| # taz.de -- Literatur-Liste von David Bowie: Des Strauchdiebs liebste Bücher | |
| > Der britische Sänger David Bowie erstellte drei Jahre vor seinem Tod eine | |
| > Liste seiner wichtigsten Lektüren. Diese ist mehr als eine | |
| > Selbstbeweihräucherung. | |
| Bild: Aus: „Bowie – Sternenstaub, Strahlenkanonen und Tagträume“ | |
| Lester Bangs konnte ein Biest sein, und zu David Bowie war er gern | |
| besonders biestig. Der legendäre Rockkritiker Bangs, den man heute für | |
| seinen Machismo verfluchen kann, für seine Fähigkeit, beim | |
| Gift-und-Galle-Spucken immer auch Poesie und Wahrheit emporzuwürgen, aber | |
| immer noch lieben muss – ebendieser Typ hielt viele von Bowies Alben für | |
| großen „Beschiss“. | |
| Für ihn war der Popstar ein Strauchdieb, der sich das Wildeste von Iggy Pop | |
| und Kraftwerk zusammenklaute, um es für den Hausgebrauch zu entschärfen. In | |
| dem Magazin Creem bescheinigte er Bowie „eine Fassade, ebenso zerbrechlich | |
| wie eisig, was vermutlich bedeutet, dass sie entweder zerspringen oder | |
| tauen und das möglicherweise dahinter vorhandene künstlerische Potenzial | |
| sich dann entweder zeigen oder verdunsten würde“. | |
| [1][David Robert Jones] ist seit über vier Jahren tot. Seinen Kritiker | |
| Bangs, verstorben 1982, hat der Engländer Bowie damit um einige | |
| popkulturelle Lichtjahre überlebt. In einer Zeit, in der Popstars, auch der | |
| Transparenz der sozialen Medien sei Dank, viel von ihrem Geheimnis verloren | |
| haben, ist die Sehnsucht nach einem der letzten großen Geheimniskrämer groß | |
| wie nie. | |
| Mit Dylan Jones’ „David Bowie – Ein Leben“ ist vor zwei Jahren eine dic… | |
| Biografie, mit „Bowie – Sternenstaub, Strahlenkanonen und Tagträume“ | |
| kürzlich eine Graphic Novel über die Ziggy-Stardust-Jahre erschienen. Jetzt | |
| widmet sich der britische Autor und Journalist John O’Connell in seiner | |
| Essaysammlung „Bowies Bücher“ einer anderen Seite des | |
| Identitätsfabrikanten: Bowie, der Literaturfan. Allein seine | |
| Reisebibliothek soll 1.500 Bücher stark gewesen sein, eine Zeit lang | |
| schrieb Bowie sogar Kritiken für die US-Buchhandlungskette Barnes & Noble. | |
| ## 100 prägende Bücher | |
| Drei Jahre vor seinem Tod verfasste Bowie eine Liste von einhundert | |
| Büchern, die ihn geprägt haben – ein Konzept, das er sich (schon wieder: | |
| strauchdiebisch) von dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges | |
| abgeschaut hatte. Ausgehend von Bowies Autorenauswahl (Autorinnen mit | |
| gemeint, aber kaum vorhanden), untersucht O’Connell in hundert kurzen | |
| Essays, wo in Bowies Werk Referenzen zu seinen liebsten Büchern | |
| aufscheinen. | |
| In seiner Liste finden sich neben dem, was junge, wütende, flackrige | |
| Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts so gelesen haben – Camus und Kerouac–, | |
| oder Klassikern wie „Nach der Flut das Feuer“ von James Baldwin auch | |
| schräge Ausreißer wie „Octobriana“ von Petr Sadecký, eine Art | |
| kommunistische Barbarella-Saga. | |
| Am Anfang befürchtet man aber erst mal das Langweiligste, wenn nämlich | |
| O’Connell Bowies Jugend als eine Zeit beschreibt, in der Bücher noch „cool | |
| und sexy“ waren, „sogar noch cooler und sexier als heute (wirklich!)“. | |
| ## T. S. Eliot in der Hosentasche | |
| Der junge David Jones, Mod im London der Sechziger, dabei mehr aufrechter | |
| Modernist als Fashion Victim, steckt sich seinen T. S. Eliot in die | |
| Hosentasche, und schon erwartet man, eine tausendmal erzählte Geschichte zu | |
| hören: die vom jungen Genie, das die Geniestreiche älterer Genies inhaliert | |
| und dadurch, na klar doch, noch genialer wird. Zum Glück kommt es viel | |
| besser als gedacht. | |
| Gut, manche Bücher sind vor allem Ausgangspunkt für schöne Geschichten. Im | |
| Kapitel zu Fran Lebowitz’ Kolumnensammlung „Metropolitan Life“ erzählt | |
| O’Connell von einer Reise nach New York City, auf der Bowie seine | |
| Lieblingsband The Velvet Underground live im Electric Circus sah, danach | |
| Lou Reed seine Bewunderung gestand – um später herauszufinden, dass Reed | |
| sommers zuvor die Band verlassen und er den früheren Bassisten Doug Yule | |
| belagert hatte. | |
| O’Connell benutzt Bowies Liste aber nicht bloß als Staffage für gute Storys | |
| und Fan-Fiction, sondern interessiert sich wirklich für die Herkunft der | |
| Ästhetiken, aus denen Bowie seine Kunstfiguren gebaut hat. Er sucht die | |
| rastlose Schwermut von Christa Wolf in Bowies verkaterter Comeback-Single | |
| „Where Are We Now“, und er findet die kaputte Halbwelt, die John Rechy 1963 | |
| in „Nacht in der Stadt“ beschrieb, seiner Milieustudie über einen | |
| homosexuellen Latino im New York der Fünfziger, in Bowies Album „Diamond | |
| Dogs“. | |
| ## „Clockwork Orange“ ist der Schlüsselroman für Bowie | |
| „A Clockwork Orange“ von Anthony Burgess führt die Liste als | |
| [2][Schlüsselroman für Bowie] an. Nicht nur dass es ohne den verrohten, | |
| manischen Alex keinen Ziggy Stardust, ohne die „Droogs“ keine Spiders from | |
| Mars gegeben hätte; Bowie fällte auch, folgt man O’Connells Lesart, noch am | |
| Ende seiner Karriere sein Urteil zur Rezeption von „A Clockwork Orange“. | |
| In „Girl Loves Me“, einem Song auf Bowies finalem Album „Blackstar“, | |
| vermischt er Nadsad – Alex’ anglorussisches Kunstidiom – mit Polari, einem | |
| Soziolekt der englischen Schwulenszene. Damit stimme Bowie, so der Autor, | |
| der These des Kulturhistorikers Michael Bracewell zu, der „A Clockwork | |
| Orange“ als Studie moderner Männlichkeit liest. [3][Die eisige | |
| Bowiefassade] zerspringt nicht bei O’Connell. Sie taut nur ein bisschen an, | |
| weil die Ästhetik, nicht der Mensch im Vordergrund steht. | |
| Wenn O’Connell am Ende der mal grundsoliden, mal leidenschaftlichen | |
| Kurzessays versucht, doch noch einen Schlenker in Bowies Privatleben zu | |
| unternehmen, klingt es manchmal fast pflichtschuldig. „War Dante einer der | |
| Gründe dafür, dass Bowie und Iman beschlossen, ihre Hochzeit im Juni 1992 | |
| in Florenz zu zelebrieren?“, fragt O’Connell am Ende seines Texts über den | |
| Einfluss des „Proto-Surrealisten“ Dante auf Dali und Bretón, und damit auch | |
| auf Bowie. Wissen muss man’s nicht. | |
| ## Lautes Schweigen um „Lolita“ | |
| An anderer Stelle, wenn es um Nabokov geht, schweigt O'Connell wiederum | |
| ganz schön laut, obwohl sich der Exkurs ins Biografische fast aufdrängt: | |
| Bowie liebte ja nicht nur „Lolita“, sondern auch stark minderjährige | |
| Groupies wie Lori Mattix, was zwar seit Langem dokumentiert, für die | |
| Öffentlichkeit aber viele Jahre nicht wirklich interessant war. | |
| „Bowies Bücher“ bringt keine neue, große These über den | |
| Verwandlungskünstler und Traumarchitekten in Umlauf. Vielmehr bekräftigt | |
| O’Connell mit seinen akribisch recherchierten Texten Lester Bangs’ | |
| Behauptung, Bowie habe sich gern bei der Avantgarde bedient. | |
| Besonders interessant wird es, wenn man Bowie-Idole wie den japanischen | |
| Autor Yukio Mishima trifft, einen Dandy und nationalistischen Aktivisten, | |
| der Frau und Kinder hatte, aber offen schwul lebte: In gewisser Weise eine | |
| politisch fragwürdige Hardcoreversion des bisexuellen Bowie, dem ja oft | |
| vorgeworfen wurde, er würde seine Queerness an- und ablegen wie ein | |
| schräges Accessoire. In Bowies Bibliothek trifft man die Originale vor der | |
| Zähmung durch den Zeremonienmeister. | |
| Klar wird Bowie gewusst haben, dass er mit so einer Bücherliste den eigenen | |
| Künstlermythos auch posthum noch ganz nach seinem Geschmack kuratieren kann | |
| – das gibt auch O’Connell im Vorwort zu. In Bowies Liste fehlen zum | |
| Beispiel die Okkultismus- und Naziliteratur, die er im Drogennebel der | |
| Siebziger gelesen haben soll, damals, als er großmäulig und fahrlässig in | |
| die Welt posaunte, Großbritannien schreie nach einem „Führer“. | |
| Vermutlich aus Image- und Glamourgründen verzichtete Bowie auch auf Stephen | |
| King, über den er mal die hinreißend schlichten Sätze sagte: „Ich mag | |
| Stephen King. Der jagt mir eine Heidenangst ein.“ O’Connells Recherchen | |
| sind in Zeiten der Bowie-Festspiele eine wohltuende Abwechslung zum | |
| Namedropping- und Anekdotenfeuerwerk traditioneller Biografien. | |
| Bowies alter Kritiker Lester Bangs hätte das Ganze wahrscheinlich trotzdem | |
| blöd gefunden. In einer Rezension giftete er einst in Richtung Bowie: „Hör | |
| verdammt noch mal auf, zu versuchen, George Orwell und William S. Burroughs | |
| zu sein, wenn du ‚Nova Express‘ nur zur Hälfte gelesen hast.“ | |
| 13 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Lorenz | |
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