufmodelle“,
sagt Lesser.
Schuld an dem Nachwuchsmangel gibt Lesser der deutschen Bildungspolitik,
die suggeriere: Uni oder nichts. 2,8 Millionen Studenten sitzen in
deutschen Hörsälen, doppelt so viele wie Azubis in Berufsschulen.„Die
Jugend hat keinen Kontakt mehr zum Handwerk“, sagt Lesser. Nicht in der
Schule, nicht im Elternhaus. Das Schnitzel komme aus der Packung, das
Wasser aus dem Hahn und der Strom aus der Steckdose. „Niemand weiß ja mehr,
wie das funktioniert!“ Lesser ist jetzt sichtlich angefressen von dem
Niedergang seines Standes. Er redet sich ein bisschen in Rage. Das
Schnitzel, das müsse dann auch noch unter 1,99 Euro kosten, sagt er. Da sei
es ja kein Wunder, dass man den Angestellten keine 20 Euro pro Stunde
zahlen könne. Lesser atmet aus. Seinen Auszubildenden bezahlt er 800 im
Monat. Egal ob aus Deutschland oder Vietnam. Woanders gibt es weniger.
Im nächsten Jahr bekommt Lesser vier neue Azubis dazu, alle aus Vietnam.
Vier neue Azubis für Jens Ulrich, 53 Jahre alt, seit 1988 Ausbilder bei der
Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. An diesem Vormittag
steht Ulrich neben Thi Hong Bui, der jungen Frau in dem zu großen Kittel,
in der Zerlegehalle. Ulrich, ein Mann mit Schnauzer und Halbglatze,
überragt Bui um gefühlt einen Meter, auch im Umfang. Am Nebentisch
schneidet ein Kollege Schweineohren zurecht. Fast allen hier hat Ulrich das
Handwerk beigebracht. Braten machen, Därme bestimmen, Wurst stopfen. Ob
deutsch oder vietnamesisch, egal, sagt Ulrich. „Manche sind fit, manche
brauchen einen kleinen Stoß.“
Er besieht sich Buis Tagewerk. Rosafarbene Fleischbrocken in roten Kisten.
„Was machst du heute?“, fragt Ulrich. So knapp und deutlich, wie es geht.
„Schultern“, sagt Bui.
„Und später?“
„Rouladen.“
Ulrich nickt. Die Schulter sehe gut aus, sagt er. Schön sauber. Kein Fett,
keine Sehnen.
Es war Jens Ulrich, der Van Quan Le den ersten Eindruck von Deutschland
vermittelte. 2014 nahm er die drei jungen Vietnamesen bei sich zu Hause
auf, damals hatte der Schlachthof noch kein eigenes Lehrlingsheim. Ulrichs
Söhne waren gerade bei ihm ausgezogen, und der Hof wurde ihm zu groß.
Vietnamesisch hat Ulrich in dieser Zeit nicht gelernt. Kein Hallo, kein
Tschüss. Auch bei der Küche hält er es lieber „altdeutsch“, wie er sagt.
Eins sei ihm aber in der Zeit klar geworden, sagt Ulrich.
Reis sei nicht gleich Reis.
Eines Abends sei ein Auto auf seinen Hof gefahren, erinnert sich Ulrich,
Bremer Kennzeichen. „Ich dachte noch: Wat will der Typ hier“. Im Kofferraum
lagerten drei Kilo Reis aus Vietnam. Eine Bestellung von Van Quan Le.
Ulrich baute seinem Mitbewohner eine Speisekammer.
Später wird Ulrich sagen, dass es wichtig sei, dass die Auszubildenden sich
zu Hause fühlen in Schmalkaden. „Wir wollen ja, dass die bleiben.“
Das Gleiche sagt auch der Vertreter der Handelskammer. In dem
Vietnam-Projekt ist eine Sozialpädagogin eingebunden, ebenfalls aus
Vietnam. Sie hilft bei der Eröffnung von Bankkonten und tröstet bei
Heimweh. Wer in einen Tischtennis-Verein will, den meldet sie an, sie
organisiert Ausflüge in die Umgebung. Ein Vertreter der IHK Suhl nennt
diese Form der Betreuung in einem Gespräch „Klebepunkte“. Ein anderes Wort
wäre vielleicht: Verbundenheit.
Peter Lesser hat in den letzten Jahren viele Anrufe bekommen, Betriebe aus
ganz Deutschland wollten wissen, wie das geht mit den Fachkräften von
außerhalb. In Sachsen gibt es mittlerweile zwei Projekte, die Auszubildende
aus Vietnam nach Deutschland holen. Ein Gastronom aus Sachsen-Anhalt
vermittelt Azubis aus Indonesien. Wie viele dieser Programme es in ganz
Deutschland gibt, ist nicht erfasst. Die Deutsche Industrie- und
Handelskammer hat keine Zahlen dazu. Auch die Agentur für Arbeit nicht.
2020 könnten vorerst die letzten Auszubildenden nach Schmalkalden kommen.
Die öffentliche Förderung für das Projekt läuft aus. Ob es danach
weitergehe, das müsste man evaluieren, heißt es aus der Landesregierung
Thüringen. Ausschlaggebend sei auch, ob weiterhin Bedarf bei den
Unternehmen bestehe.
Thi Hong Bui sitzt in ihrer Mittagspause in der Kantine. 12 Uhr,
„Mahlzeit!“, ruft es von allen Seiten. Auch hier, alles weiß: die Stühle,
die Tische, die Kittel der Kollegen. Statt Wurst isst Bui Glasnudeln aus
einer Tupperbox mit Stäbchen. Sie erzählt, dass sie bald einen Karatekurs
besucht und irgendwann mal nach Spanien reisen will. Ob sie nach ihrer
Ausbildung in Deutschland bleibt?
Sie weiß es noch nicht.
9 Nov 2018
## AUTOREN
Gesa Steeger
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