# taz.de -- Legendäres Rolling-Stones-Album: Steuerflucht an die Côte d'Azur | |
> Zu Beginn der 70er Jahre waren die Rolling Stones am Ende. Dann | |
> produzierten sie das Album "Exile on Main St.". Fast 40 Jahre nach | |
> Erscheinen gilt es als beste Rockplatte. | |
Bild: Heraus aus der Krise: Mick Jagger und Bill Wyman bei Konzert in New Yorks… | |
Inzwischen scheint ja ein jeder Pizzabote, der einmal an der Villa Nellcôte | |
in Villefranche geklingelt hat, ein Enthüllungsbuch über "seine Erlebnisse" | |
mit den Rolling Stones im selbstgewählten Steuerexil an der Côte dAzur | |
veröffentlicht zu haben: Mann, da ging so was von die Post ab, Drogen, | |
laute Musik, Weiber, eine sonnenflirrende Party vom Mai 1971 bis in die | |
Puppen des ausgehenden Jahres, und mittendrin nahmen die Stones eine Platte | |
auf, da wäre man gern dabei gewesen, hätte man was davon gewusst, aber wir | |
waren ja erst 16 und saßen ein wenig verdattert um einen mit Resopal | |
bezogenen Küchentisch in einem kleinen Knusperknäuschen in Niederbayern: | |
"Exile on Main St." lag vor uns, die neue Stones-LP, das komische | |
Robert-Frank-Cover mit den Kontaktabzügen, die Schrift so ein Gekrakel. Und | |
vor allem: keine Hits. | |
Einer von uns hatte sein Schüler-Bafög geopfert, um die Zusammenkünfte an | |
der Billigst-Stereo-Dröhnmaschine mit einem neuen "Satisfaction" zu | |
bereichern, und nun das hier. Jagger war irgendwie gar nicht zu hören, dann | |
Bläser, so ne Scheiße, viel Geklimper mit der rechten Hand, | |
Backgroundsängerinnen, die Geißel der 70er, Country, Dschungelgetrommel, | |
nein, das hatten wir uns definitiv anders vorgestellt, mehr so wie "Brown | |
Sugar", wo man gleich mitdengeln kann und die Luftgitarre rausholen, aber | |
wem erzähle ich das? Andererseits gibt man so ein Taschengelddesaster nicht | |
so gern zu, "Tumblin Dice", da würde man sich vielleicht dran gewöhnen, | |
aber sonst? Katzenmusik. Was sang der da? "I only get my rocks off while Im | |
dreaming"? | |
Mann, unsere Felsen gingen ab, wenn der Quelle-Katalog versehentlich oder | |
absichtlich an der Unterwäsche-Seite offen rumlag. Jagger hatte vielleicht | |
Probleme - die Probleme eines dreißigjährigen Dandys, aber keinesfalls die | |
Probleme eines pickligen Biertrinkers aus der deutschen Provinz, den die | |
Mädchen nicht einmal mit der Grillzange anfassen würden. Wie auch immer, | |
die Stones waren erst mal durch; ein paar Monate später habe ich meinem | |
Freund die Platte trotzdem abgetauscht gegen was weiß ich, weil mich | |
irgendwas an dieser Sorte Stones faszinierte, trotz aller Mängel aus | |
Pubertierenden-Sicht. | |
Ein paar Jahre später wurde mir schließlich klar, dass dies hier die | |
ultimative Rockplatte ist, Schluss, aus, vielleicht weil der Quelle-Katalog | |
nicht mehr so aufreizend wirkte wie einst: Die CD-Version wurde | |
nachgekauft, Texte über die Platte geschrieben, schließlich erscheint heute | |
eine aufgebrezelte Fassung für das 21. Jahrhundert mit zehn Bonus-Tracks | |
und die Super Deluxe Edition mit goldener Badewanne und darin liegendem | |
Buch samt DVD, und bei den Filmfestspielen von Cannes wird das Teil auch | |
gezeigt. Nicht die Badewanne, der Film. Zur besten Rockplatte aller Zeiten. | |
Wie gesagt. | |
In dem Film erzählt Bobby Keys, der Saxofonist auf "Exile on Main St.": | |
"Ja, verdammt, da wurden ein paar Joints gedreht und Whiskeyflaschen | |
standen da und die Mädels hatten wenig an, es ging schließlich um Rock n | |
Roll". Doch der Chef, inzwischen auf einem etwas bräsig wirkenden | |
Elder-Statesman-Trip, ist durchaus anderer Wahrnehmung: "Alles musste ich | |
selbst erledigen; der Produzent Jimmy Miller hatte nichts mehr im Griff und | |
ansonsten lagen da nur Betrunkene oder Junkies herum." | |
Dabei dürfte "Exile on Main St." die einzige Stones-Platte sein, bei der | |
Jagger nicht voll und ganz das Sagen hatte. Zu Beginn der 1970er-Jahre war | |
die Band eigentlich am Ende, fertig, trotz sensationeller Alben und | |
triumphaler Tourneen. Brian Jones war in seinem Swimmingpool gestorben, | |
vielleicht ermordet worden. Jagger hatte sich von Marianne Faithful | |
getrennt, auch nicht einfach. Das Altamont-Debakel mit dem Tod von Meredith | |
Hunter wurde den Stones als Konsequenz ihrer Hybris angekreidet. Die | |
britische Labour-Regierung hasste Hippie-Millionäre und forderte | |
gigantische Steuerschulden ein, aber Geld war keins da. Die Amerika-Rechte | |
an allen Tantiemen waren in die Hände des Rechtsanwaltes Allen Klein | |
geraten, der gar nicht daran dachte, einen Cent davon wieder herzugeben. | |
Prozesse wurden geführt und eingestellt. Vergleich nennt man diese Art von | |
Pleite. Jagger drehte komische Filme, Richards ließ sich mit der Marseiller | |
Drogenmafia ein, und Charlie Watts und Bill Wyman waren auch keine große | |
Hilfe. Da war es Zeit für einen Befreiungsschlag, und wer sollte den | |
führen, wenn nicht Mick Mastermind himself. Die Band wurde auf Anraten des | |
Steuerberaters an die Côte dAzur kommandiert, auch wenn Wyman und Watts | |
klagten, dass eine bestimmte Sorte Senfgurken bei den Froschfressern schwer | |
zu erhalten sei und die Milch anders schmecke. | |
Keith Richards und Anita Pallenberg entschieden sich für ein kleines | |
Schlösschen im Braunen (die Nazis sollen da früher mal residiert haben), | |
und nach Micks Hochzeit mit Bianca im Mai 1971 zog die Hochzeitsparty | |
einfach dorthin um; Gram Parsons samt Frau und Heroinvorräten stieß hinzu, | |
Dr. John, Nicky Hopkins und Ian Stewart ließen ein Klavier aufstellen, Mick | |
Taylor brachte sein Schminkköfferchen mit, Jagger parkte die hochschwangere | |
Ehefrau unter tausend Liebesschwüren in Paris und los konnte es gehen - die | |
Stones waren in der Stadt. Man feierte und wohnte und schlief kreuz und | |
quer durch diese tumultuösen Monate wie einst die Protagonisten in | |
Boccaccios Decamerone, und wenn Keith im Morgengrauen mit seiner | |
musikalischen Entourage Richtung Kellerstudio trödelte, konnte man Mick mit | |
den Zähnen knirschen hören: Doch der Hausherr war Keith, was soll man | |
machen? | |
Bitte 18-mal durchklicken! | |
Charlie Watts beschreibt den Arbeitsprozess: "Keiths Rezept ist einfach. | |
Man nehme einen Song, spiele ihn zwanzigmal, lasse ihn dann gut | |
durchziehen, spiele ihn wieder zwanzigmal, und dann taugt er entweder was. | |
Oder nicht." Jagger zischte später so was wie "lausig" und "keine Disziplin | |
in der Truppe", nahm die Bänder mit nach Los Angeles, fügte noch ein paar | |
Lyrics hinzu und gab es schließlich auf, seinen Gesang aus dem tiefblau | |
eingefärbten R & B-Schlamm zu extrahieren, den Richards und Produzent Jimmy | |
Miller da zusammengemixt hatten. | |
Was man auf "Exile on Main St." zu hören bekommt, immer noch, ist genau | |
diese Opposition zwischen Rock und Roll, zwischen Jagger und Richards. Der | |
gerade auf dem falschen Fuß erwischte Musik-Bürokrat versus egomanischer | |
Momentmensch. Von "Rocks Off" über "Rip this Joint" bis "Turd on the Run" | |
hörte man dieses unglaubliche Eingespieltsein, dieses Selbstverständliche | |
unendlich oft geübter Spielzüge (würde man im Fußball sagen), diese | |
Automatismen, die den Teppich erst zum Fliegen bringen, diesen Groove eines | |
glücklichen Moments - ständig wird beschleunigt und voll abgebremst, als | |
sei es die einfachste Übung der Welt. Dazu diese Anfänge! Bitte im | |
CD-Player 18-mal durchklicken. Brennender Gummi. Lautpoesie. Wie 18 große | |
erste Sätze aus Jahrhundertromanen, bei denen niederbayerische Teenager | |
noch nicht mitkommen und nie mithalten können, weil sie nicht ahnen, was | |
ein Learjet sein könnte und wie sich das anfühlt, wenn eine Balletttänzerin | |
auf deinem erigierten Schwanz eine Pirouette dreht. | |
Rock n Roll ist in einem ganz positiven Sinne mit "Exile on Main St." | |
erwachsen geworden. Selbstbestimmt. Frei. Souverän. Aber auch dekadent und | |
entrückt. Sogar Jagger erliegt diesem Sog des langen Moments, der | |
stillstehenden Zeit, der Faszination am Stones-Sein, vertreibt seinen | |
Nebenbuhler Gram Parsons vom Hofe (selbst in der CD-Neuauflage und der DVD | |
findet er keine Erwähnung) und pimpt sein Ego auf, indem er sich an Anita | |
Pallenberg ranmacht. | |
Dazu singt er in seinem feinsten Fake-Amerikanisch, dreht und rollt sich | |
wie eine läufige Kätzin, wulst den Lipp und tut den Mick. "Exile on Main | |
St." leuchtet von innen heraus, es glüht wie Hölle, auch nach vierzig | |
Jahren noch, ein Leuchtfeuer des Hedonismus. Des menschlichen Glücks. Ein | |
kolossaler Irrtum. Wie alle schönsten Dinge des Lebens. | |
17 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Karl Bruckmaier | |
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