| # taz.de -- Sea-Watch simuliert Seenot: Die Not der anderen | |
| > Hunderttausende Menschen sind in den letzten Jahren mit dem Boot nach | |
| > Europa gekommen. Der Verein Sea-Watch hat eine Überfahrt simuliert. | |
| Bild: TeilnehmerInnen des Experiments: Kann die Simulation das Begreifen ermög… | |
| Die Wirklichkeit sieht zum Beispiel so aus: Ein Holzboot mit 350 Menschen, | |
| fast alle stammen aus Eritrea. Die Marmeladenbrote, die sie von den | |
| Schleppern bekommen haben, rührt keiner an. „Wir haben erwartet zu sterben. | |
| Wer kann da essen?“, sagt Merhawi Fsehaye, damals 15, heute 20 Jahre alt. | |
| Als er im April 2015 in Libyen auf das Boot steigt, steuert das Boot ein | |
| anderer Flüchtling, der nicht mit dem Kompass umgehen kann. Das Boot lenkt | |
| er mit einem Holzpaddel. Auf beiden Seiten müssen immer genau gleich viele | |
| Menschen sitzen, damit es nicht kentert. Steht jemand auf, weil er | |
| urinieren muss, wackelt das Boot noch stärker als sonst. Die meisten können | |
| nicht schwimmen, Fsehaye schon, „aber höchstens 100 Meter“, sagt er. Wäre | |
| er ins Wasser gefallen, hätte das seinen Tod bedeutet, da ist er sich | |
| sicher. Weil alle so viel Angst haben zu kentern, beten die Menschen | |
| gemeinsam oder weinen. Oder beides gleichzeitig. 44 Stunden geht das so, | |
| das weiß er noch genau. Dann kommt ein italienisches Militärschiff, | |
| Kadetten in weißen Uniformen nehmen die Menschen an Bord und bringen sie | |
| nach Sizilien. | |
| Das ist der Horror, der sich seit Jahren praktisch jeden Tag auf dem | |
| Mittelmeer abspielt. An ZeugInnen dieser Erfahrung mangelt es nicht. | |
| Ungefähr 670.000 Menschen sind in den letzten sechs Jahren per Boot nach | |
| Italien gekommen. Man könnte es sich von ihnen erzählen lassen. | |
| Zwei Werbeagenturen und die deutsche Seenot-Rettungs-NGO Sea Watch finden, | |
| dass diese Erzählung nicht reicht. Sie haben das Grauen auf dem Meer | |
| nachgestellt. In einer Halle in Niebüll in Schleswig-Holstein, ein großes | |
| Becken, die Wellen macht eine Maschine. Normalerweise kriegen hier | |
| Techniker, die in der Nordsee Windräder aufstellen, ihre | |
| Sicherheitstrainings. Im März haben Sea-Watch und die PR-Agentur Achtung! | |
| dort eine „Simulation einer Flüchtlingsüberfahrt über das Mittelmeer mit | |
| allem, was dazugehört,“ durchgeführt, „Dunkelheit, Wellengang und Kälte�… | |
| fünf Stunden lang. Prominente und Medienleute wurden angefragt | |
| teilzunehmen, auch die taz. Sie sollten, überwacht von Ärzten und | |
| Psychologen, die „Möglichkeit, diese Erfahrung hautnah zu erleben und aus | |
| erster Hand Eindrücke wiedergeben zu können.“ Lifeboat ist der Name der | |
| Simulation. | |
| Mitgemacht haben am Ende eine Journalistin der Bild-Zeitung und 39 | |
| Privatpersonen: Ein Polizist, eine Fotoassistentin oder ein Kaufmann, sie | |
| kommen aus Garmisch-Partenkirchen, Dresden oder Bielefeld, sie sind alt, | |
| jung oder irgendwas dazwischen. Und sie sind weiß. | |
| ## Flüchtlinge haben die Simulation mit vorbereitet | |
| Sieben von ihnen verließen das Boot vorzeitig, die restlichen Freiwilligen | |
| hielten bis zum Ende durch, trotz Übelkeit. [1][Der entstandene Film] ist | |
| seit Donnerstag im Netz zu sehen. | |
| Der Bedarf, die Erfahrung der Überfahrt nachzuerleben, ist nicht neu. Der | |
| Zeit-Reporter Wolfgang Bauer hat sich vor einigen Jahren für ein Buch eine | |
| Weile in Afrika als Flüchtling ausgegeben, wurde allerdings verhaftet, kurz | |
| bevor sein Boot tatsächlich von Ägypten aus das Mittelmeer überquert hatte. | |
| Der RTL-„Extremreporter“ Jenke von Wilmsdorff hat die Fahrt im | |
| Schlepperboot 2011 tatsächlich unternommen, „als Erster“. Und nun | |
| Polizisten und Fotoassistenten in einer Schwimmhalle in Niebüll. Was können | |
| sie erzählen, was die Flüchtlinge nicht selbst berichten könnten? | |
| Vier Flüchtlinge, die den Weg über das Meer hinter sich brachten, haben die | |
| Simulation mit vorbereitet: Ein Somalier, ein Sudanese, ein Syrer und | |
| Merhawi Fsehaye, der Eritreer, der jetzt in Hamburg lebt und einen | |
| Ausbildungsplatz als Kfz-Mechatroniker sucht. „Es gibt ja heute Menschen in | |
| Deutschland, die sagen, dass das Retten von Menschen verboten werden soll“, | |
| sagt er der taz. Deshalb habe er sich bereit erklärt, an dem Projekt | |
| mitzuwirken. | |
| „Natürlich können sich die Menschen niemals so fühlen, wie wir das getan | |
| haben“, sagt er. Monatelang in Libyen warten, auf ein Leben in Europa | |
| hoffen, „dann siehst du überall nur Meer und denkst an den Tod“. Und | |
| trotzdem: Es sei etwas Gutes, wenn Deutsche nachempfinden wollten, was er | |
| durchlebt hat, und es sei gut, wenn sie davon erzählen könnten, sagt er. | |
| ## „Die Möglichkeit zum Mitfühlen“ | |
| Es ist Werbung, natürlich. Werbung für das Retten, Werbung für Spenden, | |
| auch Werbung für die Agenturen selbst, die alle Kosten der Simulation | |
| getragen haben. NGO-Marketing, von dem der Non-Profit-Sektor letztlich | |
| lebt. | |
| Die Seite, auf der das Video zu sehen ist, startet mit Schilderungen der | |
| Flüchtlinge, unter anderem Fsehayes. Danach gibt es eine Sektion mit dem | |
| Titel „Der Verstand“. Darauf schildert der Psychologe Michael Thiel, was | |
| die Deutschen in dem Video können, was Fsehaye und die anderen Flüchtlinge | |
| nicht können: Er habe die Hoffnung, dass „Zuschauer sich einfacher mit | |
| Menschen aus unserem Kulturkreis identifizieren können“. Erst würden die | |
| Teilnehmer begreifen, was die lebensbedrohliche Situation auf dem Meer | |
| bedeutet, „dann begreifen die Zuschauer“. Dieses Experiment könne „das | |
| freilegen, was Menschen ausmacht: die Möglichkeit zum Mitfühlen“. | |
| 250 Millionen Menschen hoffen die Agenturen mit der PR-Kampagne in ganz | |
| Europa zu erreichen, ein kaum realistisches Ziel. Wie viel sie für die | |
| Kampagne ausgeben, wollen sie nicht sagen. „Das Geld steht nicht im | |
| Vordergrund“, sagt Katharina Schölzel von Achtung! | |
| „Wir wissen alle: Was weit weg ist, fällt uns schwer, präsent zu halten.“ | |
| Jedem sei klar, „dass Deutsche niemals in die Situation kommen“. Natürlich | |
| könnten die Menschen in der Niebüller Halle niemals die emotionale | |
| Belastung der Geflüchteten nachempfinden. Doch darauf komme es nicht an. | |
| Die Menschen in dem Video sollten den Zuschauern „möglichst ähnlich sein“, | |
| sagt Schölzel. Das könne, so hofft sie, eine andere Intensität der Empathie | |
| auslösen. | |
| Heißt das, dass wir keine Empathie mit Afrikanern empfinden können? | |
| „Wir haben das Gefühl, dass es eben leider doch einen Unterschied in der | |
| öffentlichen Wahrnehmung macht, wer in einem Boot sitzt,“ sagt Ruben | |
| Neugebauer von Sea-Watch. | |
| ## Boote versinken ohne großes Aufsehen | |
| Die NGO habe lange diskutiert, ob es legitim sei, die Fluchterfahrung für | |
| politische PR simulieren zu wollen. Allerdings sei es so, dass derzeit | |
| wieder „relativ regelmäßig“ Boote im Mittelmeer komplett verloren gehen, | |
| „ohne dass das zu großer Aufregung führt“. In der Woche im März, in der … | |
| Video gedreht wurde, sei ein Boot mit 41 Menschen in Seenot geraten, ihre | |
| Position sei bekannt gewesen, ein Notruf abgesetzt worden. Und trotzdem sei | |
| tagelang völlig unklar gewesen, ob die Menschen gerettet werden würden. Das | |
| sei derzeit fast die Regel, sagt Neugebauer. Beobachter gebe es kaum noch, | |
| die privaten Retter würden kriminalisiert, die anderen abgezogen. „Als in | |
| der Woche darauf ein norwegisches Kreuzfahrtschiff in Not geriet, war das | |
| dann sofort groß in den Nachrichten, und die Rettungskette ist sofort | |
| angelaufen.“ | |
| Natürlich komme das, was den Freiwilligen bei der Simulation passiert sei, | |
| niemals in die Nähe echter Fluchterfahrungen, die könne man nicht | |
| simulieren, sagt Neugebauer. Ziel der Kampagne sei, dass die Menschen sich | |
| über das Video auch besser mit den Insassen der echten Flüchtlingsboote | |
| identifizieren könnten. „Das hat wahrscheinlich schon etwas mit einem | |
| letztlich tief verankerten Rassismus zu tun.“ Diese Diskussion wolle die | |
| NGO mit der Lifeboat-Kampagne anstoßen. | |
| 25 Apr 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.lifeboatexperiment.org | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
| ## TAGS | |
| Mittelmeer | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Seenotrettung | |
| Sea-Watch | |
| Seenot | |
| Sea-Watch | |
| Tunesien | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| Niederlande | |
| Security | |
| Militärmission „Sophia“ | |
| Mittelmeer | |
| Sea Eye | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gerettete von „Sea-Watch 3“ an Land: Humanitärer Notstand auf See | |
| Die 65 aus Seenot Geretteten sind nun in Italien auf Lampedusa. Das | |
| Rettungsschiff wurde beschlagnahmt, Innenminister Salvini tobt. | |
| Schiffsunglück vor tunesischer Küste: Dutzende Tote im Mittelmeer | |
| Es ist eine der schlimmsten bekannten Schiffskatastrophen der vergangenen | |
| Monate: Mehr als 60 Menschen sind vor der tunesischen Küste gestorben. | |
| Seenotrettung im Mittelmeer: Die Strafe Salvinis | |
| Sie retteten Menschen in Seenot. Nun droht Mitgliedern der „Iuventa“-Crew | |
| eine Anklage aus Italien wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“. | |
| Urteil in den Niederlanden: Sea-Watch kann wieder retten | |
| Der Versuch, den Seenotrettern die niederländische Flagge zu entziehen, hat | |
| das Schiff am Auslaufen gehindert. Jetzt will die NGO wieder fahren. | |
| Fall des Psychiatrie-Patienten Mbobda: Sicherheitsdienst wieder in Uniform | |
| Nach dem Tod eines Patienten im Hamburger Uniklinikum geht der | |
| Sicherheitsdienst zur Normalität über. Die Mordkommission ermittelt. | |
| EU-Mission „Sophia“ im Mittelmeer: Mogherini will Einsatz wiederbeleben | |
| Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini fordert die EU-Staaten auf, | |
| wieder Schiffe ins Mittelmeer zu schicken. Die Mission war im März auf Eis | |
| gelegt worden. | |
| Kommentar Seenotrettung im Mittelmeer: Nicht länger Zeit schinden | |
| Schiffe, die Flüchtende retten, mussten zuletzt tagelang auf dem Mittelmeer | |
| warten. Die EU sollte sich endlich für universelle Menschenrechte | |
| einsetzen. | |
| Seenotrettung im Mittelmeer: „Unwürdiges Geschacher“ | |
| Deutschland blockiere eine dauerhafte Lösung zur Aufnahme von Geretteten, | |
| kritisieren die Grünen. Pro Asyl nennt Maltas Verhalten „feindselig“. |