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# taz.de -- Mick Jaggers Männlichkeit: Gut abgehangene Coolness
> Narzisstischer Frontmann, androgynes Sexsymbol, genialer Songschreiber:
> Mick Jagger bleibt schwer lesbar – und einzigartig. Eine Würdigung.
Bild: Mick Jagger 1965 bei einem Konzert in Stockholm
Im Herbst 1963 besuchte [1][David Bowie] eine Little-Richard-Show. Als eine
von vielen Vorbands spielten die Rolling Stones, unbekannte, dürre weiße
Jungs, kaum älter als der damals 16-Jährige. Doch „in meinem ganzen Leben
hatte ich noch nie etwas so Rebellisches gesehen“, erinnerte sich Bowie
später in einem Interview: „Lasst euch die Haare schneiden!“, habe ein Mann
gerufen. „What – and look like you?!“, habe Mick verächtlich gekontert �…
und sowohl Bowie als auch den Rest des Publikums mit juveniler Coolness
umgehauen.
Dass Coolness einst die Hauptingredienz des Rock ’n’ Roll war, ist fast in
Vergessenheit geraten. Es geht inzwischen um (vermeintliche) Authentizität,
darum, das Innere nach außen zu kehren. Aber [2][Sir Mick Jagger], der
heute seinen 80. Geburtstag feiert, gab sich stets eher enigmatisch als
authentisch – er bleibt schwer zu lesen.
Im Jahr 1967 traf der britische Fotograf Cecil Beaton, dessen glamouröse
Porträts die Kunst seit den 20er Jahren bereicherten, auf die Rolling
Stones. Und befand den Stones-Frontmann als „hässlich und hübsch, maskulin
und feminin, sexy aber geschlechtslos gleichzeitig“. Dennoch, oder eher
darum wurden Jagger stets Liebesaffären mit Frauen und Männern nachgesagt,
vor allem Erstere seien angeblich oft am sexistischen Arschlochtum des
Briten gescheitert.
Früh zog man neben Jaggers Gebaren, dem Schäkern mit allem, was nicht bei
drei auf dem Baum ist, auch Texte als Beweis herbei und missverstand „Under
my thumb“ dabei gern als misogynes Statement: „Under my thumb / the girl
who once had me down / under my thumb / the girl who once pushed me
around.“ Dabei beschreibt der Song nur trotzig die nächste Stufe des
Liebeskummers – man will sich nicht mehr von der Ex „herumschubsen“ lasse…
## Jagger besetzte eine klare Position
Herumschubsen ließ er sich nie gern. Mick Jagger besetzte in der
etablierten Bandrollenkonstellation stets eine klare Position: Er war und
ist ein Frontmann, dessen Narzissmus ihn für alle unwiderstehlich macht,
die auf Narzissten stehen. Seine Anziehungskraft war also immer ambivalent,
sowohl durch sein Verhalten als auch durch sein Äußeres.
Dass Jaggers Androgynität schockierend auf die Umwelt wirkte, ist heute
schwer nachvollziehbar. Aber neben den Haaren reichten tatsächlich bereits
seine vollen Lippen, um Sittenwächter:innen (und ihre verknallten
Schützlinge) amtlich zu erregen: Wieso sieht ein Teenie-Superstar derartig
„unmännlich“ aus?! In der damaligen Kritik am Erscheinungsbild Jaggers
zeigt sich die gesamte Queer- und damit Menschenfeindlichkeit des letzten
Jahrtausends.
Jagger, und nicht nur er, waren tatsächlich „rebellisch“: Zumindest um
Genderkonventionen scherten sie sich wenig. Dass sie mit Groupies
schliefen, sahen sie, ebenso wie die fast immer weiblichen Groupies, die
die Nähe zu provokanten Stars genossen, als Ausdruck sexueller Freiheit.
Das unterschied sie von den Konventionen ihrer Elterngenerationen, in der
Sexualität in festen Bahnen stattfand, und sowohl die angeblich immergeilen
Männer als auch die angeblich nie geilen Frauen dafür verurteilt wurden.
## Ein höchst befriedigendes, konsensuelles Verhältnis
Die Autorin Pamela Des Barres, die ihr 60er-Jahre-Groupietum biografisch
verarbeitete, beschrieb 1989 in „Light my fire“, wie sie als einstiger
Beatles-Fan von ihren Freundinnen für ihre [3][Jagger-Leidenschaft]
beschimpft wurde: „Sie glaubten, ich hätte Paul für dieses groteske,
ekelhafte, wulstlippige Tier Mick Jagger verraten.“
Sie schreibt von Masturbationsfantasien zu Jaggers mit dem ihm eigenen
Timbre gestöhnten Zeilen aus „I’m a King Bee“: „Yes I can make honey b…
let me come inside.“ Beim Stones-Konzert in Hollywood 1965 stellte die
damals 17-Jährige dem Sänger nach, er verjagte sie jedoch freundlich von
seinem Fenster. Später, mit 21 Jahren, hatten beide ein angeblich höchst
befriedigendes, konsensuelles Verhältnis.
Aber Machtstrukturen und geschlechterbezogene Zuschreibungen wurden in den
60ern und 70ern kaum analysiert oder kritisiert, Missbrauch gab es ebenso
wie toxisches Verhalten. Die Journalistin Lesley-Ann Jones versuchte 2022
in ihrem Buch „The Stone Age“, sich feministisch durch die
übergeschlechtliche Faszination für die Band zu arbeiten.
Ihre Vorwürfe leitet sie jedoch im 50er-Jahre-Groschenroman-Ton ein: „Sie
schenkte dem Stone vier Kinder und zweiundzwanzig Jahre ihres Lebens“,
heißt es über Jaggers Ex-Frau Jerry Hall. Dass Frauen Männern „Kinder
schenken“ oder Jahre, ist für Jones genauso Tatsache wie der „ungezügelt
lüsterne Lebensstil“ des Musikers, eines „Opfers seiner eigenen
Unersättlichkeit“. Die falsche und ärgerliche Mär vom unersättlichen
männlichen Raubtier, dem so eine – im Gegensatz zur passiven, romantischen
Frau – aktive, aggressive Sexualität zugestanden wird, wabert durch die
ganze Erzählung.
## Ein funktionaler Songschreiber, der Leidenschaft zeigt
Cecil Beaton hat vermutlich recht: Es steckt beides in Jagger, der als
ehemaliger Wirtschaftsstudent die Stones-Finanzen verantwortete, und mit
seinen Ex-Frauen Grabenkämpfe über Unterhaltszahlungen ausfocht. Er ist
also ein Pfennigfuchser, der großzügig sein kann. Ein schnell entflammbarer
Liebhaber, der schnell wieder abkühlt.
Ein funktionaler Songschreiber (richtig Interessantes haben [4][die Stones]
in den letzten 40 Jahren nicht hervorgebracht), der live verlässlich
Leidenschaft zeigt. Und ein sensibler, genderfluider Performer, dessen
Pragmatismus dennoch so groß ist wie seine fehlende Empathie gegenüber
Diskriminierung, die ihn nicht betrifft: Nach Vorwürfen wegen rassistischer
Kolonialbilder in „Brown Sugar“ nahm Jagger den Song zwar aus dem Set,
äußerte sich aber nie detailliert zum Thema, sondern schob es auf die
Ignoranz seines jugendlichen Songschreiber-Ichs.
Jugendlich ist Mick Jagger nicht mehr, cool vielleicht schon noch. Wenn
auch nicht mehr so wie 1970 im Film „Gimme Shelter“, als er einem Reporter
auf die Frage „Are you satisfied?“ antwortete: „Financially – dissatisf…
Sexually – satisfied. Philosophically- trying“.
25 Jul 2023
## LINKS
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[4] /Legendaeres-Rolling-Stones-Album/!5142634
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Mick Jagger
Rolling Stones
Männlichkeit
Sex
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David Bowie
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
wochentaz
Kinofilm
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Lesestück Recherche und Reportage
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