# taz.de -- Neues Album der Rolling Stones: Wulstig, männlich, schmierig | |
> „Hackney Diamonds“ heißt das neue, möglicherweise allerletzte Album der | |
> Rolling Stones. Lebt der alte Rock ’n’ Roll der britischen Band noch? | |
Bild: Mit yogagestählten Knochen, ohne Lesebrille (v. l. n. r.): Keith Richard… | |
Kommenden Freitag, den 20. Oktober, wird der 80-jährige britische Superstar | |
Mick Jagger in seinem führnehmen, georgianischen Haus in Richmond Hill, | |
einem noblen Londoner Vorort, erwachen. Vielleicht schwingt er die | |
yogagestählten Knochen auch in einem New Yorker Loft aus dem Himmelbett. | |
Oder in Los Angeles. Oder in seinem Schloss an der französischen Loire. | |
Als Erstes setzt er danach vermutlich die Lesebrille auf, schaut auf sein | |
Tablet und checkt, wie viele Menschen sich das neue Rolling-Stones-Album | |
„Hackney Diamonds“ angehört haben, das an diesem Tag offiziell erscheint. | |
Er wird Nachrichten sehen von Manager:innen und Agent:innen, | |
Geschäftspartner:innen und Kolleg:innen. Eventuell hat Kollege Elton | |
John ihm bereits geschrieben, sich höflich für die Zusammenarbeit bedankt | |
und noch mal betont, dass es ihm Spaß gemacht hat, für den Song „Live by | |
the Sword“ ein Honkytonk-Klavier im Sinne des früh verstorbenen | |
Stones-Studio-Pianisten Ian Stewart einzuspielen. | |
## Lady Gaga wird gratulieren | |
US-Diva Lady Gaga, die auf der Formatradio-Ballade „Sweet Sounds of Heaven“ | |
herumröhrt, hat vielleicht etwas auf Instagram gepostet, garniert mit | |
Herzchen und Lippenstift-Emojis (sie promotet gerade ihre Kosmetik-Linie) | |
und einem Sonnenbrillen-Smiley für den R&B-Giganten Stevie Wonder, der | |
Keyboard spielte. Paul McCartney, der für „Bite My Head Off“ seinen Bass | |
bis zum Anschlag verzerrt hat, könnte ein kleines Reel beigesteuert haben, | |
das tut er oft. | |
Und bestimmt gibt es viele Menschen, die auf das neue Stones-Werk, das | |
erste mit eigenen Songs seit 18 Jahren, gewartet haben. Weil sie es als | |
Beweis anführen wollen, dass Rock ’n’ Roll niemals stirbt. Enttäuscht | |
werden sie nicht: Die zwölf Songs sind Rock ’n’ Roll, das muss man ihnen | |
lassen. | |
Klassischer Stones-Rock-’n’-Roll: Mit „Angry“ gibt es einen Power-Aufta… | |
dessen Riffs, Akkorde und Stimmung an „Start me Up“ (1981) erinnern und | |
[1][in dem Mick Jagger mit einer durch Autotune leicht verfremdeten Stimme] | |
die Zeile „Don’t get angry with me / I never caused you no pain“ singt – | |
mit dem ihm eigenen Trotz. Ähnlich Riff-lastig ist auch „Get Close“, auf | |
dem das „I“ in „I wanna get close to you“ wie gewohnt zum „Ahhhhhh“ | |
ausgedehnt wird, bis die wulstigen Logo-Lippen sichtbar sind. (Später | |
gesellt sich ein schmieriges Saxofon dazu, das an mit dem Unterleib | |
spielende Zopfträger aus den 1980ern erinnert). | |
## Vermächtnis von Charlie Watts | |
„Mess It Up“ stützt sich discolässig auf den Rhythmus von „Miss You“ … | |
ist zusammen mit „Live By the Sword“ einer von zwei | |
Schlagzeugvermächtnissen [2][des schwer vermissten Drummers Charlie Watts, | |
der die Fertigstellung des Albums nicht mehr erleben konnte]. „Whole Wide | |
World“ steigt ein wie „Can’t You Hear Me Knocking“, das Songwriting mit | |
seinen gefälligen Strophe-Refrain-Harmonien könnte jedoch auch von einer | |
jüngeren Rockband stammen. | |
Wenn da nicht der Text wäre: „Everywhere I’m looking / There’s memories … | |
my past“, singt Jagger, und wirkt dabei wirklich erschrocken. In Teilen | |
klingt die Musik von „Hackney Diamonds“ also, als ob man eine KI | |
auffordert, Stones-Songs zu komponieren. Es bleibt eben nicht jeder alte | |
weiße Mann sein ganzes Leben lang ein Ideenspringbrunnen wie David Bowie, | |
ein Lexikon der Weisheiten wie Johnny Cash oder [3][bewahrt sich glaubhaft | |
die Wut aufs Establishment wie Iggy Pop]. | |
Immerhin findet sich auf „Hackney Diamonds“ mit „Bite My Head Off“ ein | |
passabler Ohrwurm mit der doppeldeutig lesbaren Zeile „I’m fucking with | |
your brain“ – irgendwann ist so ein Brainfuck vielleicht schlichtweg die | |
gangbarere Variante für einen Greis. Außerdem erinnert [4][Sir Pauls | |
brachialer Fuzz-Bass an den Slogan, mit dem Höfner einst neben einer | |
Pop-Art-Silhouette von Paul warb: „Paul McCartney plays a Höfner Original. | |
Why don’t you]?“ | |
Auf „Dreamy Skies“ nickt Keith Richards genießerisch fast über der Slide | |
Gitarre ein, während Mick das Bild eines Aussteigers skizziert, der vor | |
einem Wohnwagen an einem verlassenen Strand (realistisch gesehen auf einer | |
Privatinsel) sitzt, „I’ve got to take a break from it all“ sinniert und | |
dazu noch ältere Musik hört als die eigene: „An old AM radio is all that I | |
got / It just plays Hank Williams and some bad honky tonks“. | |
## Hommage an Muddy Waters | |
Und der „Rolling Stones Blues“ zum Finale des Albums, den Jagger und | |
Richards als Hommage an Muddy Waters jammen, schließt einen Kreis. | |
[5][Schließlich hatte sich die Band vor 61 Jahren nicht nur nach einer | |
Zeile aus diesem Song benannt], sondern es war auch Muddy Waters, der auf | |
die familiäre Verwandtschaft der Stile hinwies: „And the blues got pregnant | |
/ And they named the Baby Rock’n’Roll“. | |
Es stimmt, was Neil Young sang. Der Rock ’n’ Roll ist nicht tot – die | |
Stones beweisen es. Allerdings wird er auch nicht jünger und schon gar | |
nicht innovativer. Denn was das millionenschwere Band-Universum als Rahmen | |
für das vermutete Abschiedsalbum konzipieren ließ, das ist hochgradig | |
altbacken und klischiert: Im Video zur ersten Auskopplung, „Angry“, lässt | |
sich eine blonde Frau im Stones-Enkelinnen-Alter (die 26-jährige | |
„Euphoria“-Schauspielerin Sydney Sweeney) von einem Mann im roten | |
Mercedes-Cabrio über den Sunset Strip von Los Angeles fahren und räkelt | |
sich dabei in Lederbustier und Nietenchaps auf dem Rücksitz. | |
Mehr Retro-Sexismus wurde in Musikvideos nicht mehr gesichtet, seit Robin | |
Thicke in „Blurred Lines“ nackichte Models um sich tanzen ließ (und einem | |
von ihnen ein rotes Cabrio-Spielzeugauto den Rücken runterrollern ließ). | |
## Gigantisch und Mainstream | |
Überhaupt scheint die Werbeagentur der Band auf klassisch heteronormative | |
Männer-Themen zu setzen: Beim „Clásico“, dem Match des FC Barcelona gegen | |
Real Madrid am 16. Oktober, vier Tage vor Veröffentlichung des Albums, wird | |
die Stones-Zunge auf den Trikots der Katalanen zu sehen sein – seit der | |
Streamingdienst Spotify Hauptsponsor wurde, nutzt er die Barça-Körper | |
zuweilen für Musik-Placements. Barça, könnte man herauslesen, ist wie die | |
Stones: gigantisch, Mainstream und der kleinste gemeinsame Nenner im | |
Fußball- beziehungsweise Musikgeschäft. | |
Wie auf jedem der bisher 25 Studioalben der Stones gibt es eine löbliche | |
Ausnahme: Mit „Tell Me Straight“, gesungen von Keith Richards, findet sich | |
eine hübsche, kleine Melancholie, bei der die zitternde Zerbrechlichkeit | |
und das hörbare Alter von Richards’ Stimme Emotionen wecken. Auf die Frage, | |
worum es im Song gehe, antwortete der gutmütige Keith in der Talkshow von | |
US-Moderator Jimmy Fallon kürzlich: „I can tell you straight that I have no | |
idea what it’s about“. Eigentlich typisch. Die Stones sind immer am besten, | |
wenn sie nicht nachdenken. | |
19 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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