| # taz.de -- Nationalpark Boddenlandschaft: „Wildnis ist unsere Heimat“ | |
| > Wenn man in der Vorpommerschen Boddenlandschaft nicht nur spazieren gehen | |
| > will, wandert man am besten mit einem Ranger. | |
| Bild: Buhnen im Morgenlicht bei Zingst. | |
| Wenn Lutz Storm den Rothirsch macht, weicht man unwillkürlich zurück. | |
| Mindestens fünfzehn Enden muss das Geweih haben, das er mit den Armen | |
| formt. Mit dem er auf dem Boden scharrt und Sand hochwirft, um den | |
| virtuellen Gegner zu beeindrucken. | |
| Der Anfangfünfziger mit dem üppigen grauen Haarschopf und dem dichten | |
| grauen Vollbart ist ein Erzähler mit vollem Körpereinsatz. Storm wird zum | |
| Tier. Oder zum Boden. Oder zum Baum. Je nachdem, was er gerade zeigen will. | |
| Jetzt im Herbst ist Rotwildbrunft. Im hohen Dünengras röhrt gerade ein | |
| Hirsch. | |
| Storm ist Ranger im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft an der | |
| Ostseeküste in Mecklenburg-Vorpommern. Wildhüter hätte man früher gesagt | |
| oder Naturparkwächter. Aber das trifft es nicht ganz. Die Ranger sind vor | |
| allem Vermittler zwischen Natur und Menschen in den Schutzgebieten. | |
| Sie sind für das Wohl von Tieren und Pflanzen zuständig, für Hege und | |
| Pflege, achten darauf, dass niemand Blumen pflückt oder Hunde frei | |
| herumlaufen lässt – vor allem aber versuchen sie, die Besucher zu | |
| begeistern, ihnen auf Führungen und Wanderungen, bei denen jeder mitlaufen | |
| kann, die Besonderheiten der Landschaften nahezubringen. Für Storm geht es | |
| dabei um mehr als um reines Wissen über Zusammenhänge und Prozesse. | |
| „Wildnis ist kein Ort, den wir besuchen, sie ist unsere Heimat“, sagt er. | |
| Und dieses Gefühl will er wecken – indem er Erlebnisse verschafft, das | |
| Gesehene verstehbar macht. | |
| ## Eine Hauruck-Aktion der letzten DDR Regierung | |
| Den Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gibt es – wie auch die | |
| Nationalparks Jasmund, Müritz, Sächsische Schweiz und Harz – seit 1990. | |
| Eine Hauruck-Aktion der letzten DDR-Regierung und vor allem des | |
| stellvertretenden Umweltministers Michael Succow, dem binnen weniger Monate | |
| gelang, was sonst bis zu 20 Jahre dauert: weite Flächen unter Schutz zu | |
| stellen. Nach der Wende übernahm die Bundesregierung das Programm zum | |
| großen Teil. | |
| Bei der Vorpommerschen Boddenlandschaft war das gar keine Frage. Wo sonst | |
| gibt es in Europa 20 Kilometer unbebaute Küste? Wo eine so schnell sich | |
| verändernde Strandlinie? Täglich tragen Wasser und Wind Sand vom Weststrand | |
| des Darßes ab und laden ihn an der Spitze, dem Darßer Ort, oder in der | |
| Prerower Nordbucht weiter östlich wieder ab. 600 Meter ist der Darßer Ort, | |
| wo der Leuchtturm den Scheitelpunkt zwischen Abtragung und Anlandung | |
| markiert, in den 25 Jahren Nationalpark ins Meer hinausgewachsen. Nicht | |
| alle waren 1990 glücklich damit, Forst- und Landwirtschaft in dem bis dahin | |
| stark genutzten Gebiet aufzugeben, damit sich dieser Prozess ungestört | |
| vollziehen kann. Menschen fürchteten um ihre Arbeitsplätze, Umweltschützer | |
| und Unterstützer bekamen böse Briefe, manche wurden direkt bedroht. | |
| Nach einem Vierteljahrhundert hat sich die größte Aufregung gelegt, auch | |
| weil sich gezeigt hat, dass der Nationalpark ökonomisch etwas bringt: Die | |
| Region ist eine der beliebtesten Urlaubsgegenden in Deutschland. Mehr als | |
| 30 Prozent der Besucher auf der Halbinsel Darß-Fischland-Zingst kommen | |
| explizit wegen des Nationalparks – und sie lassen mehr Geld da als der | |
| durchschnittliche Gast. Storm war schon früh überzeugt. Der gelernte | |
| Schmied hatte schon länger mit seiner Berufswahl gehadert und sich damals | |
| gerade in einem Feriendorf verdingt. Als dann Ranger gesucht wurden, sagt | |
| er, „da wusste ich: Das will ich“. Ein Jahr dauerte die Ausbildung zum | |
| Natur- und Landschaftspfleger. Aber auch nach 24 Jahren will er immer noch | |
| mehr wissen. | |
| ## Ein Ranger mit Leidenschaft und vielen Geschichten | |
| Wie der Strand irgendwann zum Buchenwald wird, das kann er den Gästen | |
| erklären, wie sich in dem Sand erst Flechten und Gräser entwickeln, wie | |
| sich das Land in Reffen und Riegen, trockene Dünenwälle und moorige Senken | |
| teilt, wie sich oben Kiefern, Eichen und Buchen und unten Erlen ansiedeln – | |
| was auf Luftaufnahmen den unvergleichlichen Eindruck eines gestreiften | |
| Waldes hervorruft. Und auch über die vielen Vogelarten, von denen etliche | |
| nur den Sommer hier verbringen, weiß er Bescheid. | |
| Bei so einem ist auch der Arbeitsalltag nicht um fünf zu Ende. Zu Hause | |
| wartet danach eine ganze Bibliothek auf ihn, Geschichtswerke vor allem und | |
| historische Erzählungen. Denn Storms Steckenpferd ist die | |
| „erdgeschichtliche Führung“ durch sein Revier. Bei der versucht er den | |
| Teilnehmern auch Zeiträume zu vermitteln, deutlich zu machen, wie alt | |
| welcher Streifen ist, den die Besucher gerade durchwandern. Dann hört man | |
| auf einmal: „Jetzt sind wir im Dreißigjährigen Krieg, jetzt nähern wir uns | |
| den Hungerjahren.“ | |
| Aber wenn dann an einer offenen Stelle wieder ein Brunftschrei zu hören | |
| ist, ist Storm auch ganz schnell wieder in der Gegenwart. „Und da ist ein | |
| zweiter Hirsch, der mit dem etwas kleineren Geweih“, sprudelt er hinter dem | |
| Feldstecher hervor. „Jetzt schätzen sie sich ab, jetzt könnte es zum Kampf | |
| kommen.“ Und der Ranger senkt den Kopf, scharrt mit den Füßen, verhakt die | |
| Finger wie die Hirsche ihre Geweihe. Und – wer gewinnt? Herausforderer oder | |
| Platzhirsch? „Sehen Sie selbst“, sagt Storm und gibt das Fernglas weiter. | |
| 18 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Willms | |
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