# taz.de -- Seenotrettung im Mittelmeer: Die Strafe Salvinis | |
> Sie retteten Menschen in Seenot. Nun droht Mitgliedern der „Iuventa“-Crew | |
> eine Anklage aus Italien wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“. | |
Bild: Das inzwischen beschlagnahmte Rettungsboot „Iuventa“ der NGO „Jugen… | |
BERLIN/BRECIA/ROM taz | Noch könnte alles an ihr vorbeiziehen, wer weiß, | |
und Kathrin Schmidt könnte ihr altes Leben zurückbekommen. Sehr | |
wahrscheinlich ist das nicht. Und so sitzt Schmidt, 35, blonde Locken, | |
Daunenweste, an einem Nachmittag im April mit einer Gruppe von AktivstInnen | |
im Berliner Kulturzentrum Mehringhof. | |
Sogar ein Reporter der New York Times ist dabei und schreibt mit, während | |
die Runde darüber nachdenkt, was sie tun kann, wenn die Staatsanwaltschaft | |
in Sizilien Schmidt tatsächlich, wie signalisiert, wegen „Beihilfe zur | |
illegalen Einreise“ anklagt. | |
Bis zu 20 Jahren Haft sind dafür als Strafmaß vorgesehen, dazu drohen bis | |
zu 15.000 Euro Geldbuße pro nach Italien gebrachte Person. Insgesamt haben | |
die AktivistInnen auf der „Iuventa“ etwas mehr als 14.000 Menschen aus dem | |
Wasser geholt. Sechzehnmal ist sie dafür ausgelaufen. Bei sieben dieser | |
Missionen war Schmidt an Bord. | |
Als der im brandenburgischen Teltow ansässige Seenotrettungsverein Jugend | |
Rettet 2015 gegründet wurde, gingen einige der AktivstInnen noch zur | |
Schule. Sie sammelten über 150.000 Euro und kauften die „Iuventa“. 200 | |
Freiwillige fuhren im Laufe der Zeit als Crew mit. Zehn von ihnen droht nun | |
Gefängnis. | |
Mindestens vier Anwälte dürften nötig sein, um sie zu vertreten, bis zu | |
200.000 Euro wird das kosten. Dazu kommt womöglich noch einmal so viel für | |
Gutachten, Unterbringung von Zeugen, Spesen für Fachleute. Jeden Tag, sagt | |
Schmidt, sei sie nun mit der Vorbereitung beschäftigt: Akten lesen, mit | |
Anwälten sprechen, Geld sammeln. „Wir machen nichts anderes.“ | |
Schmidt stammt aus Berlin, hat dort Ergotherapie gelernt. 2009 zog sie nach | |
Neuseeland und arbeitete dort im psychiatrischen Krisendienst. Als sich | |
die Situation in Europa 2015 zuspitzte, ging sie als Sanitäterin nach | |
Nordsyrien, half Flüchtlingen auf der Balkanroute, später in Griechenland, | |
dort auch als Seenotretterin. Im August 2016 stieß sie zur „Iuventa“. | |
## Im Verdacht der Begünstigung „illegaler Einwanderung“ | |
Es war die dritte Mission des Schiffs. Schmidt hatte mehr Erfahrung als die | |
meisten anderen, wurde Teamleiterin, später kümmerte sie sich um die Crews | |
und das „De-Briefing“, das Besprechen der oft belastenden Einsätze. | |
Denn oft hätten die Helfer eben nicht mehr helfen können, sagt sie. Die | |
„Iuventa“, ein ehemaliger Fischkutter, kann nur wenige Menschen | |
transportieren. Normalerweise verteilte die Crew an den Unglücksstellen | |
Rettungsinseln. In Ausnahmefällen nahm sie auch Menschen an Bord, bis | |
größere Schiffe kamen, um die Geretteten an Land zu bringen. Doch manchmal | |
kamen nicht genug Schiffe für alle. „Wenn man Menschen in die Augen sieht | |
und nichts für sie tun kann – das wird uns für immer begleiten“, sagt | |
Schmidt. | |
Alle Einsätze seien von der italienischen Rettungsleitstelle MRCC in Rom | |
koordiniert worden. „Es gab keine Rettung ohne deren Autorisierung.“ Am 1. | |
August 2017 beorderte das MRCC die „Iuventa“ nach Lampedusa, angeblich um | |
gerettete Syrer, die ihnen die italienische Küstenwache übergeben hatte, zu | |
der Insel zu bringen. | |
Am Morgen des 2. August beginnt die Polizei, die 15-köpfige, überwiegend | |
aus Deutschen bestehende Crew zu verhören, und durchsucht das Schiff. | |
[1][Am Nachmittag wird es dann beschlagnahmt] – eine „präventive Maßnahme… | |
so die Staatsanwaltschaft in Trapani. Die Besatzung stehe im Verdacht der | |
Begünstigung „illegaler Einwanderung“ – dennoch bleibt sie auf freiem Fu… | |
Bei einer Pressekonferenz legt die Staatsanwaltschaft Bilder vor, die | |
Fotografen der Agentur Reuters bei zwei „Iuventa“-Einsätzen aufgenommen | |
hatten. Zu sehen ist, wie ein Beiboot ein leeres Flüchtlingsboot schleppt. | |
Die Staatsanwaltschaft behauptet, das Boot sei in libysche Gewässer | |
zurückgebracht worden, damit die Schlepper es wieder benutzen könnten. | |
Wissenschaftler der Londoner Goldsmith University weisen später anhand des | |
Bildmaterials nach, dass das Boot tatsächlich in Richtung Norden, also weg | |
von der libyschen Küste, geschleppt wurde. | |
Auf anderen Bildern ist zu sehen, wie zwei Männer in einem Holzboot den | |
Motor eines Flüchtlingsboots abbauen und mitnehmen. Die „Iuventa“ war dabei | |
vor Ort. Die Polizei schlussfolgert, deren Besatzung habe damit die | |
Aktivitäten von Schleppern zugelassen. | |
Schließlich zitiert die Polizei gegenüber italienischen Medien aus | |
Abhörprotokollen, ein Besatzungsmitglied der „Iuventa“ habe gesagt, Fotos | |
von Schleusern würden nicht an Behörden übergeben. Die Staatsanwaltschaft | |
schließt daraus, dass die Crew sich mit Schleppern abgesprochen und teils | |
agiert habe, ohne dass die Migranten in Gefahr gewesen seien. „Sie wurden | |
von den Schleusern eskortiert und unweit der libyschen Küste der Besatzung | |
der ‚Iuvent‘“ übergeben“, sagt Staatsanwalt Ambrogio Cartosio. | |
## Mehrere Jahrzehnte Haft drohen | |
Schon seit September 2016 hatte die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen | |
die „Iuventa“-Crew aufgenommen. Dass es nicht nur gegen „unbekannt“, | |
sondern gegen sie ging, erfuhr Schmidt aber erst im Juli 2018. Sie war | |
gerade auf einem Festival, ein anderes Crewmitglied kam mit einer Flasche | |
Schnaps. [2][Der Anwalt von Jugend Rettet hatte einen Brief aus Trapani | |
bekommen.] | |
Darin stand, dass gegen zehn von ihnen ermittelt werde, und zwar wegen | |
Beihilfe zur illegalen Einreise. „Mir war überhaupt nicht klar, was das | |
bedeutet,“ sagt Schmidt. Erst nach und nach begriff sie, dass sie für | |
Jahrzehnte ins Gefängnis kommen könnte. | |
Eine Weile hatten die Seenotretter viel öffentliche Unterstützung in | |
Italien. Doch die zerbröselte zwischen Ende 2016 und Mitte 2017. Es war die | |
Zeit, in der der Staatsanwalt Carmelo Zuccaro aus Catania mit | |
„Arbeitshypothesen“, wie er es nannte, an die Öffentlichkeit ging. Es war | |
die Zeit, als in Italien der Unmut darüber, von der EU im Stich gelassen zu | |
werden, immer weiter wuchs. „Einige“ NGOs könnten von Schleppern finanziert | |
worden sein, behauptete Zuccaro bei einer Anhörung im italienischen Senat. | |
Politiker griffen dies auf. „Der NGO-Wahnsinn muss beendet werden“, sagte | |
der [3][damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz]. Viele | |
würden sich zu „Partnern der Schlepper machen“. Der damalige | |
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte, die Italiener | |
„untersuchen Vorwürfe gegen NGOs: zum Beispiel, dass Schiffe ihre | |
Transponder regelwidrig abstellen und so ihre Position verschleiern“. | |
Zudem habe er Informationen aus Italien, wonach Schiffe in libysche | |
Gewässer fahren und vor dem Strand einen Scheinwerfer einschalten, um | |
Schleusern ein Ziel vorzugeben. | |
Die NGOs wiesen dies kategorisch zurück. Beweise gab es nie, auch | |
Staatsanwalt Zuccaro hatte keine. Anklage erhob er deshalb nie. Für die | |
öffentliche Meinung spielte das keine Rolle. Die Anschuldigungen blieben | |
hängen, bis heute. | |
Anfang Mai 2017 wurde das Schiff zum ersten Mal von den Behörden nach | |
Lampedusa beordert und dort inspiziert. Dabei haben die Behörden laut den | |
Ermittlungsakten das Schiff verwanzt. | |
Schmidt treibt um, dass manche der aufgezeichneten Gespräche falsch | |
verstanden werden könnten. Es habe ein „ziemliches Level an Sarkasmus | |
gegeben, um mit den Situationen zurechtzukommen“, sagt sie. Auf dem Schiff | |
habe es nie eine bezahlte Stelle gegeben, die Aktivisten hätten teils ihren | |
Jahresurlaub für den Einsatz genommen. „Und in den Zeitungen stand, dass | |
wir uns ’ne goldene Nase verdienen.“ Darüber hätten sie sich lustig | |
gemacht. | |
„Wir konnten gar nicht fassen, dass man so ein Bild davon haben kann. Wir | |
haben das durch den Kakao gezogen.“ Wenn ein Tag besonders lang war, seien | |
auf der Brücke Sätze gefallen wie: „Da wird sich unser Bankkonto freuen, | |
nach den 15 Booten heute.“ Schwarzer Humor, sagt Schmidt. | |
Die Order für ihre Einsätze sei stets von der römischen Rettungsleitstelle | |
MRCC gekommen. Die habe sie angewiesen, zu Unglücksstellen zu fahren. Diese | |
Anweisungen wurden über ein Satellitenfax übermittelt. „Wieder ein | |
Schlepperfax“, hätten sie dann gewitzelt, weil ihnen zu Unrecht unterstellt | |
worden sei, deren verlängerter Arm zu sein. „Das wird nun wohl auf dem | |
Schreibtisch des Staatsanwalts landen,“ fürchtet Schmidt. Und womöglich an | |
die Medien durchgestochen. | |
Außer auf Abhörprotokolle stützen sich die Ermittlungen auf Zeugen: | |
Sicherheitsleute der „Vos Hestia“, eines Rettungsschiffs der NGO Save the | |
Children. Sie waren für die private italienische Sicherheitsfirma IMI | |
Security Service am 5. September 2016 auf die „Vos Hestia“ gekommen. | |
Angeheuert hat sie der niederländische Reeder. Das Team bestand aus | |
Cristian Ricci, Chef von IMI und ein früherer Offizier der italienischen | |
Küstenwache, sowie den drei Ex-PolizistInnen Pietro Gallo, Lucio Montanino | |
und Floriana Ballestra. | |
Ihr Auftrag war es, die Sicherheit an Bord der „Vos Hestia“ zu | |
gewährleisten und zugleich bei den Rettungseinsätzen mit anzupacken. Doch | |
schnell erteilt sich das Team offenbar aus eigenen Stücken einen ganz | |
anderen Auftrag: den, über das in ihren Augen dubiose Wirken der NGOs vor | |
der libyschen Küste zu ermitteln. | |
## NGOs brechen Gesetze | |
In jenen Monaten haben die humanitären Retter*innen alle Hände voll zu tun. | |
2016 erreichten über 180.000 Menschen Italien über das Meer. Viele von | |
ihnen werden von den damals 13 NGO-Schiffen aus dem Wasser geholt. | |
Schon Mitte September 2016 glauben die IMI-Leute, sie hätten Belege dafür, | |
dass die NGOs dabei Gesetze brechen. In ihren Fokus gerät vor allem die | |
„Iuventa“, die bei Einsätzen immer wieder Seite an Seite mit der „Vos | |
Hestia“ operiert. | |
Drei Wochen nach ihrem Einsatzbeginn schicken die Sicherheitsleute Gallo | |
und Ballestra ein Dokument an den italienischen Auslandsgeheimdienst AISE. | |
Darin beschuldigen sie die „Iuventa“-Crew der Komplizenschaft mit den | |
Schleppern: „Es scheint, dass das Schiff „Iuventa“ ein fester Bezugspunkt | |
für die Schleuser ist, die von Libyen aus mit Kähnen voller Migranten in | |
See stechen“, schreiben sie. | |
Nur einen Tag später kontaktieren sie Assistenten des Lega-Chefs und | |
damaligen Oppositionspolitikers Matteo Salvini. Ihn füttern sie mit den | |
gleichen Informationen. Ob sie Geld verlangten, ist ungeklärt. | |
Allzu viel geben ihre Beobachtungen allerdings nicht her. In den Infos an | |
Salvini und den Geheimdienst schreibt IMI-Chef Ricci, er habe gesehen, dass | |
sich die „Iuventa“ der libyschen Küste bis auf 13 Seemeilen genähert habe. | |
Die Hoheitsgewässer allerdings umfassen nur 12 Seemeilen. Gallo will | |
Flüchtlinge gesehen haben, die nach ihrer Rettung Joints geraucht haben, | |
andere hätten ihre Messer behalten dürfen. | |
Salvini findet die Infos dennoch so interessant, dass er Ballestra | |
persönlich trifft, wie Gallo später in Interviews sagt. Die IMI-Leute | |
ermitteln weiter. Sie versuchen Gespräche an Bord aufzuzeichnen. Ballestra | |
fordert Gallo im Oktober per SMS auf, den NGO-Aktivisten Auskünfte zu | |
entlocken. Gallo erklärt heute, „Salvini oder die Lega“ hätte den | |
Nachforschungsauftrag gegeben. | |
## Keine Kontakte zu Schleppern beobachtet | |
Folgenlos bleibt das Wirken der IMI-Truppe nicht. Die Staatsanwaltschaft | |
von Trapani beginnt gegen die „Iuventa“-Crew zu ermitteln. Im Februar 2017 | |
telefoniert Gallo mit seinem Chef Ricci. Italienische Zeitungen | |
veröffentlichen später Zitate aus dem Protokoll. Gallo erklärt Ricci, dass | |
die Ermittler wissen wollen, ob die Aktivist*innen „direkte Kontakte | |
haben, was sie dabei verdienen, das muss rauskommen und dass sie von großen | |
internationalen Mächten finanziert werden“. | |
Es kommt aber nichts heraus. Die Retter reden weder über direkte Kontakte | |
zu den Schleusern, noch sprechen sie von Zuwendungen durch finstere Mächte. | |
Heute sagt Gallo in Interviews, er habe auch keine Kontakte zu Schleppern | |
beobachtet. | |
Den Spitzeln war bewusst, dass sie mit ihren Ermittlungen ein riskantes | |
Spiel treiben. Ballestra erklärte Salvini bei einem Treffen, dass sie ihren | |
Job riskierten, weil sie spionierten. Salvinis Leute hätten sie aber | |
beruhigt. „Es wurde gesagt, wir müssten uns keine Sorgen machen“, sagt | |
Gallo der Zeitung Il Fatto Quotidiano. | |
Tatsächlich ist Gallo seit dem Ende seines Einsatzes auf der „Vos Hestia“ | |
im Juli 2017 arbeitslos. Heute, so sagt er, würde er seine Informationen | |
an Salvini nicht mehr weitergeben. „Ich bereue das zutiefst.“ Die NGOs habe | |
er gar nicht aus dem Mittelmeer vertreiben wollen, sagte er dem Fatto | |
Quotidiano. | |
Es sei „natürlich“ wichtig, dass diese weiter vor Libyen blieben. „[4][W… | |
hätte sonst zuletzt die 47 Schiffbrüchigen gerettet?]“ Und er geht auf | |
Distanz zu Salvini. Der habe „die NGOs kriminalisiert und eine Wüste | |
hinterlassen“. | |
Wenn er heute in den Nachrichten höre, dass wieder einmal 170 Menschen | |
umgekommen seien, weil niemand da war, um sie zu retten, „fühle ich mich | |
verantwortlich“. Ihm sei es nur „um eine bessere Regulierung der Arbeit der | |
NGOS“ gegangen, „nicht um die Beendigung der Rettungseinsätze“. Eingetre… | |
sei aber „das Gegenteil dessen, was ich erhofft hatte“. | |
Womöglich aber sind ganz andere Hoffnungen Gallos nicht in Erfüllung | |
gegangen. Er schäme sich „auch wegen des Mangels an Solidarität und an | |
Gratifikationen“ für ihn und die IMI-Kollegen, sagte er dem Fatto | |
Quotidiano. Soll heißen: Er wurde für seine Spitzelei nicht so belohnt, wie | |
er sich das vorgestellt hatte. Wohl deshalb wandte er sich auch an die | |
Medien. | |
## Erst ein SSler, heute Seenotretter | |
Das tut auch Nicola Canestrini. Er will beweisen, dass die Anschuldigungen | |
Gallos Lügen sind. Zum Treffen schlägt der Strafverteidiger ein Café vor | |
dem Eingang des Oberlandesgerichts von Brescia in Norditalien vor. Der | |
Landroverschlüssel liegt vor ihm auf dem Tisch, das Purpur seiner | |
Häkelkrawatte passt exakt zu den dünnen Fäden, die in sein nachtblaues | |
Fischgrätensakko eingewebt sind. | |
Er spricht Deutsch mit Südtiroler Akzent. „Ich bin mir sicher, dass Kathrin | |
Schmidt mit einem Freispruch rausgehen wird“, sagt er. Vielleicht muss er | |
das sagen, vielleicht stimmt es auch. Aber bis dahin können Jahre vergehen. | |
Der 46-Jährige ist kein Szeneanwalt, seine Klienten sind keineswegs nur vom | |
Schlage Schmidts: Unter anderem vertrat er den SS-Unterscharführer Wilhelm | |
Ernst Kusterer aus Pforzheim, der von einem italienischen Militärgericht | |
für seine Beteiligung an dem Massaker von Marzabotto im Jahr 1944 in | |
zweiter Instanz verurteilt wurde. | |
„Sie haben ein Blutbad nach dem anderen verübt, fast 800 Menschen | |
ermordet“, sagt Canestrini über den Fall. Er habe Kusterer verteidigt, weil | |
„jeder das Recht auf einen fairen Prozess und Unschuldsvermutung hat“. | |
Canestrini entspricht, wenn man so will, der Kernklientel der Lega, die als | |
Interessenvertretung des reichen Nordens groß geworden ist. Sein | |
Urgroßvater Luigi Canestrini war der erste Jurist, dem Kaiser Franz Joseph | |
I. von Habsburg 1869 die Lizenz erteilte, im Trentino eine Kanzlei zu | |
eröffnen. Canestrini führt die Kanzlei heute in vierter Generation. Das | |
Trentino ist eine Hochburg der Lega. „Der Regionalrat ist zum ersten Mal | |
in der Nachkriegszeit Lega-dominiert.“ | |
Erst ein SSler, heute Seenotretter. Doch er hat auch noch andere Motive, | |
sagt Canestrini. Er schäme sich für das, was auf dem Meer geschehe. „Wir | |
lassen sie absaufen und kommen mit blöden Parolen, dass sie selber schuld | |
sind, weil sie losgefahren sind.“ | |
Canestrini zieht den Vergleich zu Polizisten, die in der NS-Zeit Juden an | |
den Grenzen des Dritten Reiches abgewiesen hätten. „Diese Polizisten | |
wussten genau, was mit den Menschen passiert. Aber sie haben gesagt, so war | |
eben das Gesetz.“ Im „Iuventa“-Fall hätten seine Mandaten aber nicht ein… | |
das Gesetz gebrochen. Seenotrettung sei „eine Pflicht“. | |
„Was sage ich meinen Kindern, wenn die fragen: Was habt ihr gemacht, als | |
Tausende im Meer ersoffen sind?“ Durch diesen Prozess hofft Canestrini | |
darauf eine Antwort zu bekommen. Und er wolle ihn nutzen, um seinerseits | |
die italienische Politik anzuklagen. Denn dass „ein paar Jugendliche, die | |
keine Erfahrung haben, ein Schiff kaufen müssen, um zu tun, was der Staat | |
machen müsste, das ist schon seltsam genug. Und die dann noch anzuklagen?“ | |
Die Staatsanwaltschaft könnte behaupten, es habe gar keine Seenot bestanden | |
– genau das haben Politiker immer wieder gesagt: dass die Boote von den | |
Rettern einfach abgeholt wurden. „Dann werden wir von jeder Mission ein | |
oder zwei Flüchtlinge anhören, die bezeugen, dass sie sehr wohl in Not | |
waren.“ | |
In Italien sind Angeklagte nicht verpflichtet, vor Gericht zu erscheinen. | |
Es kann ohne Weiteres in ihrer Abwesenheit verhandelt werden. Aber | |
Canestrini will, dass mindestens einer der zehn immer anwesend ist. „Ich | |
brauche Informationen aus erster Hand.“ Die Abhörprotokolle hat Canestrini | |
bis heute nicht. | |
## Kampf zwischen Zivilgesellschaft und Rechtspopulisten | |
Wie so oft, wenn politische Fragen vor Gericht verhandelt werden, wird es | |
auch auf die öffentliche Meinung ankommen. Dass es Zuccaro, der | |
Staatsanwalt, war, der damit begonnen hat, die Retter zu diskreditieren, | |
sei ein Unding, findet Canestrini. „Ein Staatsanwalt spricht durch seine | |
Anklagen, nicht mit Vermutungen in den Medien.“ | |
Die Retter würden deshalb heute in Italien nicht als Aktivisten gesehen, | |
sondern als Schlepper verunglimpft. „Taxi del mare“, Kriminelle, die damit | |
10.000 Euro im Monat verdienten – diese Summe kursierte in großen Medien. | |
„So wird ihnen ihr Idealismus abgesprochen.“ | |
Vielleicht ist Canestrini bald einer der wichtigsten Gegner Salvinis. Der | |
wurde groß mit dem Versprechen, Italiens Häfen zu schließen. Salvinis | |
Social-Media-Macht und Popularität sind in Italien gerade auf einem | |
Höchststand. Und er nutzt sie vor allem dazu, die Seenotretter anzugreifen. | |
In dem Kräftemessen um die öffentliche Meinung wird symbolisch der Kampf | |
zwischen der Zivilgesellschaft und den Rechtspopulisten insgesamt | |
ausgetragen. Wenn es keine Verurteilung gibt, wäre das ein klares Zeichen | |
für die Grenzen von Salvinis Macht. | |
Einmal hat Canestrini Salvini persönlich getroffen, 2016 war das, in | |
Philadelphia, in den USA. Canestrini war zu einer Fortbildung dort, Salvini | |
sah sich Trumps Wahlkampf an. Damals geschah nichts. Im Jahr zuvor hingegen | |
gab es einen direkten Konflikt. 2015 hatte Canestrini einen Pakistaner | |
vertreten, der aus Italien ausgewiesen wurde, weil er IS-Seiten im Netz | |
gelesen haben soll. | |
Salvini griff Canestrini deshalb auf Facebook an, allerdings ohne seinen | |
Namen zu nennen. Das tat kurz darauf aber ein Polizist unter Salvinis Post. | |
Tausende von Salvini-Fans überschütteten Canestrini mit Hass: Man müsse ihn | |
„massakrieren“, er müsse „zusammen mit dem Terroristen verbrannt werden�… | |
man solle „die Eier abschneiden, zuerst dem Anwalt, dann dem Pakistaner“, | |
einer schrieb, „hoffen wir, dass sie die Tochter des Anwalts abschlachten.“ | |
Damals saß Salvini nur im EU-Parlament. Was könnte er heute tun? | |
Canestrini wiegelt ab. Jeder Verteidiger sei „gewohnt, gegen die Flut zu | |
schwimmen.“ Auch gegenüber der Justiz sei Salvinis Macht begrenzt. „Er kann | |
nicht einfach mit dem Finger schnippen.“ Natürlich wüssten auch die Richter | |
in Trapani ,worum es geht, sie seien „auch Menschen, die spüren den Druck“. | |
Aber dass sie sich dann davon beeindrucken ließen, „kommt mir zu | |
unwahrscheinlich vor“, sagt Canestrini. Vielleicht muss er das auch sagen. | |
Die Justiz in Trapani äußert sich auf Anfrage der taz nicht zu dem Fall. | |
Für die Aktivistin Kathrin Schmidt ist klar, dass die Justiz ein Exempel | |
statuieren will. „Es gibt ein großes politisches Interesse daran, dass es | |
keine ZeugInnen mehr für das geben soll, was auf dem Meer passiert.“ | |
Transparenzhinweis: Christian Jakob hat 2018 und 2019 unentgeltlich zwei | |
Podiumsdiskussionen moderiert, an denen Kathrin Schmidt teilgenommen hat. | |
9 May 2019 | |
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