# taz.de -- Gewalt und die Wahl in Schweden: Ausgegrenzt und bewaffnet | |
> In Malmö häufen sich Schießereien. Schuld sei die Einwanderung, hetzen | |
> Nationalisten. Andere machen die verpatzte Sozialpolitik verantwortlich. | |
Bild: Kein Schweden-Krimi: Ort eines Verbrechens in Malmö, Juni 2018 | |
MALMÖ taz | „Es war Frühling. Plötzlich hörten wir Schüsse, dort drüben | |
beim Friseur“, erzählt Ali Ajouz und blinzelt in die Augustsonne. Er zieht | |
an seiner Zigarette. „Der Typ, den die kriegen wollten, ließ sich gerade | |
die Haare schneiden. Er wurde angeschossen, überlebte aber.“ Abgespielt | |
haben sich diese Szenen in Holma, einem Hochhausbezirk am Stadtrand des | |
südschwedischen Malmö. | |
Ajouz ist hier aufgewachsen. Er ist 20 Jahre alt. Mit seinen Freunden | |
spricht er schwedisch, mit den Eltern arabisch. Am Sonntagnachmittag ist | |
die Stimmung in Holma entspannt: Der Friseur fegt den Salon aus, eine Frau | |
radelt mit Einkaufstüten vorbei, ein Vater schaut seinen Kindern beim | |
Spielen zu. Doch die Geschichte, die Ajouz erzählt, ist kein Einzelfall. | |
Seit dem Jahreswechsel sind in Malmö schon elf Menschen erschossen worden. | |
Die Opfer sind gewöhnlich polizeibekannte junge Männer, aus Gegenden wie | |
Holma, das von der Polizei zu den landesweit etwa 60 „Problembezirken“ | |
gerechnet wird. Wie die meisten dieser Gebiete ist auch Holma migrantisch | |
geprägt. Laut schwedischer Statistikbehörde haben insgesamt 45 Prozent der | |
Einwohner Malmös einen Migrationshintergrund, mehr als in jeder anderen | |
schwedischen Großstadt. | |
## Gefundenes Fressen für Rechtspopulisten | |
Dass Malmö in den letzten Jahren regelmäßig wegen tödlichen Schießereien in | |
den Schlagzeilen landet, macht die Stadt zu einem gefundenen Fressen für | |
Rechtspopulisten, in Schweden und weltweit. Im Wahlwerbespot der | |
nationalistischen Schwedendemokraten, die bei der Parlamentswahl am Sonntag | |
mit etwa 20 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte einfahren dürften, | |
behauptet Parteichef Jimmie Åkesson, zu dramatischer Musik und Bildern von | |
nächtlichen Polizeieinsätzen, dass die „Masseneinwanderung“ Teile Schwede… | |
in den Bürgerkrieg gestürzt hätten. | |
Für Leandro Schclarek Mulinari hat dieses Bild wenig mit der Wirklichkeit | |
zu tun. Schclarek Mulinari stammt selbst aus Malmö, er promoviert er in | |
Kriminologie an der Universität Stockholm. „Wir Kriminologen müssen in der | |
öffentlichen Debatte hier immer öfter als Notbremse fungieren“, sagt er. | |
„Die Vorstellung von Malmö und Schweden als eine Art Inferno, ist nicht | |
nuanciert.“ Von einer allgemeinen Eskalation krimineller Gewalt könne | |
keine Rede sein. „In den 1980er und 1990er Jahren lag die Mordrate in | |
Schweden etwa 1,4 pro 100.000 Einwohnern, heute liegt sie bei etwa 1,1“, | |
sagt er. „Was wir sehen, sind starke lokale Fluktuationen, also dass | |
innerhalb kurzer Zeiträume in spezifischen Milieus – wie derzeit in Teilen | |
von Malmö – viel geschossen wird.“ Darüber berichtet würde jedoch nur we… | |
sich solche Ereignisse häuften, nicht wenn sie wieder abnehmen. | |
Neu ist aber der wachsende Anteil von Morden, die mit Schusswaffen verübt | |
wurden. Laut Sven Granath, der für die Stockholmer Polizei zu dem Thema | |
forscht, ist nicht die Zahl krimineller Akteure gestiegen, sondern deren | |
Zugang zu Schusswaffen. „Durch einen kleinen aber stetigen Schmuggelverkehr | |
der letzten 20 Jahre aus den ehemaligen Bürgerkriegsgebieten im Balkan gibt | |
es heute ein Arsenal an illegalen Waffen im Land.“ Da die Schmuggelroute | |
nach Schweden über die Öresundbrücke nahe Malmö führt, haben sich gerade | |
hier viele Waffen angesammelt. „Das Vorhandensein von Schusswaffen wiederum | |
erleichtert andere Straftaten wie Erpressung und Drogenhandel, die | |
ihrerseits zu weiteren Konflikten im kriminellen Milieu führen.“ | |
Granath zufolge haben die Schwedens Behörden diese Entwicklung verschlafen. | |
„Man konzentrierte sich lange und erfolgreich auf traditionelle Formen von | |
Gewalt wie etwa häusliche und vernachlässigte die Bekämpfung von illegalem | |
Waffenbesitz. Inzwischen ist aber der Zoll aktiver geworden, und schon der | |
Verdacht, dass gegen Gesetze zum Waffenbesitz verstoßen wurde, führt seit | |
Jahreswechsel automatisch zu U-Haft. Einen weiteren Anstieg dieser Art von | |
Gewalt erwarte ich daher nicht.“ | |
## Niedergang der Schwerindustrie | |
Auch wenn sich die Gewalt in Malmö insofern durch den Zugang zu | |
Schusswaffen verstehen und möglicherweise auch eindämmen lässt, greift dies | |
laut Schclarek Mulinari nicht weit genug. „Wir erleben eine Konzentration | |
von Waffengewalt in den ärmsten Gebieten. Diese Polarisierung der Gewalt | |
spiegelt eine wachsende Polarisierung der Klassenverhältnisse in der | |
Gesellschaft“. | |
Seit dem Niedergang der Schwerindustrie Ende der 1980er setzt Malmö alles | |
daran eine „Stadt des Wissens“ zu werden: Die Stadt bekam eine eigene Uni, | |
in den ehemaligen Werftbezirken am Wasser entstanden teure | |
Eigentumswohnungen. In Arbeitergegenden wie Holma, der Heimatbezirk von Ali | |
Ajouz, zeigen sich die Schattenseite dieser Wandlung: Die | |
Jugendarbeitslosigkeit, die in Malmö mit etwa 11 Prozent ohnehin über dem | |
Landesdurchschnitt liegt, ist in Holma besonders ausgeprägt, der | |
Wohnungsmangel auch. | |
Für Jungs wie Ajouz, der wie die meisten seiner Freunde noch bei den Eltern | |
wohnt, ist die Zukunftsstadt mit Seeblick weit weg. „Man ist hier wie | |
eingeschlossen“, sagt er. „Ein Freund von mir sucht seit Monaten erfolglos | |
Arbeit. Und dann kriegt er ein Angebot auf der Straße: Verdien dir während | |
der Jobsuche doch mit Dealen was dazu. So fängt es an, und dann bleibt man | |
darin hängen. Ich kenne keinen, der damit glücklich ist. Klar will man ein | |
anderes Leben, einen richtigen Job, und Lohn am Monatsende. Aber was tun, | |
wenn man schon heute Geld braucht?“ | |
## Schlagstockpolitik | |
Solche Geschichten erlebt die Malmöer Sozialarbeiterin Sigrun Sigurdsson | |
immer wieder. Inzwischen seien bereits acht Jugendliche, die sie betreut | |
habe, durch Straßengewalt ums Leben gekommen, erzählt sie, eine sonst | |
heitere Frau mittleren Alters, mit bitterem Blick. „Alle diese Jungs sind | |
in Malmö aufgewachsen, und ich weiß, dass man mit den richtigen Maßnahmen | |
jeden einzelnen hätte retten können.“ Die Stiftung, für die Sigurdsson | |
arbeitet, heißt Fryshuset und bietet eine breite Palette an sozialen | |
Projekten in Malmö an, von Hilfe für alleinstehende Mütter bis hin zu | |
Aussteigerprogrammen für Kriminelle. | |
Sigurdsson selbst hilft Jugendlichen beim Einstieg in den Arbeitsmarkt. | |
„Wir als Gesellschaft müssen diesen Jungs mehr bieten können als die | |
Kriminalität“, sagt sie. Am besten so früh wie möglich. „Schulkinder, die | |
in beengten Verhältnissen aufwachsen, kriegen die Hausaufgaben nicht hin | |
und verbringen stattdessen mehr Zeit auf den Straßen, wodurch die Eltern an | |
Einfluss verlieren.“ Doch die Politik denke nur kurzfristig, und rede | |
stattdessen vor allem über mehr Kameras und Polizei, sagt Sigurdsson und | |
schüttelt den Kopf. | |
Im Wahlkampf werden tatsächlich immer wieder Rufe nach härterem | |
Durchgreifen laut. Selbst das Militär wollen einige Politiker in die | |
Problembezirke zu schicken. Für KriminologInnen wie Schclarek Mulinari | |
bewegt man sich damit in die verkehrte Richtung. „Dass diese | |
Schlagstockpolitik langfristig effektiv sein sollte, lässt sich | |
wissenschaftlich nicht belegen. Im Gegenteil kann Repression und eine | |
allgemeine Verdächtigung bestimmter Stadtteile das Verhältnis zwischen | |
Polizei und Bevölkerung unnötig belasten, was wiederum sinnvolle | |
Polizeiarbeit, wie die Aufklärung von Mordfällen, erschwert.“ | |
## „Selbsterfüllende Prophezeiung“ | |
Schon jetzt, erklärt er, zeigten Studien, dass Jugendliche in armen | |
Stadtteilen Schwedens häufiger wegen Verdachts auf illegalen Drogenbesitz | |
überprüft werden, als ihre Altersgenossen in wohlhabenden Bezirken, obwohl | |
der wirkliche Drogenkonsum statistisch andersherum verteilt ist. „Das ist | |
eine selbsterfüllende Prophezeiung – wenn man Menschen ständig als | |
Kriminelle behandelt, antworten sie irgendwann entsprechend“, sagt | |
Mulinari. | |
Diese Dynamik, die durch Schwedens repressive Drogenpolitik nur verschärft | |
wird, kennt Ali Ajouz nur allzu gut. „Du gehst in die Schule und machst | |
alles richtig und rauchst halt am Wochenende mit den Freunden mal ne Tüte. | |
Plötzlich wirst du von einer Streife erwischt und vorbestraft. Da denkst du | |
leicht, verdammt, jetzt bin ich sowieso am Arsch, da kann ich genauso gut | |
selber ins Geschäft einsteigen.“ | |
Das schwierige Verhältnis zur Polizei, das in Holma viele teilen, wird | |
besonders konkret, wenn Ajouz an seine eigene Zukunft denkt. „Ich rate | |
meinen Freunden immer sich von dem Mist fernzuhalten, aber mehr als reden | |
kann ich nicht. Die Polizei dagegen scheint, statt die Gewalt zu stoppen, | |
mehr drauf zu setzen, Leute fürs Grasrauchen zu bestrafen“, sagt er. Ajouz | |
selbst träumt davon, irgendwann mit mehr als nur Worten zur Lösung der | |
Gewaltproblematik beitragen zu können. Wie genau, ist er sich aber nicht | |
sicher. „Ich denke seit einiger Zeit darüber nach, selbst Polizist zu | |
werden“, sagt er nachdenklich und lacht ein bisschen über sich selbst: | |
„Dabei hasse ich die Polizei.“ | |
6 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Volodya Vagner | |
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