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# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Rohheit mit der feinen Klinge
> Nach dem Skandal um HC Straches Ibiza-Video inszeniert der
> österreichische Kanzler Kurz den Schulterschluss mit dem empörten
> Publikum.
Bild: Versiert hat sich Sebastian Kurz dem in Ungnade gefallenen Vizekanzler en…
Wenn etwas Einschneidendes passiert, ist es im öffentlichen Leben ebenso
wie im privaten: Die Menge an Energie muss erst verarbeitet werden. Dazu
muss das Geschehen wiedergekäut werden, bis es verdaut werden kann. Daran
wird seit Publikwerden des [1][Ibiza-Videos] hierzulande überall
gearbeitet: In einem endlosen Fluss in den sozialen Medien, in einer
überbordenden Witzproduktion, in den professionellen Kommentaren. Erst
allmählich setzt die Analyse ein.
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hat an jenem denkwürdigen
Samstag, Tag eins von #Ibizagate, bei seinem ersten Statement die Koalition
mit den Worten gekündigt: Genug ist genug! Damit ist es zur Ablehnung und
Stigmatisierung der FPÖ in einem Ausmaß gekommen, die deren Kritiker immer
schon gefordert haben. Aber wenn es nun genug ist, dann aus anderen
Gründen.
Nicht, weil es zu viel des Rassismus, der Hetze oder der Xenophobie wäre.
Warum ist es jetzt genug? Weil die FPÖ nun entblößt, demaskiert, entlarvt
ist? Weil ihr wahres Wesen sichtbar wurde? Die Maske gefallen ist?
Tatsächlich? Wurden in dem Video nicht vielmehr alle Vorurteile gegen
Politiker bestätigt – Korruption, Machtwillen und Gier?
Wie man weiß, verdankte Kurz seine „Machtübernahme“ vorrangig Intrigen und
der Sabotage der Arbeit seines Vorgängers – etwas, das ihm als Ausweis
seiner Befähigung zum Politiker ausgelegt wurde. Natürlich ist das ein
anderes Kaliber als HC Straches Auftritt, aber es war dennoch nicht aus dem
Lehrbuch für Moral und Anstand.
## Straches Videobild wird ihn begleiten
Warum erzeugt das Gerede von Strache in dem Video solch einen massiven und
einheitlichen Widerwillen? Warum erzeugt der Beweis, dass Politiker
wirklich so sind, wie der kleine Moritz sich das vorstellt – auch wenn die
Tölpelhaftigkeit überrascht –, einen Schock? Warum ruft die Bestätigung,
dass es wirklich so übel ist, wie man es immer gedacht hat, solch einen
kollektiven Ekel hervor? Warum erzeugt gerade das jenes Erdbeben, das
offenkundiger Rassismus oder nachgewiesene Nazi-Anleihen nie geschafft
haben?
Es ist wie beim Sex: Jeder weiß, dass Politiker Sex haben, aber ein Video
eines Politikers bei einer Sexparty ist unerträglich. Denn es
verunmöglicht, noch an die Fassade zu glauben. Das Ibiza-Video
verunmöglicht, dass wir weiterhin an das Werte-Schauspiel glauben, das wir
uns gegenseitig vorführen.
Dass Politiker sich mit diesem Schauspiel gegenseitig in Schach halten, ist
scheinbar das Beste, was man erreichen kann – so das nüchterne Fazit.
Zivilisiertheit in der Politik heißt also, das Publikum nie vergessen.
Selbst wenn man wie Strache nicht weiß, dass man mit seinem grauslichen
Gerede ein Publikum hat. Deshalb ist ein Comeback Straches in Wien – wie er
es derzeit anstrebt – schwer vorstellbar. Juristisch mag er rehabilitiert
werden, symbolisch nicht. Sein Videobild wird ihn ab jetzt begleiten.
## Elegant serviert Kurz sein stummes Leiden
Kurz hingegen inszeniert sich nun allein mit uns, mit seinem Publikum, zu
dem er die Bürger gemacht hat. Etwa in jenem Moment, in dem er die Harmonie
seiner „Koalition auf Augenhöhe“ umstandslos entsorgte in den Seufzer der
bedrängten Kreatur – also seinen –, der diesen Partner mit seinen Eskapaden
all die Zeit ertragen musste.
Elegant und versiert servierte er uns sein stummes Leiden an den täglichen
rassistischen „Einzelfällen“ und Exzessen seines Partners. War er mit
diesem gerade noch auf Gedeih und Verderb verbunden – gegen uns, das
Publikum, abgeschottet durch „Message Controlle“ –, so wechselte er flugs
den Verbündeten und erklärte uns plötzlich, dass nicht nur wir leiden,
sondern auch er gelitten habe (wie schwer muss die Message-kontrollierte
Harmonie ihm auf der Seele gelastet haben). Kurz schloss die Schulter mit
uns, um den nunmehr „entlarvten“, nunmehr feindlichen Ex-Partner den
finalen Koalitionsstoß zu geben.
Das war Kurz’ fliegender Koalitionswechsel – jener zu uns, dem Publikum,
mit dem er sich nun gegen den alten Partner verbündet. Hat das Video derbe
Rohheit sichtbar gemacht, so zeigte uns der aalglatte Wechsel des Kanzlers,
was Rohheit mit der feinen Klinge ist.
28 May 2019
## LINKS
[1] /Regierungskrise-in-Oesterreich/!5596341
## AUTOREN
Isolde Charim
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