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# taz.de -- Wildnis im Müritz-Nationalpark: Auch das Moor kehrt zurück
> Eine von Menschen geformte Landschaft soll nun wieder verwildern. Auf
> viele unterschiedliche Wege durchstreifen Besucher den Nationalpark.
Bild: Der Müritz-Nationalpark ist Deutschlands größter Nationalpark
Eine Oper klingt vielstimmig am Seeufer, ein trillerndes, schnatterndes,
pfeifendes Werk, obwohl sich keiner der Künstler sehen lässt. Von links
tönt flinkes Gezwitscher mehrerer Singvögel aus dem Birkenwald. Auf der
anderen Seite des Stegs schallt ein Trommeln auf Baumrinde dem Gesang
entgegen, gleichmäßig und fast brav, wie ein organischer Teil des Waldes;
ein Schwarzspecht, der sein Wohnzimmer ausstattet. Dann setzt vom See wie
auf Taktgebung der aufgeschreckte Ruf zweier Kraniche ein. Es ist noch früh
im mecklenburgischen Müritz-Nationalpark, kühl und friedlich. Nieselregen
liegt in der Luft.
Alte Kiefern recken ihre kahlen Stämme majestätisch in Richtung Himmel. Das
Unterholz ist an vielen Stellen abgefressen, Dammwild. Der größte
Nationalpark Deutschlands war zu DDR-Zeiten teilweise Staatsjagdgebiet, die
hohen Herren sollten viel vor die Flinte kriegen; noch heute gibt es große
Wildbestände hier. Und neue alte Wildnis: das Moor kehrt zurück.
Die Sonne scheint warm auf den Holzsteg, der noch rutschig ist vom letzten
Regen. Der Mühlensee im Westteil des Parks ist ein renaturiertes
Moorgebiet, das einst entwässert wurde. Abgestorbene Bäume ragen
gespenstisch aus dem stillen Gewässer. Wer weiter wandert, erreicht rechts
den Moorsteg. Der Morast, tief aufgewühlt, beweist unmissverständlich:
Wildschweine waren hier. Rutschige Bretter führen in Richtung See, immer
weicher wird der Boden darunter, Schilf ragt aus dem Wasser. Dann plötzlich
öffnet sich das Grün und gibt den Blick frei aufs reglose Wasser. Ein
Silberreiher flattert auf und verschwindet.
## Naturschutz und Heimattourismus
Die Müritz ist ein Beispiel dafür, wie sich in Deutschland Naturschutz und
Heimattourismus verbinden können. Müritz kommt aus dem Slawischen und
bedeutet „Kleines Meer“, und wer an einem der Badestrände des riesigen Sees
sitzt, fühlt sich mit dem Wellengang und den kreischenden Möwen
unwillkürlich an die Ostsee erinnert. Darum herum eine vielfältige Fauna
mit Kranichen, die fast ganzjährig auf der Wiese picken, mit mühelos
gleitenden Fischadlern und Seeadlern, und mit scheuem Rotwild, Dammwild
oder Mufflons.
Kurz vor der Wende gelang es in letzter Minute, zwei Bereiche zum
Naturschutzgebiet zu machen. Es entstand 1990 der größte Nationalpark
Deutschlands auf dem Festland. Und ein äußerst abwechslungsreicher. Er
bietet ein Potpourri an Verkehrs- und Ausflugsmitteln: Passagierschiffe auf
der Müritz, einen Nationalparkbus durch die Waldgebiete, die Pferdekutsche
auf ausgewiesenen Wegen, Kanus und Kajaks auf vielen der über hundert
Gewässer, Fahrräder zum Verleih für die Radwege, und natürlich die
Wanderpfade. Und langsam soll hier eine sekundäre Wildnis entstehen: Eine
ehemals von Menschen geformte Landschaft, die schrittweise und
selbstständig wieder verwildert. So frei wie irgendwie möglich.
„Die Natur ist hier weitgehend sich selbst überlassen“, erklärt
Nationalparkführerin Birgit Zahn. Ausgenommen sind Maßnahmen im Rahmen der
Verkehrssicherungspflicht. Die Forstwirtschaft ist seit 2017 beendet. Es
ist eine neue Ära, ein Versuch Richtung Zukunft: Schon im Mittelalter wurde
viel abgeholzt, noch zu DDR-Zeiten war hier ein reiner Wirtschaftswald. Und
nebenbei stellenweise Truppenübungsplatz der Russen, die mit ihren Panzern
alles platt fuhren, was im Weg stand.
„Die Mecklenburgische Sahara“, hieß der Platz früher scherzhaft wegen der
sandigen Freiflächen. Heute fühlt sich im dichten Grün nicht mehr viel nach
Sahara an. Die Sandböden haben die Region in vielerlei Hinsicht geprägt.
Bis heute ist die Kiefer an jeder Ecke zu sehen – sie kommt am besten mit
dem schwierigen Untergrund klar. Mit ihrem schnellen Wachstum taugte sie
außerdem einst gut zur Aufforstung. Laut Nationalparkverwaltung sind immer
noch 70 Prozent des Baumbestands Kiefern, obwohl man offensichtlich viel
lieber wieder Mischwald sähe, aber im Schatten der Kiefern tut der sich
schwer.
## Charmante Fachwerkdörfer und Ackerbürgerstädte
Auch die Bewohner der Region litten lange unter den Böden. Der
nährstoffarme Untergrund erschwerte die Landwirtschaft; und der Adel kam
vielfach erst gar nicht. „Für Ritter war die Gegend wegen der armen Böden
unattraktiv“, sagt Martin Kaiser von der Nationalparkverwaltung. Deshalb
gibt es hier bis heute kaum Gutshöfe. „Die Bauern blieben frei, aber
bettelarm.“ Nicht Landgüter, sondern Ackerbürgerstädte mit bunten
Fachwerkhäusern dominieren die Gegend.
Heute freut das die Urlauber: Außerhalb des Nationalparks sind Orte wie
Röbel oder Waren mit ihren kleinen Gassen und pittoresken Häuschen beliebte
Ausflugsziele. Charmante Fachwerkdörfer mit Kopfsteinpflaster drücken sich
an die Müritz, gemütliche Cafés und Restaurants, verschlafene Häfen, in
denen zur Sommerzeit die Besucher flanieren, und in einigen kleinen Orten
Glasmanufakturen oder Töpferhöfe.
In die Ackerbürgerstädte kam auch früh die weite Welt: Juden vor allem. Im
Mittelalter war es ihnen verboten, in Städten wie Rostock zu siedeln, und
so zogen sie in die Kleinstädte. Seit dem 12. Jahrhundert sind jüdische
Bürger an der Müritz nachgewiesen. Heute erzählt die restaurierte Synagoge
in Röbel mit vielen Artefakten die Geschichte einer langen Verwurzelung,
von der später niemand mehr wissen wollte. Fast alle jüdischen Bürger von
Röbel wurden während des Nationalsozialismus ermordet.
Und aus einem anderen Grund erlangte die Müritz-Gegend zur Nazi-Zeit
zweifelhafte Bedeutung: In Rechlin befand sich die einst größte
Erprobungsstätte der deutschen Luftwaffe. Hier wurde im Vorfeld des Zweiten
Weltkriegs heimlich für den großen Krieg trainiert. Ein
Luftfahrttechnisches Museum zeigt die Nachbauten alter Kampfflugzeuge. Wer
kleine historische Schätze sehen will, hat an der Müritz viele Optionen.
Und kann dann zurück in die Natur.
## Wildtiere beobachten
Nahe der Kleinstadt Boek, knapp außerhalb der Grenze des Nationalparks,
lenkt Gerd Piethe seinen Kremser. Er ist ein Original aus der Region,
selbst hier aufgewachsen, und fährt Touristen in der Kutsche in den
Wildpark. Der Wildpark ist eine Miniaturversion des Nationalparks: hohe
Kiefern auf moosigem Grund, Moorseen mit abgestorbenen Baumstümpfen, viel
Wild. Und eben auf dem 80 Hektar großen Areal deutlich leichter zu sehen.
„Man muss natürlich Glück haben“, sagt Piethe. Um dem Glück nachzuhelfen,
lockt er die Tiere mit trockenem Brot und Pfeifen. Die Hirsch-Dressur
funktioniert: Eine Herde Rotwild nähert sich der Kutsche bis auf einen
Meter. Den Größten mit dem abgestoßenen Geweih nennt er liebevoll Hirsch
Heinrich, nach dem DDR-Kinderbuchklassiker. In der Distanz flüchtet eine
große Gruppe Dammwild, die offenbar nicht viel auf Brot hält. Und von links
nähern sich zögernd zwei schwarze Mufflons. Als Piethe ein paar Meter
weiter an einem Feuchtgebiet um die Kurve biegt, fliegen drei Fischadler
gen Himmel.
Die Bestände des See- und Fischadlers haben sich in der Region stark
erholt. Und wer enttäuscht ist, weil es Wildtiere nur aus der Ferne zu
sehen gibt, hat hier eine europaweit seltene Möglichkeit. An einem
Fischadlerhorst südlich von Federow, der auf einem Hochspannungsmast liegt,
hat die Gemeinde Kargow eine Kamera installiert. Sie hat eine Zoom- und
Schwenkfunktion, einzigartig in Europa, so Birgit Zahn. Die Kamera macht es
möglich, die Fischadler und ihre Jungen zu beobachten, ohne ihre Ruhe zu
stören. Als säße man im Horst dabei.
Eine halbe Million Urlauber im Jahr wollen die Wildnis vor der Haustür
sehen und besuchen den Nationalpark. Ferienorte wie Waren am Nordufer des
Sees verdanken zahllose lokale Jobs dem Tourismus. Allerdings mit harten
Auszeiten. Die Saison an der Müritz geht von April bis Oktober; viele
Beschäftigte der Tourismusbranche sind im Winter arbeitslos oder schlagen
sich mit kleinen Gelegenheitsjobs durch. Oder gehen direkt weg aus der
Region. Für den kleinen Urlaub zieht die Müritz viele Fremde an. Es sind
vor allem Besucher aus den nahe gelegenen Bundesländern Sachsen,
Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin.
Aus Berlin fährt man weniger als zwei Stunden mit dem Zug. Der
Tourismusverband hofft darauf, dass das auch den Anwohnern das Leben
erleichtert. Denn die Müritz-Gegend leidet unter ähnlichen Problemen wie
viele ländliche Gebiete. „Die niedrige Einwohnerdichte führt – trotz
größter Anstrengungen unseres Landkreises – unweigerlich zum Abbau
regionaler öffentlicher Mobilität“, so Bert Balke, Geschäftsführer beim
Tourismusverband Mecklenburger Seenplatte. Sein Wunsch: Teil der
Metropolregion Berlin zu sein, etwa durch die Ausweitung des
Verkehrsverbundes Berlin Brandenburg (VBB) würde nicht nur die regionale
öffentliche Mobilität verbessern, sondern auch Pendlern und Zugezogenen die
Region schmackhafter machen. Am Wochenende an die Müritz zu fahren statt
zum Wannsee. Eine gute Anbindung an Berlin ist touristischer Trumpf.
Seit dieser Saison dürfen Übernachtungsgäste immerhin mit ihrer Gästekarte
den Bus rund um die Müritz umsonst nutzen. Nach Berlin zurückfahren kann
man auch jetzt schon problemlos mit dem Zug. Und theoretisch sogar mit dem
Kanu oder Kajak über die Havel. Das würde dann allerdings eine Woche
dauern.
21 May 2019
## AUTOREN
Alina Schwermer
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Nationalparks
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