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# taz.de -- Filmfestspiele in Cannes: Im Schatten der Psychoflora
> Vielfalt im Wettbewerb: Ken Loach übt Sozialkritik, Pedro Almodóvar gibt
> den gnadenlosen Biografen und Jessica Hausner lässt Blumen blühen.
Bild: Regisseur Almodóvar („Dolor Y Gloria“) mit seinen Stars Banderas (2.…
Schlimme Zeiten brauchen schlimme Filme. Diese Maxime scheint sich der
britische Filmemacher Ken Loach für sein jüngstes Werk „Sorry We Missed
You“ auferlegt zu haben. Im Wettbewerb von Cannes ist es bisher mit Abstand
der brutalste Film. Nicht, weil er besonders blutig wäre. Er zeigt
vielmehr, extrem zugespitzt, eine Form von Gewalt, die ganz
selbstverständlich in den Alltag eingedrungen und dort nicht mehr
wegzudenken ist.
In „Sorry We Missed You“ erzählt Loach seine Geschichte noch
unversöhnlicher als in „I, Daniel Blake“ (2016), der ebenfalls in Cannes im
Wettbewerb lief. Die Hauptfigur ist diesmal ein Paketzusteller. Ricky (Kris
Hitchen) will nach diversen Gelegenheitsjobs endlich wieder etwas Stabiles
und heuert bei einem Paketdienst an. Der stellt ihn nicht ein, sondern
beschäftigt ihn als Subunternehmer. In dieser Position muss Ricky bald
erfahren, wie gnadenlos es ist, von Termin zu Termin zu rasen. Vor allem
wird er sehr unsanft darauf gestoßen, was seine Selbständigkeit an
persönlicher Haftung mit sich bringt.
Ken Loach knallt seinem Publikum mit moralischem Furor eine Anklage gegen
die digitalisierte Arbeitswelt vor die Füße und lässt kein emotionales
Register aus, um die erdrückenden Konsequenzen für die Beteiligten
auszubuchstabieren. Hier zerreißt es eine britische Kleinfamilie, die mit
den Schulden der Eltern und Schulproblemen des Sohns belastet ist.
Auslöser für den Zersetzungsprozess ist, dass Ricky, der Vater, jetzt unter
dem Diktat des Scanners steht. Mit dem Gerät registriert er seine Pakete –
und wird von ihm bei jedem Schritt überwacht. Das ist, wie oft bei Loach,
alles „a bit thick“, hinterlässt jedoch einen bleibenden Eindruck. Er
hämmert einem derart gnadenlos ein, was der komfortable Klick einer
Onlinebestellung für die Leute am Ende der Hackordnung dieses Geschäfts
bedeutet, dass man ihm recht geben muss. Selbst wenn man schwer genervt ist
von seinem Film.
## Ein Hauch von Alterswerk
Auf seine Weise gnadenlos ist ebenfalls Pedro Almodóvar bei der
Inszenierung von Autobiografie in seinem Wettbewerbsbeitrag „Dolor y
Gloria“. Ein alternder Regisseur (Antonio Banderas), dessen Leben von
körperlichen Gebrechen beherrscht ist, schlendert in Rückblenden durch
seine Kindheitserinnerungen. Er reflektiert die eigene Außenseiterrolle als
Kind, lässt frühe Erfahrungen von schwulem Begehren Revue passieren. Alles
begleitet von der strengen Mutter (Penélope Cruz).
Das fließt sehr elegant und wird von Almodóvar dank der wunderbar
farbenfroh ausgestatteten Wohnung des Regisseurs in bewährter optischer
Üppigkeit bestens zusammengehalten, und zudem getragen von Banderas’
mitleiderregend erschöpftem Spiel. Komische Momente erlaubt Almodóvar sich
wenige, die sitzen dafür dann umso treffender, doch über allem weht ein
Hauch von Alterswerk.
Mit noch faszinierenderen Farben setzt die Österreicherin Jessica Hausner
in „Little Joe“ die Risiken genmanipulierter Pflanzen ins Bild. Alice
(Emily Beecham) hat eine neue Blume entwickelt, die bei Menschen
Glücksgefühle auslöst. Aber bald muss sie erkennen, dass ihre Pflanze noch
ganz andere Dinge mit Menschen tut. Diese Auswirkungen sind ebenfalls
psychischer Art, bringen jedoch völlig unvorhergesehene Probleme mit sich.
## Der Mensch wird verschwinden
Bei alledem ist Hausner weniger am Umgang des Menschen mit der Natur
interessiert als am Wandel des Umgangs von Menschen untereinander unter
Einfluss psychoaktiver Substanzen. Die Pflanzen sind dafür eine prächtige
Allegorie: Sie sehen fantastisch aus, im doppelten Wortsinn.
Eingangs schon kreist die Kamera über den Setzlingen in einem Treibhaus, am
Rand: prächtige blaue tulpenartige Dinge, unscheinbare kleine rötliche
Blumen mit noch geschlossenen Blüten in der Mitte. Am Ende wird die Kamera
wieder über das Arrangement kreisen, doch dann gibt es nur noch die in
voller Blüte stehenden roten Pflanzen mit ihren wie Sonnentau
aufgefächerten Staubgefäßen.
Bei Hausner stehen die Menschen als kalte, blasse Erscheinungen deutlich im
Schatten der prachtvollen Psychoflora. Hausners Bilder sagen dabei: Der
Mensch wird verschwinden. Etwa, wenn die Kamera in einem Dialog zweier
Personen langsam zwischen ihnen vorbeizoomt, sodass sie schließlich aus der
Einstellung verschwinden. Allein die Handlung ist etwas zu stark gedehnt,
um die perfekten Bilder bis zum Ende zu tragen.
20 May 2019
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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