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# taz.de -- Astrid Lindgren und die Rechten: Kampf um Bullerbü
> Astrid Lindgrens Geschichten werden von Rassisten als Projektionsfläche
> genutzt. Nun wehren sich Lindgrens Erben gegen die Vereinnahmung.
Bild: Arme Pippi – weil blauäugig und rothaarig projizieren Rechte ihr rassi…
Mit den großen und kleinen Abenteuern starker Kinderfiguren wie Pippi
Langstrumpf, den Brüdern Löwenherz oder Ronja Räubertochter ist Astrid
Lindgren eine der weltweit bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen.
Die Erzählungen der 2002 verstorbenen Schwedin wurden in 107 Sprachen
übersetzt, einige verfilmt. Lindgrens Bücher finden aber nicht nur den Weg
in viele Kinderzimmer, sondern oft auch in politische Diskurse – mal durch
Kritik von links, mal durch Versuche der [1][Aneignung von rechts].
2017 berichteten einige Medien gar, eine schwedische Bibliothek habe „Pippi
Langstrumpf“-Bücher aus ideologischen Gründen verbrannt. Die Bibliothek
widersprach der Darstellung zwar, die Meldung zeigte aber einmal mehr, dass
Lindgrens Geschichten nicht nur zur Lieblingslektüre, sondern auch zum
Politikum taugen.
Dabei wirken viele der Bücher auf den ersten Blick recht harmlos. In „Wir
Kinder aus Bullerbü“ etwa erzählt ein siebenjähriges Mädchen von seinem
Leben in einem winzigen Dorf. „Bullerbü“ wird deshalb oft auch als Metapher
verwendet: für eine heile Welt, in der Kinder den ganzen Tag am Bach oder
im Heu spielen. Durch eine nationalistische Brille kann Bullerbü aber
auch anders gelesen werden, nämlich als Schablone für ein Schweden, in dem
blonde, blauäugige Kinder mit ihresgleichen spielen.
Das hatte wohl auch der Vorsitzende der [2][rechtspopulistischen Partei]
Alternative für Schweden, Gustav Kasselstrand, im Kopf, als er sich im Mai
in einer Rede in Lindgrens Geburtsort Vimmerby auf die Autorin bezog. „Ich
verteidige Schweden, das schwedische Volk, und ich stehe dazu, dass ich
Bullerbü zurückhaben möchte“, sagte Kasselstrand da. Dem Flüchtlingskind
Sinan aus Afghanistan ziehe er Michel aus Lönneberga vor.
## Debatte über das N-Wort
Ihre Geschichten mit rechtem Gedankengut in Verbindung bringen dürfte kaum
im Sinne der Schriftstellerin gewesen sein. Davon ist ihr Enkel Olle Nyman
überzeugt. Er ist CEO der Astrid Lindgren Company, die das Werk der
Schriftstellerin verwaltet. In einem offenen Brief in der Zeitung Dagens
Vimmerby, die auch von Kasselstrands Rede berichtet hatte, wandte sich
Nyman an den Politiker. „Dass Sie Michel aus Lönneberga über ein
Flüchtlingskind stellen, ist eine direkte Beleidigung von allem, woran
Astrid Lindgren glaubte“, schreibt er. Seine Großmutter habe jedwede
rassistische Unterscheidung und Diskriminierung von Menschen missbilligt
und Nationalismus verabscheut. Nyman stellt in dem Brief klar: „Die
‚Alternative für Schweden‘ ist so weit von Astrid Lindgrens Werten
entfernt, wie etwas nur sein kann.“
Auch Silke Weitendorf, Verlegerin des Oetinger-Verlags, der Lindgrens
Bücher in Deutschland herausgibt, hat die Autorin persönlich und als sehr
politische Person gekannt. „Sie empfand Unverständnis und Furcht gegenüber
dem Wiedererstarken rechter Kräfte in Schweden und in Deutschland.“ Dass
Stimmen von weit rechts versuchen, Lindgren und ihre Geschichten für ihre
Ideologie zu vereinnahmen, sei trotzdem nicht zum erste Mal passiert,
erzählt Nyman der taz. Angesichts einer erstarkenden Rechten in Schweden
könnte man zwar vermuten, dass das zunehmend häufig geschieht. Nyman
beobachtet aber eher das Gegenteil, er vermutet: „Welche Position Astrid
eigentlich hatte, ist mittlerweile allen klar. Deshalb ist sie für diese
Leute nicht mehr so interessant.“
Trotz ihrer antidiskriminatorischen Haltung taucht Lindgrens Name immer
wieder im Zusammenhang mit Rassismusvorwürfen auf. Vor allem, dass sie das
N-Wort verwandt hat, wurde häufig kritisiert. Die Wissenschaftlerin Eske
Wollrad etwa veröffentlichte 2010 einen Aufsatz über „Kolonialrassistische
Stereotype und weiße Dominanz in der Pippi-Langstrumpf-Trilogie“. Auch von
anderer Seite wurde das Abdrucken rassistischer Begriffe und Klischees in
Kinderbüchern problematisiert.
Bei der Debatte geht es nicht nur um Sprache: Auch die Stellung von Pippis
weißem Vater, der als König über die Bewohner*innen einer Südseeinsel
herrscht, reproduziert zum Beispiel kolonialistische Muster. Natürlich ist
„Pippi Langstrumpf“ nicht der einzige Kinderbuchklassiker, der in solcher
Hinsicht problematisch ist. Auch an Michael Endes „Jim Knopf“ oder Ottfried
Preußlers „Kleiner Hexe“ wurde die Verwendung des N-Worts kritisiert. Die
diskriminierenden Begriffe in „Pippi Langstrumpf“ hat der Oetinger Verlag
2009 ersetzt, und bereits zuvor waren sie, so Weitendorf, mit erklärenden
Fußnoten versehen worden.
Lindgren wurde 1907 geboren, das erste Pippi-Buch schrieb sie 1944. Zu
einer Zeit also, in der es noch weniger Bewusstsein für die rassistischen
Hintergründe solcher Darstellungen gab und das N-Wort noch
allgemeingebräuchlich war. Lindgrens Erben hatten sprachliche Eingriffe
lange untersagt. Weitendorf erinnert sich, dass auch Lindgren selbst die
Verwendung des Begriffs verteidigt habe: Es habe damals eben keine
alternativen Begriffe gegeben. Vor einer Weile wurden aber auch in Schweden
entsprechende Änderungen vorgenommen. Nyman erzählt, er sei überrascht
gewesen, dass die Reaktionen darauf überwiegend positiv ausfielen.
Da praktisch alle in Schweden Lindgrens Geschichten kennen, bieten sie sich
auch als Referenzpunkte an. So habe sich vor den schwedischen Wahlen im
vergangenen Jahr die Hälfte aller Parteivorsitzenden auf eine
Lindgren-Figur als Vorbild berufen, sagt Nyman. „Normalerweise ist das ja
auch harmlos. Es wird nur problematisch, wenn sie dabei so tun, als hätte
Astrid ihre rechte Agenda geteilt.“
So bediente sich auch das mit der AfD assoziierte Onlinemedium Freie Welt
schon 2017 einer Argumentation ähnlich der Kasselstrands, um gegen
Migranten zu hetzen: Derentwegen sei Schweden nicht mehr das Land von
Lindgren, Pippi und Bullerbü. Ein so entschieden rassistischer Bezug auf
Bullerbü ist auch in Deutschland aber eher die Ausnahme.
Das Schlagwort „Bullerbü-Syndrom“ beschreibt traditionell eher die
Sehnsucht nach dem klischeehaften sozialdemokratisch und multikulturell
geprägten Bild, das viele Deutsche von Schweden haben. Viele Medien
brachten den Rechtsruck in der schwedischen Parteienlandschaft entsprechend
mit dem Ende dieses Bullerbü in Verbindung. Für rechtsextreme Deutsche
scheint Bullerbü inzwischen aber nicht ein soziales Schweden ohne
Rassismus, sondern eines ohne Migration zu beschreiben.
„Vor 100 Jahren war Schweden noch sehr weiß. Jetzt ist das anders“, sagt
Olle Nyman. Hätte Astrid Lindgren heute also über ein anderes Bullerbü
geschrieben? Über ein Schweden, in dem Michel Seite an Seite mit Sinan
gespielt hätte? Nyman meint dazu: „Wäre Astrid in den Achtzigern oder in
den Sechzigern geboren worden und würde ihre Bücher heute schreiben, dann
würden sie sicher diese Zeit reflektieren. Aber nicht aus politischen
Gründen. Sie hat einfach die Welt beschrieben, die sie selbst gekannt hat,
ihre eigene Kindheit.“
## Eine neue Pippi
Versuche, Lindgren-Geschichten in die Gegenwart zu holen, gab es bereits.
Die Autorin Gunilla Lundgren ließ sich von Pippi Langstrumpf zu einem
Hörspiel mit einer gleichnamigen Protagonistin inspirieren. Diese Pippi ist
Romni und lebt in einem Wohnwagen in einem Vorort von Stockholm. Das sei
jedoch ein Projekt für Jugendliche gewesen und erzähle eine ganz neue
Geschichte, sagt Nyman. Er findet: „Es ist etwas anderes, ob man die
originale Geschichte verändert oder eine neue schreibt, die davon
inspiriert ist.“ Veränderte Versionen ihrer Bücher erlaubt die Astrid
Lindgren Company deshalb nur in Ausnahmefällen. Auch Weitendorf findet die
Abwägung schwierig: „Inwieweit sagt man: Das ist ein Klassiker, das lässt
man so? Inwieweit muss überlegt werden, was Kinderbücher vermitteln
sollten?“
Wie Lindgren sich zum Kapern ihrer Geschichten von rechts positioniert
hätte, darin scheinen sich alle, die sie kannten, einig zu sein. „Astrid
war ein politischer Mensch, das ist auch durch ihre Kriegstagebücher
belegt. Sie hat sich für Minderheiten und Kinderrechte eingesetzt und mit
ihrer Einstellung nicht hinter dem Berg gehalten“, sagt Weitendorf. Und
auch ein Blick in Lindgrens Romane verrät manchmal schon, dass sie keine
Freundin nationalistischen Gedankenguts gewesen sein dürfte. So ist die
Geschichte, in der Michel anstelle der schwedischen Flagge seine kleine
Schwester eine Fahnenstange hochzieht vielleicht auch ein Symbol dafür, wie
Astrid Lindgren und ihre Figuren dem Nationalismus eine Absage erteilen.
4 Jul 2019
## LINKS
[1] /Kurz-vor-den-Wahlen-in-Schweden/!5531153
[2] /Parlamentswahl-in-Schweden/!5533876
## AUTOREN
Lilly Schlagnitweit
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