# taz.de -- Kurz vor den Wahlen in Schweden: Unruhe im Volksheim | |
> Was ist nur aus dem linken Sehnsuchtsland geworden? Unser Autor, der dort | |
> seit 30 Jahren seine zweite Heimat hat, ist erschüttert. | |
Bild: Aus der Traum vom Sehnsuchtsort Bullerbü | |
Was war das für ein göttlicher Sommer in Schweden – nur zum Mittsommerfest | |
rund um den 23. Juni war das Land zwischen Gällivare eben oberhalb des | |
Polarkreises und dem Hafenstädtchen Yystad eher verregnet, der Himmel mal | |
nicht „oskyldigt blå“, unschuldig blau, wie es in einem Lied des | |
ESC-Teilnehmers Tommy Körberg heißt. | |
Aber sonst? Warm, ja, heiß – und neulich noch waren die Wälder und Wiesen | |
in Småland im Süden des Landes gülden beschienen, das Laub sattgrün. Das | |
sah dann alles sehr so aus, wie man sich die Atmosphäre in Astrid Lindgrens | |
Musterdorf Bullerbü oder den Hof von Michel aus Lönneberga fantasiert. | |
Friedlich und ausgeruht, alles nach Maß und Mitte, lätt och lagom, wie man | |
im Schwedischen sagt. Was antiextrem, balanciert und ein bisschen auch | |
„allen wohl und niemand weh“ meint: Bloß nichts Überhitztes, bitte! | |
Nein, Schweden badete nie in mediterraner Leidenschaft, das mag mit den | |
starken evangelischen Traditionen, den eher bäuerlichen Wortkargheiten oder | |
der eingeübten Kultur des Ausgleichs zu tun haben: Einvernehmen ist | |
wichtig, Konsens. Streit ist zu vermeiden. | |
Doch es gibt Hader, aktuell, und man sieht das nicht auf Anhieb, nicht | |
jedenfalls, wenn man an den schön in Falunrot gestrichenen Häuser jenseits | |
der Städte vorbeifährt. In der Storgatan von Växjö etwa, der Hauptstadt des | |
Bezirks Kronoberg, zu dem auch das Astrid-Lindgren-Småland zählt, ist | |
Wahlkampf. Und nur dort, in der Fußgängerzone, haben die Parteien ihre | |
Foren, bieten Kaffee und Kekse an und zeigen ihre Kandidat*innen vor. Das | |
meiste Publikum aber haben – was für ein Schreck – die Schwedendemokraten. | |
[1][Die Partei, die jene politische Gelassenheit, die Schweden seit fast | |
100 Jahren eint, erschüttert.] | |
Nicht Dolce Vita, sondern Knäckebrot | |
Nein, diese Rechtspopulisten sehen nicht aus wie ein Mob in Chemnitz, die | |
Leute dort haben auch nicht dieses gewisse Timbre des | |
Aufgeregt-Metallischen, diese giftige Besserwisserei. Sie tun, was alle | |
tun: Sie reden ruhig, sie werden nie ausfällig, sie wirken, ja doch, | |
sachlich. Sätze, die oft mit einem bedachtsamen „Ja, ha …“ beginnen: „… | |
ich würde gern anmerken …“ Beiträge, die immer defensiv klingen, wie eine | |
Entschuldigung. Und sie sind populärer denn je, ein Fünftel der | |
Wählerzustimmung traut man dieser Partei zu. Das schockiert wahrscheinlich | |
auch viele Schweden und Schwedinnen selbst, aber gewiss die Deutschen, die | |
dort besonders seit den achtziger Jahren so etwas wie eine zweite Heimat | |
fanden, leerstehende Häuser in den Wäldern aufkauften und sich ihre | |
persönlichen Bullerbüs schufen. | |
Um es persönlich zu sagen: Stiftete bei anderen die Toskana Sehnsüchte, | |
waren es bei mir bestimmte Bilder und Klänge, die Schweden als Land des | |
Besseren aufriefen. Schweden war nicht Dolce Vita, sondern Knäckebrot mit | |
schönen Marmeladen, mit feiner Fischkost und schönem Geschirr. Ein Land, in | |
dem Herbert Wehner gern Urlaub machte, in den Sechzigern, als der Staat | |
noch stark war und das Leben im Aufbruch. Ein Weltflecken, der geprägt ist | |
nicht allein von der Literatur Astrid Lindgrens, auch die grellen und | |
gottesfürchtigen Filme Ingmar Bergmans zählen dazu, die ländliche Musik, | |
die nicht nach „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ klang, sondern wehmütig und | |
weich – auch sie lätt och lagom. | |
Nicht zu vergessen, dass Schweden einem Willy Brandt sicheres Asyl bot und | |
ein Grab dem emigrierten deutschen Schriftsteller und Antinazi Kurt | |
Tucholsky, in Mariefred, wo auch sein „Schloss Gripsholm“ steht. Dass Ikea | |
als demokratische Interieurkette von Älmhult aus seine Globalisierung | |
begann – auch das war nicht unattraktiv, wenngleich sich deren Gründer, | |
Ivar Kamprad, als Freund der Nazis in Jugendjahren hervorgetan hatte. | |
Schweden – das waren die Hochämter der Wissenschaft in Form der | |
Nobelpreise, aber auch die immer ein wenig melancholische Musik von Abba; | |
das war eine erfolgreiche Arbeiterbewegung, die über die meisten Dekaden | |
seit den zwanziger Jahren am Volkswohlstand durch hohe Steuerbelastungen | |
erheblich Anteil hatte. Ein Volksheim sollte entstehen, so war der | |
sozialdemokratische Plan, und es wuchs ja auch, eine Art industriell | |
fundierte Zugewinngemeinschaft für alle, auch für die Proletarier. | |
Schweden – das sah in diesem Sommer 2018 wie gelackt aus, fast wie ein | |
gesamtbotanischer Garten mit vielen Häusern in Wäldern und wenigen Städten, | |
Stockholm, Göteborg und Malmö. Dass dieses imaginierte Idyll auch Schatten | |
hatte, jedenfalls seit zwanzig Jahren von Nervosität heimgesucht wird, | |
dokumentierten nicht allein die Politkorrektheitsverschwörungsgeschichten | |
des verstorbenen Henning Mankell: In seinen Romanen war keine Rede von | |
Kriminalität allein, dies auch, sondern vom Verhängnis schlechthin: Er | |
beschrieb eine Welt, die das gute Schweden unter sich begräbt. | |
Er war ein Autor mit linkem Verständnis, ein Stubenradikaler, einer, der | |
sich die Schrecken der Welt übergrell ausmalte und daraus blutigen | |
Politpornohorror zimmerte – die Welt als Bedrohung. Und die | |
Schwedendemokraten bedienen genau diese Gefühle, die Angst vor Fluten aus | |
aller Welt, die Schweden überschwemmen könnten, auf ihre Weise: Flüchtlinge | |
sollen keine mehr kommen dürfen, manche von ihnen sagen auch, es sollte | |
einen Swexit geben. Alles soll wieder wie früher sein. Und wird es ja auch. | |
Die Wehrpflicht ist wieder eingeführt worden, auf Gotland wird gerade eine | |
Militärbasis aufgebaut. Die Not der Welt soll draußen bleiben, man will | |
sich ihrer erwehren. | |
Eine Szene wie vor dem Kaufhaus Börjes in Tingsryd soll das Bild der | |
Saubermänner nicht mehr verunzieren: Seit vielen Jahren sitzt vor der Tür | |
des Ladens eine Romafrau – und bettelt. So wie viele es tun, man kennt es | |
aus Berlin. Aber kleine Münzen wenigstens bekommen zu wollen, das ist für | |
die allermeisten Schweden ein moralisches No-go: Man arbeitet für Geld – | |
und bittet um keine Spenden für nichts. | |
Dabei hat Schweden eine ergreifend erfolgreiche Geschichte der | |
Einwanderungen bewältigt – weil es so gewollt war. Syrer kamen in den | |
Siebzigern, vietnamesische Boatpeople sehr viele, Chilenen nach dem | |
blutigen Militärputsch 1973 gegen die sozialistische Regierung Allende, | |
Bürger und Bürgerinnen, die aus der Sowjetunion flohen, besonders aus dem | |
Baltikum, Jugoslawen, Griechen, Türken – Schweden, so war der politische | |
Konsens bis hin zu den Konservativen, ist stolz darauf, Bedürftigen ein | |
neues Heim zu bieten. | |
Kein Anschluss ans Leben | |
Ohne die Menschen, die eingewandert kamen, gäbe es gerade in den kleinen | |
Städtchen kaum Gastronomie, die meisten Pizzerien und Gatuköks (wie Imbisse | |
auf Schwedisch heißen) sind fest in migrantischer Hand: | |
dienstleistungsbeflissen und sich stets darüber bewusst, dass sie nur | |
Billigware anbieten können, denn der gewöhnliche Schwede ist sparsam, | |
besser: geizig bis zur Pingeligkeit. | |
Aber die Nervosität, die die Schwedendemokraten jetzt abzuschöpfen | |
beabsichtigen, hat ja ihre Gründe im wahren Leben. Niemand hungert, schon | |
lange nicht mehr, aber die Renten steigen nur mäßig. In den Wäldern wollen | |
die Jungen kaum noch leben. [2][Die medizinische Versorgung gerade in den | |
bevölkerungsarmen Gebieten im Norden] oberhalb von Stockholm – dünn. Es | |
sind dies freilich alles Probleme, die es überall in Europa gibt: Dörfer, | |
die über keine Versorgungseinrichtungen mehr verfügen, in denen die Polizei | |
als Sicherheitssymbol weit ist und der öffentliche Nahverkehr seinen Namen | |
nicht verdient. | |
Und dies in einem Staat, der einst alles darangesetzt hat, selbst in | |
verstecktesten Gebieten Verhältnisse wie in den Städten zu schaffen. Der | |
letzte Coup war vor einigen Jahren eine Regierungsaktion, die in | |
Deutschland als Abwrackprämie durchgeführt wurde – hierzulande durfte man | |
sich ja ein neues Auto kaufen, ein industriesubventionierendes | |
Hilfsprogramm. In Schweden schützte man keine Automobile, dafür förderte | |
man Glasfaserkabel in wirklich sehr entlegene Gegenden: bestes WLAN für | |
alle und überall. | |
Doch daran, dass die Jungen die Provinzen verlassen, ändert das nichts. | |
Selbst die vielen Flüchtlinge, die ins Land kamen und bis Ende 2016 auch | |
alle ins Land gelassen wurden, wollen dort nicht hin – viel zu weit weg für | |
irgendeinen Anschluss ans Leben. | |
Schmuddelkinder, die nicht reinpassen | |
Auch in Småland gilt das. Es gilt aber auch, dass die Kriminalitätsrate in | |
Schweden gering ist; Gewalt gegen Menschen ist selten geworden, die Polizei | |
hat sich überwiegend um Einbrüche zu kümmern. Dass in vielen migrantisch | |
geprägten Wohngebieten, bei denen es sich im Übrigen keineswegs um „Slums“ | |
handelt, die Jugend-Gewaltraten höher sind, wäre ein Grund, | |
politisch-gesellschaftlich aktiv zu werden – aber die Schwedendemokraten, | |
die politisch Ewigkeitssommer ohne die vielen „Fremden“ versprechen, | |
[3][nutzen die Bilder von abgefackelten Autos, die Berichte von | |
Tötungsdelikten für ihre eigenen, propagandistischen Zwecke]. Tatsächlich | |
beängstigend aber sind Bilder, die jüngst aus Huskvarna gezeigt wurden, wo | |
ein den Roma angehörender Mann aus Rumänien in einem Park getötet wurde: | |
von so schwedischen Schweden, wie es nur irgend geht. | |
Auch das ist eben in diesem feinen Sommer zu merken gewesen: dass die | |
Menschen, die nach Schweden kamen, um dort eine Zukunft zu suchen, von | |
vielen als Schmuddelkinder empfunden werden – sie passen nicht in diese | |
gewisse Art von Sauberkeit, die auch in den Geschichten von Astrid Lindgren | |
anklingt. Man hatte sich in seiner Wohlhabenheit eingerichtet – und, so die | |
Populisten, muss jetzt hungrige neue Bürger*innen gewärtigen. | |
Nicht, dass die Schwedendemokraten die Macht übernehmen könnten, sie binden | |
nicht die Mehrheit zusammen. Aber die Unruhe ist ja da, vieles ändert sich. | |
Und dass die Welt von früher so nicht mehr ist, bemerkt man bei einem Blick | |
in die Gärten der roten Häuser in den Wäldern. Die Äpfel, die dort jetzt | |
prall an Bäumen hängen, werden nicht geerntet. Es lohnt sich nicht mehr; | |
diese Frucht ist in Supermärkten billiger zu haben. Man hört es minütlich: | |
Plopp! Wieder ein Apfel zu Fallobst geworden, Abertausende überall. | |
Delikatessen für die Elche, die sie nach Einbruch der Dunkelheit futtern. | |
Dass da wie in Bullerbü Kinder die Früchte einsammeln – das war einmal. | |
8 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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