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# taz.de -- Jens Balzer über die siebziger Jahre: Erst Minderheit, dann Mainst…
> Popmusik kann die Welt verändern. Wie sie das in den 1970ern tat,
> untersucht Balzer in seinem Buch „Das entfesselte Jahrzehnt“.
Bild: Mit Woodstock begannen die 70er-Jahre, sagt Jens Balzer
Die 1970er Jahre können als eine Epoche gelten, in der sich viele der
politischen Auseinandersetzungen aus den klassischen Bereichen
(Arbeitswelt, Nation) in die eher gesellschaftlichen Zonen (Lebensform,
Ökologie) verschieben. Für die Vermittlung von Werten und Haltungen kommen
Popkultur und global massenmedial transportierten Ereignissen eine zentrale
Rolle zu. Unterschiedliche Konzepte von Jugend-, Outsider- und Subkulturen
führen zur Herausbildung von Gegen- und Parallelgesellschaften.
Der breite industriell erzeugte Wohlstand schaffte im Westen in den 1960er
Jahren die Voraussetzung, um über das Leben in einer rein materiell
orientierten Konsum-Gesellschaft prinzipieller nachzudenken. Im Fokus der
Kritik standen patriarchale Kleinfamilie, lebenslange Lohnarbeit,
industrielle Naturzerstörung – und vor allem die als armselig empfundenen
Möglichkeiten zur individuellen Selbstverwirklichung in einer kollektiv
doch so reichen Umgebung.
Während viele dem technischen Fortschrittsglauben und Massenkonsum weiter
huldigten – beispielhaft die Begeisterung am Ausgang der 1960er bei der
ersten bemannten Raumfahrmission zum Mond –, stellten Skeptiker*innen,
Umweltbewusste, Feminist*innen und Hedonist*innen ihre oppositionelle
Haltung demonstrativ in ihren alternativen Looks zur Schau. Sie probierten
antibürgerliche Lebensstile aus, einzelne Bands und deren Sounds standen
für unterschiedliche weltanschauliche Strömungen.
Das Festival von Woodstock mit einem geschätzten Publikum von 400.000
Menschen (von denen die Hälfte im Verkehrsstau stecken blieb und den
Bühnen-Schauplatz nie erreichte) ging 1969 als das popkulturelle Urerlebnis
in die Geschichte ein. Danach war aus Perspektive der Popkultur nichts mehr
wie vorher. Woodstock war generationenprägend – genau wie auf der anderen
Seite 1969 der Flug der Apollo-11-Mission zum Mond.
Der Berliner Pop- und Kulturkritiker Jens Balzer beschreibt in dem Buch
„Das entfesselte Jahrzehnt“ (Rowohlt, 2019) die 1970er Jahre ausgehend von
den beiden mythisch nachwirkenden Großereignissen Woodstock und
Apollo-11-Mission.
Es ist nach Balzer ein Jahrzehnt, in dem hoffnungsfroh gestimmte Utopien
zeitgleich mit katastrophischen Dystopien und Denkweisen zusammenfallen. In
der Mondmission spiegelte sich der Glaube jenes Teils der Menschheit, der
auf eine sogar über die Erde hinausreichende allumfassende technische
Beherrschbarkeit sämtlicher Systeme zielte. Woodstock hingegen bezeichnet
das Gegenteil. In seiner unschuldigen Reinform war es ein
zivilisationskritisches, freundliches, antikonsumistisches Happening, das
es so in den 1970ern nie mehr geben konnte.
## Entscheidend war, dass man es auf Konserve hatte
Das Grollen des Punk gegen das „Love and Peace“ der Hippies kündigte sich
bereits an. Die zivilisationskritischen Haltungen, ausgedrückt im
subkulturellen Sound und ohne festen politischen Organisationshintergrund,
zersplitterten teilweise in Extremismus und Nihilismus. Die jungen Leute in
lebensweltlicher Opposition zur vorherrschenden Vergesellschaftungsform von
Familie, Staat, Nation, Lohnarbeit und Industriekapitalismus fanden immer
mehr verschiedene Sounds und parallele Lebensstile. (Hier beginnt in
Westdeutschland auch die Geschichte vom Aufstieg der Grünen und dem
Niedergang der SPD, beide wissen zu dieser Zeit aber noch nichts davon.)
Balzer fächert all dies großflächig auf, hebt die Bedeutung nachträglicher
und massenmedialer Aufladungen für die nun globale Durchsetzung gewisser
Haltungen mittels Pop hervor. Das Festival von Woodstock erzielte seine
generationell so emblematische weltweite Wirkung, weil Musikerinnen wie
Joni Mitchell es retrospektiv besangen und mit Bedeutung aufluden.
Entscheidend war, dass man es auf Konserve hatte. Über 20 Kameraleute
hatten das dreitägige Geschehen gefilmt.
Michael Wadleighs dreistündiger Dokumentarfilm „Woodstock“ wurde sogar mit
dem Oscar prämiert. Über die Teilnehmer*innen des Festivals hinaus wurde so
etwa Jimi Hendrix’ in Woodstock geschredderte Version der US-Hymne bekannt
– kulturelle Praktiken, die zur Zeit des Vietnamkriegs noch für
patriotische Empörung sorgten.
Wer wie Balzer die 1970er kulturell genauer betrachtet, kommt von LSD und
Porridge auch zu Fischstäbchen und McDonald’s. Zu Sexfilmchen, esoterischer
Literatur, Underground-Comics, Elvis, Ekel Alfred, Muppet-Show und
Männergruppen, Phänomenen, in denen sich immer öfter subkulturelle Entwürfe
mit denen des Mainstreams mischen. Was temporär klar getrennt schien,
beginnt nun zu verschwimmen.
Genüsslich berichtet Balzer in dieser Hinsicht immer wieder von David
Bowie, dem 1947 geborenen britischen Musiker, der ein sehr feines Näschen
für Stimmungen hatte. Mit „Major Tom“, im Gefolge von Stanley Kubricks
Spielfilm „2001: Odyssee im Weltraum“ komponiert, lieferte er 1969 den
passenden Song zur entrückten Stimmung zwischen Apollo-11-Start und
Woodstock, was ihm erstmals zu zeitweiser Berühmtheit verhalf. [1][1972
verwandelte sich Bowie in Ziggy Stardust], einen Außerirdischen im
Astronauten-Glitzeranzug und mit Vokuhila-Frisur.
## Ideale der Hippiebewegung
Er bekannte sich zur Homosexualität – und blieb doch auch selber durchaus
anders orientiert. „Den plötzlichen Ruhm nutzt Bowie vor allem dafür“,
schreibt Balzer, „nach den Konzerten mit den Spiders from Mars ausgiebig
Gruppensexorgien mit minderjährigen weiblichen Groupies zu feiern.“ Später
widerruft er seine angebliche Homosexualität und machte sich darüber
lustig, wie viele junge Frauen ihn von dieser hätten bekehren wollen.
Balzer kritisiert auch Bowies provokantes Spiel mit NS-Bezügen,
vereindeutigt ihn aber dabei doch zu sehr.
Wie Teile der amerikanischen Hippiebewegung in ihrer entgrenzten Agitation
gegen das Bestehende ins Totalitäre abdriften, erzählt Balzer hingegen
stringent am Fall des Musikers und Mörders Charles Manson. Manson, ein
Outlaw aus der weißen Unterschicht, war mit vielen subkulturellen Größen
bekannt. Und er griff auf seine Weise Ideale der Hippiebewegung (Kommune,
Sex, Drogen, Veganertum) auf, reicherte diese als Sektenführer aber mit
rechtsradikalen Wahnvorstellungen an.
Um den weißen Rassenkampf mit einem Aufstand am „Tag X“ auszulösen, ordne…
er 1969 Morde an, die der „schwarzen“ Bevölkerung angehängt werden sollte…
Unter den zufällig Ermordeten befand sich die hochschwangere Schauspielerin
Sharon Tate, Ehefrau des Filmregisseurs Roman Polanski.
Eine Geschichtsschreibung aus popkultureller Perspektive wäre keine, so sie
ausgerechnet die Irrungen in die Welt der unangenehmen Extreme ausließe.
Jugendkulturelle Protestformen greifen oft diffuse Stimmungen auf und laden
sie durch Sound, Körper und Sprache mit provokativen Inhalten auf. Wie das
auch das militante Milieu in Westberlin um 1970 in Gestalt der
Wieland-Kommune oder der Haschrebellen tat.
Hier hört man 1970 nicht nur den Rolling-Stones-Hit „Sympathy for the
devil“, sondern bezieht sich in einer Aktion wortwörtlich auf Satanskulte
und die Manson Family. Auch wenn es noch kein Internet gab, hätten die
deutschen Anarchos längst wissen können, auf wen sie sich da bezogen: einen
psychopathischen Faschisten. Warum taten sie es also?
## Hart geführte Anti-Spießer-Kämpfe
Weil sie in ihrem Hass auf die BRD, die von vielen personellen
Kontinuitäten nach dem Dritten Reich geprägt war, geblendet waren? Weil sie
einen Teil des Hasses ihrer Eltern aus dem Dritten Reich noch in sich
trugen? Balzers Buch macht die Ambivalenzen deutlich, doch wäre die
Entschlüsselung solcher „Entfesselungen“ wohl eher mit sozialhistorischen
Methoden zu erreichen.
In Westdeutschland hat die Kippbewegung in Antiamerikanismus und
Antisemitismus eines Teils der aktivistischen und popkulturellen Linken
wohl stärker mit den Hinterlassenschaften von Nationalsozialismus und
Kaltem Krieg zu tun und eher nur peripher mit Woodstock.
Welche Auseinandersetzungen mehrheitlich in der Bundesrepublik der 1970er
Jahre noch geführt wurden, macht auch ein Schlager – aus dem Mainstream –
deutlich, den Pophistoriker Balzer zitiert. [2][„Ein ehrenwertes Haus“ von
Udo Jürgens] wurde 1974 zur Hymne, weil es die verklemmte Geschlechts- und
Sexualmoral der Bundesrepublik frontal karikierte. Drei Jahre zuvor hatte
Rio Reiser mit Ton Steine Scherben – aus dem Underground – davon gesungen,
auf keinen Fall werden zu wollen, „was mein Alter ist“.
Die hart geführten Anti-Spießer-Kämpfe über die Konzepte von Rock, Pop,
Disco und Punk halfen sehr, die westlichen Gesellschaften bis zum Beginn
der 1980er Jahre zu liberalisieren. Sie gingen den, wie die Lektüre Balzers
zu verstehen hilft, heute hegemonialen Auffassungen einer liberalen
Gesellschaft und der Akzeptanz diverser Lebensstile voraus.
Die Auseinandersetzungen in der Popkultur entscheiden maßgeblich darüber,
ob sich repressive oder emanzipatorische Politikvorstellungen durchsetzen.
Schon darum lohnt es sich, einen Blick auf die 1970er und ihre kulturellen
Erscheinungsformen zu werfen.
22 Jun 2019
## LINKS
[1] /David-Bowie-und-sein-Nachlass/!5265193
[2] /Nachruf-Udo-Juergens/!5025575
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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