| # taz.de -- Rügen zwischen Klimawandel und Tourismus: Von unten nagt das Meer | |
| > Das Wasser steigt, die Außenküste der Ostseeinsel weicht. Bis zu 70 Meter | |
| > könnten in den nächsten hundert Jahren abgetragen werden. Trotzdem wird | |
| > weitergebaut. | |
| Bild: Die Inselküste rutscht und bröckelt gefährlich. | |
| In Lohme auf Rügen holpert ein Handwagen über eine Gasse. Zwei Männer | |
| ziehen ihn, ein junger und ein alter. Wo die Stelle ist, an der der Hang | |
| ins Meer gerutscht ist? „Richtung Hafen!“ Der Junge hebt die Hand, der Alte | |
| ruft: „Der Hang, der hält! Jedenfalls, solang ich lebe.“ Sie lachen und | |
| ziehen weiter. Wollte man dieser Expertise glauben, hält der Hang noch | |
| zwanzig Jahre, höchstens. | |
| Von den Balkonen des „Panoramahotels“ nebenan bietet sich ein grandioser | |
| Blick auf das einige Kilometer entfernt liegende Kap Arkona. Dort spülte | |
| die Ostsee Ende Januar das Mädchen an, das Weihnachten bei einem | |
| Küstenabbruch am Kap ums Leben gekommen war. Tagelang hatten Helfer nach | |
| der Zehnjährigen gesucht. | |
| Am Steilhang von Lohme verunglückte keiner, als am 19. März 2005 | |
| hunderttausend Kubikmeter Boden dreißig Meter in die Tiefe rutschten. | |
| Umgehend wurden Häuser und Wege ringsum gesperrt. Nur für ein Heim der | |
| Diakonie gab es keine Hoffnung mehr, als es sich zwei Meter neben der | |
| Abbruchkante wiederfand. Es musste weichen. | |
| Der Hang, inzwischen abgeflacht und trichterförmig, ist mit Matten bedeckt | |
| wie ein Futtersilo. Eine Firma bohrte Drainagerohre hinein, um den | |
| Grundwasserspiegel zu senken. Die Kanalisation wurde modernisiert, damit | |
| das Regenwasser nicht planlos versickert. Unten strömt das Wasser aus den | |
| Rohren ins Meer, und dort stellen sich auch Drahtkäfige, mit Steinen | |
| gefüllt, der Ostsee entgegen, sollte sie einmal über ihre Ufer treten. | |
| Lohme steht sicher. | |
| ## Gefahrenhinweiskarte für Lohme | |
| Zumindest „ausreichend“, sagte ein Gutachter, als vor zwei Jahren die | |
| Absperrungen wieder aufgehoben wurden, und präzisierte: „Wenn wir den Hang | |
| ständig beobachten.“ Die Kontrolle gewährleisten Messpunkte. Inselgäste | |
| können unbeschwert „den weiten Blick übers Meer genießen“. | |
| So wirbt die Uferresidenz „Haus am Meer“ und verspricht „Erholung in | |
| Einklang mit der Natur“. Der „Einklang“ besteht derzeit vor allem in der 2 | |
| Millionen Euro teuren Hangsicherung. Ohne diesen Eingriff würde aus dem | |
| „Haus am Meer“ früher oder später ein „Haus im Meer“. | |
| Geologen schätzen den Küstenrückgang in der Region Lohme auf 25 Meter in | |
| hundert Jahren. An anderen Stellen von Rügens Außenküste ist er noch weit | |
| größer. Rings um Kap Arkona und am gesamten Jasmund zieht sich die Küste | |
| zurück. Das Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie in Güstrow hat | |
| 2011 eine Gefahrenhinweiskarte für den Jasmund herausgegeben, die für die | |
| Ortslage Lohme eine „hohe“ und „sehr hohe Rutschungsempfindlichkeit“ | |
| konstatiert – die höchste und zweithöchste Kategorie in der | |
| Risikobewertung. | |
| Lohme thront auf einem Gemisch aus Geschiebemergel, Ton und Sanden, das die | |
| Gletscher der letzten Eiszeit zurückließen. Ein Fels in der Brandung ist | |
| das nicht, eher eine Siedlung auf einem vierzig Meter hohen Sandhaufen. | |
| Oder auf einem Schwamm, einem Schwamm, der sich vollgesaugt hat. | |
| ## Gefährlicher Schwamm | |
| „Was passiert mit einem Schwamm, der sich vollgesaugt hat?“, fragt Hilmar | |
| Schnick. „Der Schwamm bricht zusammen.“ Schnick ist Geologe und arbeitet | |
| seit über zwanzig Jahren auf Rügen, die meiste Zeit hier im Amt für das | |
| Biosphärenreservat Südost-Rügen, vierzig Kilometer südlich von Lohme. Keine | |
| Region in ganz Vorpommern ist so mit Wasser vollgesaugt wie der Jasmund. | |
| Grund sind die besonders starken Niederschläge und eine schwierige | |
| geologische Struktur, die den Abfluss erschwert. | |
| Der 50-Jährige ist viel unterwegs. Er beobachtet die Küste, untersucht | |
| Rinnsale, schaut sich die Abbruchstellen an. Schnick zeigt Aufnahmen, auf | |
| denen Waldboden zu sehen ist, wo das Grundwasser an die Oberfläche drückt. | |
| Bilder von Sturzbächen, Spalten und Buchen, die niedersinken, und immer | |
| wieder Fotos von Rutschungen. | |
| Und von unten nagt beständig das Meer – natürliche Vorgänge seit | |
| Jahrtausenden. Allerdings dürften sie sich beschleunigen. Hilmar Schnick | |
| hat seine Erfahrungen zu einem Vortrag zusammengefasst, der Titel: | |
| „Beobachtungen zum Klimawandel auf Rügen“. | |
| Zuerst schreckt er seine Zuhörer mit einer Simulation, die die Folgen des | |
| Meeresspiegelanstiegs zeigt: Von Rügen bliebe nicht viel mehr als ein | |
| Archipel. Der prognostizierte Meeresspiegelanstieg um 20 bis 30 Zentimeter | |
| bis 2100 lässt das Grundwasser versalzen, der damit verbundene Rückstau der | |
| Flüsse führt zur Vernässung und Überflutung. Der Rückgang der Küste | |
| beschleunigt sich, Abbrüche häufen sich, und an den Flachküsten fehlt der | |
| Sand; hinzu kommt Starkregen. | |
| ## Als Trauminsel verkauft | |
| Hilmar Schnicks Geologenstübchen befindet sich in einem alten Forsthaus, | |
| kein Meeresblick, aber Wald. Will jemand diese Prophezeiungen hören? Das | |
| Interesse halte sich in Grenzen, erzählt Schnick. Er war zu Gast bei der | |
| Linkspartei und dem Bündnis für Rügen, in einer Schule. Und sonst? Dass der | |
| Klimawandel Rügen verändern wird, dass das Wasser Strände und Küsten | |
| fortspülen könnte, diese Botschaft macht Schnick nicht beliebt, schon gar | |
| nicht bei jenen, die ihr Geld im Tourismus verdienen. | |
| Und das sind viele. Sie verkaufen Rügen als Trauminsel mit Reetdächern, | |
| Sonnenuntergang und Kindern am Strand. Eine Spaßbremse passt nicht ins | |
| Marketingkonzept. Am Lobber Ort hat Schnick schon ein wenig auf die Bremse | |
| getreten. Hier, 150 Meter hinter der Kliffkante, vermarktet das „Rügen | |
| Resort“ Häuser und Ferienvillen „in einzigartiger Wasserlage“. Auf einer | |
| Werbetafel warb es auch mit einem Pärchen, das über den Strand spaziert, | |
| malerische Steilküste inklusive. Schnick nahm dieses Bild in seinen Vortrag | |
| auf. | |
| Warum? Der Küstenrückgang am Lobber Ort beträgt 70 Meter in hundert Jahren, | |
| der mächtigste auf ganz Rügen. Pittoresk ist der Strand – und gefährlich, | |
| lebensgefährlich. Hier wurde am 26. März 2005 eine Berlinerin bei einem | |
| Küstenabbruch von Steinen erschlagen, genau eine Woche nach der Rutschung | |
| von Lohme. Das romantische Bild wurde inzwischen von der Tafel entfernt. | |
| Am 8,5 Hektar großen Rügen Resort wird derzeit mit Hochdruck gebaut. Um den | |
| verheißenen Meeresblick zu schaffen, wird der dreißig Meter breite | |
| Baumstreifen an der Kliffkante demnächst kräftig ausgelichtet. Die Bäume, | |
| die weichen müssen, sind mit roter Farbe markiert. Viel wird nicht übrig | |
| bleiben. Wind und Wellen werden ohne Baumkronen und Wurzelwerk noch | |
| leichteres Spiel haben. | |
| ## Dicht am Kliff | |
| Mit Auslichtung ist es manchmal nicht getan. Um Baufreiheit für zwanzig | |
| Häuser mitten im Küstenwald zu schaffen, ließ das Ostseebad Sellin am Neuen | |
| Weg tausend Buchen fällen. Warum so dicht am Kliff? „Die Abstände sind | |
| eingehalten“, verteidigt Reinhard Liedtke, parteiloser ehrenamtlicher | |
| Bürgermeister von Sellin, die Maßnahme. Liedkte residiert im alten Kurhaus | |
| von Sellin, oben am Hang, knapp hinter der Seebrücke. | |
| „Das letzte Haus steht achtzig Meter von der Kliffkante … oder | |
| hundertfünfzig?“ Liedtke zieht einen Plan hervor, entfaltet ihn in der | |
| Luft, misst nach, sagt zufrieden: „Neunzig Meter.“ Schaut auf. „Es gibt | |
| doch strengste Auflagen, sie müssen die Bebauungspläne dem Planungsamt | |
| vorlegen, dem Bauamt, dem Naturschutzamt. Liedtke zählt auf. | |
| „Und was die Bäume betrifft, es ist ja nicht so, dass es hochwertiges Holz | |
| war“, murmelt er und legt den Plan wieder weg. Wichtiger ist, dass am Neuen | |
| Weg neue Häuser stehen, bereit, bald wieder Gäste aufzunehmen. Sie bringen | |
| Geld, Arbeit, Zukunft. | |
| Meerespiegelanstieg? Küstenabbruch? „Ich bin 52 Jahre alt, Sturmfluten sind | |
| selten“, erwidert Liedtke. Der Hang ist sicher. Die neue Kanalisation, die | |
| verlegt wird, leite das Wasser nicht mehr ins Meer, sondern sicher in den | |
| Bodden. „Es sei denn, es kommt Starkregen von hundert Litern oder so.“ Aber | |
| überhaupt, Klimawandel. „Der eine seggt so, der andere seggt so“, fällt er | |
| kurz ins Platt. | |
| ## „Hochuferbebauungsplan“ | |
| Die Bäume hier sinken langsam ins Meer, so theatralisch wie auf den | |
| Aquarellen im Flur. Natur eben. An den Wänden im Amtszimmer hängen | |
| technisch akkurate Zeichnungen von den neusten Selliner Villen. Er werde | |
| demnächst Großvater. Nein, das Leben an der Küste gehe weiter, trotz der | |
| Leute, die „diese diffuse Angst“ erzeugten. | |
| Winkt noch mit dem „Hochuferbebauungsplan“ und verabschiedet sich. | |
| Bürgermeister zu sein sei schließlich nur sein Hobby. Gleich nebenan wartet | |
| seine andere Profession. Dort ist das Büro der Haus- und | |
| Grundstücksgesellschaft Sellin, Liedkte ist ihr Geschäftsführer. | |
| Hilmar Schnicks Prognose deckt sich mit der Studie „Klimaschutz und Folgen | |
| des Klimawandels in Mecklenburg-Vorpommern“ von 2010, die die Schweriner | |
| Landesregierung in Auftrag gegeben hat. Die Studie empfiehlt, neue | |
| Siedlungsprojekte im Bereich von Küstenrückgang und Steilküstenabbrüchen | |
| nicht zu genehmigen. | |
| Am Hang von Sellin drehen sich die Baukräne weiter. Rechts der Seebrücke | |
| wirbt ein Immobilienbüro schon für „Spitzenwohnungen mit fantastischem | |
| Meeresblick“, links wird der „Kaiserhof“ auferstehen, knapp an der | |
| Kliffkante. In Liedtkes „Hochuferbebauungsplan“ ist alle Gegenwehr | |
| gebündelt. Ein „Generalplan Küste Sellin“ wird derzeit erarbeitet. | |
| ## Fahrstuhl zum Strand | |
| Es klingt, als wäre man im Krieg. Mit Strandaufspülungen, drittem | |
| Wellenbrecher und verlängerter Ufermauer will die Gemeinde den | |
| Naturgewalten trotzen. Kosten mitsamt neuer Hochuferpromenade und Fahrstuhl | |
| zum Strand: 6,5 Millionen Euro. Am Ende des Winters, wenn der Frost | |
| nachlässt, häufen sich die Abbrüche. | |
| Teile des Selliner Hochuferwanderwegs sind schon im Winter abgerutscht. | |
| Risse klaffen im Boden. Am Wegweiser werden wanderfreudige Touristen seit | |
| einiger Zeit mit einem zweiten Schild begrüßt: „Vorsicht, Abbruch, | |
| Lebensgefahr!“ Der Pfad führt entlang der Kliffkante durch einen Buchenwald | |
| nach Süden, direkt vorbei am Neuen Weg. | |
| 19 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
| Thomas Gerlach | |
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| Schwerpunkt Klimawandel | |
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