| # taz.de -- Debütroman über deutschen Massensuizid: Heimsuchung auf dem Netto… | |
| > In „Die Gespenster von Demmin“ verwendet Verena Keßler einen Massensuizid | |
| > am Ende des Zweiten Weltkriegs als Folie für eine | |
| > Coming-of-Age-Geschichte. | |
| Bild: Die Hansestadt Demmin im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte: die Gesch… | |
| Larry bereitet sich auf den Krieg vor. Nicht auf den gegen die Eltern oder | |
| die eigene Unsicherheit, obwohl wir uns in einem Bildungsroman befinden, | |
| sondern auf den echten. Denn wer Kriegsreporterin werden will, glaubt die | |
| Neuntklässlerin aus Demmin, muss sich schon mal auf das Ärgste einstellen: | |
| Mit ihrem love interest Timo testet sie, wie sich Waterboarding anfühlt, | |
| und hängt sich kopfüber in Bäume – damit sie lernt, bei Sinnen zu bleiben, | |
| wenn sie gefoltert wird. | |
| Ihre Nachbarin, die Seniorin Frau Dohlberg, denkt an was anderes, wenn sie | |
| Larry am Ast baumeln sieht: an die alte Kastner nämlich, „obwohl die ja gar | |
| nicht in dem Baum gehangen hat, sondern im Vorgarten“. Ein ganzes Leben sei | |
| das jetzt her. | |
| In der mecklenburgischen Kleinstadt Demmin fand vom 30. April bis 4. Mai | |
| 1945, zum Ende des Zweiten Weltkriegs, ein beispielloser Massenselbstmord | |
| statt. Weil die Wehrmacht nach ihrem Rückzug die Brücken hinter sich | |
| gesprengt hatte, waren die Demminer eingeschlossen, als die Rote Armee | |
| anrückte. 500 bis 1.000 Menschen erschossen sich und ihre Kinder, erhängten | |
| sich oder gingen in die Peene – manche aus Panik vor den russischen | |
| Soldaten, manche aus Verzweiflung über den Verlust des Krieges. | |
| „Die Gespenster von Demmin“ sind überall im gleichnamigen Debütroman von | |
| Verena Keßler: Sie spuken durch Keller und Familien, erschrecken Zeitzeugen | |
| und legen sich wie Grauschleier über die Gegenwart. Die 32-jährige | |
| Hamburgerin Keßler, die heute in Leipzig lebt, habe von der Demminer | |
| Verwandtschaft ihres Freundes von der Geschichte erfahren, erzählte sie im | |
| Interview mit den Lübecker Nachrichten. | |
| Kurz stutzt man – weil es unangemessen scheint, den Massensuizid als Folie | |
| für die Coming-of-Age-Geschichte einer morbiden Jugendlichen zu nutzen, die | |
| sich in besonders dramatischen Momenten schon mal in ausgehobene Gräber | |
| legt, ansonsten aber sehr alters- und genretypische Probleme hat: Streit | |
| mit der besten Freundin, keine Lust auf den neuen Freund ihrer Mutter. | |
| ## Überzeugend antrainierte Toughness | |
| Aber die Engführung der Zeitebenen funktioniert, weil Keßler sie behutsam | |
| entwickelt. Bis dahin hat man viel Zeit, sich mit Demmin und Larry | |
| anzufreunden, die manchmal an Nini erinnert, die Heldin aus Stefanie de | |
| Velascos [1][Jugendroman „Tigermilch“:] Wie die Berlinerin umweht auch | |
| Larry trotz ihrer überzeugend antrainierten Toughness eine tiefe | |
| Melancholie. | |
| „Sonntag früh [2][auf dem Netto-Parkplatz] kann man sich ziemlich gut | |
| vorstellen, der letzte Mensch auf der Welt zu sein“, sagt sie. Oder: | |
| „Sonntage in Demmin sind wie ein Bad in lauwarmem Wasser.“ Obwohl Larry | |
| lieber in den Krieg ziehen als ewig in Demmin leben will, schildert Keßler | |
| die Kleinstadt nicht als Vorhölle. Stattdessen findet sie für ihre seltsam | |
| tröstliche Tristesse Bilder, die allen, die sich mit Netto-Parkplätzen in | |
| der Provinz auskennen, bekannt vorkommen dürften. | |
| Die größte Leistung aber ist ihr lässiger, dabei nicht leichtfertiger | |
| Umgang mit einer alten, gewichtigen Frage: Wie viel Mitgefühl verdient das | |
| Tätervolk? Wie spricht man über die Kriegstraumata der Zivilbevölkerung, | |
| ohne sich mit denen gemein zu machen, die jährlich am 8. Mai zum | |
| „Gedenkmarsch“ durch Demmin ziehen? | |
| ## Empathie für die Kinderperspektive | |
| Keßler schildert Frau Dohlbergs Heimsuchungen voller Empathie für die | |
| Kinderperspektive auf Kriegsverbrechen, während Larry und Timo die Stimme | |
| der Radikalität sind: „Ich finde, man sollte sich einfach Mühe geben, zu | |
| überleben“, sagt Timo in einem Gespräch über Selbstmorde. Irgendwann sterbe | |
| man eh, und bis dahin könne man schon durchhalten. „Es sei denn, man ist | |
| ein Nazi“, entgegnet Larissa darauf. „Stimmt“, sagt Timo. „Nazis könne… | |
| mir aus jederzeit sterben.“ | |
| Christoph Schlingensief hat mal gesagt, erinnern heiße vergessen: Ist ein | |
| Bild oder Ereignis erst einsortiert ins große Gedenk-Almanach, kann es | |
| niemanden mehr irritieren. Die Aufarbeitung des Massensuizids in Büchern | |
| und Filmen, zum Beispiel Martin Farkas [3][„Über Leben in Demmin“] von | |
| 2018, hat gerade erst begonnen. | |
| Verena Keßlers Roman ist ein Plädoyer dafür, die Geschichte nicht allzu | |
| einfach wegzuerinnern. | |
| 21 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Lorenz | |
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