| # taz.de -- Uiguren im Exil: Ein Baum ohne Wald | |
| > Regelmäßig verschwinden in China Uiguren. Tahir Qahiri kämpft für die | |
| > Freiheit seines Vaters – und gegen die eigene Verzweiflung. | |
| Bild: Kontakt zu Exilanten ist gefährlich für die Zurückgebliebenen – Tahi… | |
| Göttingen taz | Der Anruf kommt, als er gerade in der Unibibliothek | |
| Göttingen an seiner Doktorarbeit schreibt. Eine Nummer aus Amerika, es | |
| kommt ihm seltsam vor. Am anderen Ende meldet sich ein Journalist aus | |
| Washington, Exiluigure wie er, der fragt, was er zur Verhaftung seines | |
| Vaters sagen könne. „Es war wie ein Schlag ins Gesicht“, sagt Tahir Qahiri, | |
| 38, wenige Monate später. Sein Vater verhaftet! Er hatte gehofft, dass es | |
| nicht seinen Vater treffen würde, einen bekannten Sprachforscher in | |
| Xinjiang, seiner uigurischen Heimat. | |
| Fast viereinhalbmal so groß wie Deutschland ist das Gebiet im Nordwesten | |
| Chinas, das „Autonome Region“ genannt wird und in dem die chinesische | |
| Zentralregierung doch mit aller Macht jegliche Autonomie zerstören will. | |
| Über eine Million Uiguren könnten mittlerweile in sogenannten | |
| Umerziehungslagern sitzen, schätzt die Uno. Die Unterdrückung der | |
| muslimischen Minderheiten, zu denen neben den etwa 11 Millionen Uiguren | |
| auch Kasachen und Kirgisen gehören, hat in den vergangenen Jahren, | |
| begründet mit dem Kampf gegen Terror, ein beispielloses Ausmaß angenommen. | |
| Tahir Qahiri lebt seit zwölf Jahren in Deutschland. Er hat in Göttingen | |
| Germanistik und Turkologie studiert und promoviert jetzt über uigurische | |
| Literatur. Als der amerikanische Journalist ihn anruft, hat er schon seit | |
| einem Jahr keinen Kontakt mehr zu seiner Familie – weder zu seinen Eltern | |
| noch zu seinen vier Geschwistern. Sein Vater hatte ihn zuletzt gebeten, | |
| nicht mehr anzurufen. Kontakt zu Exilanten ist gefährlich für die | |
| Zurückgebliebenen. | |
| Die Angst breitet sich in Qahiri aus und lässt ihn barsch werden, als der | |
| Reporter fragt, ob er mehr darüber herausfinden und seine Familie | |
| kontaktieren könne: „Das ist Ihr Job, recherchieren Sie!“ In den nächsten | |
| Tagen kann Qahiri kaum schlafen, vergisst zu essen. Er raucht eine | |
| Zigarette nach der anderen, weint und klammert sich an der Ungewissheit | |
| fest. Immer wieder wählt er die Nummer seines Vaters, vergeblich. Der Anruf | |
| aus Amerika wird das Leben des uigurischen Doktoranden in Göttingen | |
| verändern. | |
| ## Hermetisch abgeriegelt | |
| Sieben Tage später. Gewissheit. Am 22. November sendet der amerikanische | |
| Journalist Shohret Hoshur einen Bericht zur Verhaftung von Mutällip Sidiq | |
| Qahiri. Hoshur spielt Audiomitschnitte seiner Anrufe bei Polizeistellen und | |
| der Universität Kashgar ein. Dutzende Stellen hat er dafür angerufen, die | |
| meisten antworten ausweichend oder abweisend, doch drei Mitarbeiter | |
| bestätigen, dass der Wissenschaftler drei Monate zuvor verhaftet wurde. | |
| Warum? Zählt er zu den Hunderten Intellektuellen, die in den letzten | |
| anderthalb Jahren wegen „Islampropaganda“ und „Verbreitung der arabischen | |
| Kultur“ eingesperrt wurden? | |
| Shohret Hoshur, der amerikanische Journalist, gilt als einer der wenigen, | |
| die verlässliche Informationen aus der hermetisch abgeriegelten Region | |
| erreichen. Der 54-Jährige floh in den 1990er Jahren aus Xinjiang wegen | |
| zweier Zeitungsartikel, die er geschrieben hatte. Heute arbeitet er für den | |
| US-Sender Radio Free Asia (RFA) und sendet aus dem Ausland Nachrichten über | |
| seine Heimat. Aus Xinjiang dringt nur wenig nach außen, was nicht offiziell | |
| sein darf. Hoshurs Recherchen gleichen mühsamen Spurensuchen, seine | |
| Informanten nehmen große Risiken auf sich, und um eine Nachricht zu | |
| bestätigen, muss er oft Hunderte Male bei den Lokalbehörden anrufen. | |
| Wie bei Mutällip Sidiq Qahiri. Dessen Sohn hört die Nachricht in der | |
| Unibibliothek in Göttingen, gegen Mitternacht, er geht zitternd nach Hause, | |
| kann die ganze Nacht nicht schlafen. Mutällip Sidiq Qahiri, 69, ist kein | |
| Regimekritiker. Seit über 30 Jahren gehört er der Kommunistischen Partei | |
| an, er ist ein angesehener und bekannter Wissenschaftler. Sein wichtigstes | |
| Werk, ein Namenslexikon, listet auf 900 Seiten uigurische Personennamen auf | |
| und erklärt ihre Herkunft, Bedeutung und Aussprache. Es sind Namen, die | |
| arabische und persische Ursprünge haben und von der wechselvollen | |
| Geschichte der Turkvölker erzählen, zu denen die Uiguren gehören. | |
| ## Die Bedeutung von Namen | |
| Namen sind wichtig in Xinjiang, sagt Qahiri, man könne an ihnen sehen, „wie | |
| multikulturell Uiguren sind“. Sein Vater habe als Erster die vorher nur | |
| mündlich überlieferten Namen sortiert und aufgeschrieben. Namen erzählen | |
| von der Geschichte der Region, die früher Teil der Seidenstraße war, und | |
| sie erzählen etwas über das Heute: Viele der arabischen Namen wurden 2014 | |
| verboten; es sind Namen wie Medina, Fatima oder Dschahida, die Kämpferin, | |
| die weibliche Form von Dschihad. Sie gelten nun als „extremistisch“, Kinder | |
| mit diesen Namen müssen umbenannt werden. | |
| „Die Kommunistische Partei will die Uiguren assimilieren, sie will, dass | |
| die Leute chinesische Namen annehmen“, sagt Qahiri. Namen waren in | |
| Xinjiang immer auch politisch. Der Name von Qahiris Vater lautete in den | |
| 1950er Jahren, als er ein kleiner Junge war, Qahir. Das missfiel dem Rektor | |
| der Grundschule: Der Name sei sehr altmodisch, sehr islamisch, denn er | |
| bedeutet „Einwohner Kairos“, also der Hauptstadt eines arabischen Landes. | |
| Das passe nicht ins sozialistische Zeitalter, entschied der Rektor, und der | |
| kleine Qahir musste seinen Namen wechseln und hieß fortan Mutällip. Doch | |
| als 1996 sein erster wissenschaftlicher Aufsatz erschien, veröffentlichte | |
| er ihn unter dem Namen Qahiri und nahm seinen alten Namen als Nachnamen. | |
| War das ein Fehler? | |
| Der Vorwurf der Islampropaganda sei „schlicht und einfach Quatsch“, sagt | |
| Qahiris Doktorvater, Jens Peter Laut. Mutällip Sidiq Qahiri sei ein | |
| angesehener Wissenschaftler, dessen Namensbuch sei ein Standardwerk. „Es | |
| ist ähnlich wie in der Türkei“, sagt Laut, „wenn Sie jemanden loswerden | |
| wollen, dann ist derjenige Gülen-Anhänger.“ Er wisse von vielen uigurischen | |
| Wissenschaftlern, die spurlos verschwanden, auch ein Stipendiat und einer | |
| seiner früheren Doktoranden sind darunter. Auch vor Ort forschen und nach | |
| alten Dokumenten suchen würde er derzeit nicht, sagt Laut. „Alles, was | |
| uigurisch ist, gilt als verdächtig.“ | |
| ## Seidenstraße durch Xinjiang | |
| Das war nicht immer so. Die chinesische Reform- und Öffnungspolitik der | |
| 1980er Jahre ermöglichte es Mutällip Sidiq Qahiri, zu studieren und | |
| Karriere zu machen. „Seine Forschung wurde drei Jahrzehnte lang von der | |
| chinesischen Regierung unterstützt“, sagt sein Sohn. Das Namenslexikon | |
| erschien bei einem chinesischen Verlag 2010, das Jahr, in dem Mutällip | |
| Sidiq Qahiri in den Ruhestand ging. Neben zahlreichen Büchern über | |
| Personennamen hatte er auch elf Lehrbücher für das moderne Hocharabisch | |
| verfasst. Der Journalist Hoshur sagt: „Er war ein berühmter Wissenschaftler | |
| in einem heiklen Bereich. Alle verbotenen Namen standen in seinem Buch. | |
| Angesichts der aktuellen Lage in der Region hätte es mich überrascht, wenn | |
| man ihn nicht eingesperrt hätte.“ | |
| Göttingen. Eine grüne Tafel steht in der Ecke des großen Seminarraums, die | |
| Fensterfront im neunten Stock gibt den Blick frei auf die | |
| Universitätsstadt, die sich in der Ferne in grünen Hügeln verliert. Tahir | |
| Qahiri, kurze schwarze Haare, eckige Brille, grüner Pulli über einem Hemd | |
| mit uigurischen Stickereien, begrüßt seine Studierenden, vier sind | |
| gekommen. Sie alle studieren Turkologie und lernen Uigurisch bei Qahiri. | |
| Thema des Seminars ist die Romantrilogie „Anayurt“, Heimatland. Der Autor | |
| Zordun Sabir beschreibt darin die Bauernaufstände in Xinjiang in den 1940er | |
| Jahren. Qahiri schreibt auch seine Doktorarbeit über das Buch. In China | |
| könnte er das nicht, wie viele andere Bücher ist „Anayurt“ dort verboten. | |
| Die Geschichte Chinas und Xinjiangs, das seit 1949 Teil der Volksrepublik | |
| ist, ist geprägt von Gewalt. Nach einer Phase relativer Autonomie kam es | |
| vor allem in den vergangenen Jahren immer wieder zu Unruhen und Anschlägen. | |
| Die chinesische Führung macht dafür extremistische uigurische Gruppen | |
| verantwortlich und legitimiert dami einen rigorosen Antiterrorkampf. Für | |
| Peking ist Stabilität in der Region wichtig: nicht nur wegen der | |
| Bodenschätze, sondern auch strategisch, weil [1][Chinas neue Seidenstraße] | |
| durch Xinjiang führt. | |
| ## Öffentlichkeit schaffen | |
| Nachdem Qahiri mehrmals erfolglos versucht hat, seinen Vater zu erreichen, | |
| hebt dieser am 18. Oktober 2017 endlich ab: „Ruf mich nicht an, mein Sohn. | |
| Du musst dich auf deine Promotion konzentrieren.“ Jeder Anruf aus dem | |
| Ausland ist gefährlich. Jeder Kontakt ins Ausland ist verdächtig. Es ist | |
| der Tag, an dem Qahiri das letzte Mal mit seinem Vater spricht, und auch | |
| der, an dem er wieder mit dem Rauchen beginnt. | |
| Seine Studierenden wissen von der Verhaftung seines Vaters. Auch seinem | |
| Doktorvater hat er davon berichtet. Blass im Gesicht sei er zu ihm gekommen | |
| und habe ihn um Hilfe gebeten, sagt Laut. Qahiri wollte den Fall seines | |
| Vaters bekannt machen. Laut habe ihm gesagt, er solle vorsichtig sein. Ihm | |
| abzuraten würde nichts bringen: „Er würde das trotzdem machen. Er ist ja | |
| eher impulsiv als gemäßigt.“ | |
| Und Qahiri macht es trotzdem. Es ist das Einzige, was er tun kann, um nicht | |
| völlig zu verzweifeln. Das Einzige, mit dem er seinem Vater helfen zu | |
| können glaubt: Öffentlichkeit. Ans Schwarze Brett der Uni hat er eine kurze | |
| Meldung der FAZ über seinen Vaters gepinnt, „Weg ins Lager“ steht darüber. | |
| Er hat unzählige Zeitungen angeschrieben, immer wieder. Mit der | |
| Gesellschaft für bedrohte Völker sprach er über seinen Vater und darüber, | |
| dass er für Völkerverständigung ist und kein Separatist. Qahiri macht sich | |
| Sorgen. Sein Vater hat nur noch eine Niere und muss nach einer Operation | |
| regelmäßig Herzmedikamente einnehmen. „Ich hoffe, dass er eine medizinische | |
| Behandlung bekommt, wenn der Staat den Druck der Medien spürt“, sagt | |
| Qahiri. Ob das wirklich hilft, ist ungewiss. | |
| ## Perfektionierte staatliche Überwachung | |
| In seiner Heimatstadt Kashgar war er das letzte Mal 2016. Er erkannte den | |
| Ort seiner Kindheit kaum wieder, so vieles hatte sich verändert seit seinem | |
| Besuch zwei Jahre zuvor. Militär patrouillierte auf den Straßen, | |
| Polizeiposten an jeder Ecke. Überall wurden Ausweise kontrolliert und | |
| Taschen durchwühlt, in der Bibliothek, im Supermarkt, im Café. Zwei Tage | |
| nach seiner Ankunft musste er zur Polizei gehen und melden, dass er aus | |
| Deutschland wiedergekommen war. Er wurde zwei Stunden lang verhört. Warum | |
| war er in Deutschland, wen kennt er dort? Für seinen neuen Personalausweis | |
| nahmen sie nicht nur Fingerabdrücke, sie machten auch Sprachaufnahmen von | |
| ihm und scannten seine Augen. Für die Sicherheit, sagten die Polizisten. | |
| In Xinjiang hat China das staatliche Überwachungssystem perfektioniert. | |
| Gesichtserkennung, Telefonüberwachung, umfangreiche Sammlungen | |
| biometrischer Daten der gesamten Bevölkerung: Hightechkontrolle und Big | |
| Data, zusammen mit einer autoritären Regierung verschmelzen zur Dystopie | |
| eines allmächtigen Staates. Die Menschenrechtsverletzungen hätten ein | |
| Ausmaß erreicht, das es in China seit der Kulturrevolution nicht gegeben | |
| habe, schreibt Human Rights Watch in einem Report von 2018. Es ist | |
| verboten, seine Kinder religiös zu erziehen, einen Bart zu tragen, den | |
| Koran zu besitzen. | |
| Die uigurische Bevölkerung ist in verschiedene Risikogruppen eingeteilt, | |
| viele Muslime bekommen regelmäßig Besuch von chinesischen Parteikadern, die | |
| bei ihnen übernachten und so das Familienleben überwachen. Der | |
| Sozialwissenschaftler Adrian Zenz spricht von einem „kulturellen Genozid“. | |
| Lange hatte die chinesische Führung die Existenz der Umerziehungslager | |
| bestritten und nur von „Ausbildungszentren“ gesprochen. Erst vor einigen | |
| Monaten wurden sie quasi nachträglich legitimiert; neue Vorschriften zur | |
| „Entradikalisierung“ erlauben nun Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und | |
| ideologische Umerziehung. Ehemalige Gefangene berichten von Gehirnwäsche in | |
| den Lagern, von Misshandlungen und auch von Folter. Sollten die Schätzungen | |
| stimmen, wäre jeder zehnte Uigure dort interniert. | |
| ## Keine Auskunft am Telefon | |
| Qahiri in Göttingen ist frei. Doch in seinem Kopf verschwimmen Realität und | |
| Fiktion immer öfter, er ist Gefangener seiner eigenen Gedanken. „Das | |
| Schicksal meines Vaters gleicht dem von Josef K. in Kafkas ‚Prozess‘“, | |
| sagt Qahiri, der seine Magisterarbeit über Kafka geschrieben hat. Was ist | |
| wahr, was nicht? „Was sonst in Krimis oder Horrorfilmen vorkommt, passiert | |
| plötzlich in der Realität“, sagt er. Er könne die Grenze nicht mehr klar | |
| ziehen. Es sei wie eine unsichtbare Macht, gegen die er ankämpft, die er | |
| aber nicht fassen kann. | |
| Auch von seiner Mutter weiß Qahiri nichts, auch ihr Handy ist | |
| ausgeschaltet. Die seiner Geschwister läuten noch, aber niemand hebt ab. | |
| Manchmal stellt er sich vor, wie die Polizei bei seinen Eltern die | |
| Bibliothek verwüstet, Bücher mitnimmt. Über 15.000 Bücher hat sein Vater | |
| gesammelt und sorgfältig katalogisiert. Als kleiner Junge saß Qahiri oft | |
| bei ihm im Zimmer, während der Vater arbeitete oder sich auf | |
| Parteisitzungen vorbereitete. „Er hat immer viel gearbeitet, die | |
| Wissenschaft war das Wichtigste für ihn.“ | |
| Doch sein großes Werk, das Namenslexikon, ist verboten, seit 2017 steht es | |
| auf der Liste der gefährlichen Bücher. Qahiri ruft an bei der Abteilung für | |
| politische Sicherheit der Universität, von der er glaubt, dass sie seinen | |
| Vater hat verhaften lassen. „Sie wollten wissen, wer ich bin, alle meine | |
| persönlichen Daten“, erzählt er. Wenn er nach seinem Vater fragte, hieß es | |
| „Kommen Sie her, am Telefon können wir nichts sagen.“ In seiner | |
| Verzweiflung wählte Qahiri irgendwann die Notrufnummer und rief: „Sagen Sie | |
| mir, wo sind die verhafteten Professoren der Universität Kashgar?“ | |
| ## Überwachung selbst im Exil | |
| Fünf Stunden Zeitunterschied liegen zwischen Göttingen und Kashgar. Für | |
| Qahiri geraten Zeit und Raum durcheinander. Manchmal, wenn er in Göttingen | |
| eine Straße entlanggeht, fühlt er sich nach Kashgar versetzt. Schlafen kann | |
| er ohnehin kaum noch. Nachts wacht er plötzlich auf und denkt: Was macht | |
| Vater jetzt? Wird er gefoltert, lebt er noch? Er träumt, wie er mit seiner | |
| Mutter und den Schwestern in der Wohnung in Kashgar sitzt, nur seine Brüder | |
| kommen nicht vor. Wo sind seine Brüder? So viele junge Männer wurden | |
| verhaftet. Seit er von der Verhaftung seines Vaters erfuhr, hat Qahiri | |
| sieben Kilo abgenommen. Er hadert mit seiner Ohnmacht, als ältester Sohn | |
| nichts tun zu können. Hadert damit, frei sein zu können und sich doch | |
| gefangen zu fühlen. | |
| Die Überwachung der Uiguren endet nicht an den Grenzen Xinjiangs. Human | |
| Rights Watch berichtet vom Druck der chinesischen Regierung auf andere | |
| Staaten, dort lebende Uiguren nach China abzuschieben. In Xinjiang selbst | |
| ist jeder verdächtig, der einmal im Ausland war, und jeder, dessen | |
| Angehörige dort leben. Doch die Uiguren im Exil sind gespalten, sagt Laut, | |
| „jeder befürchtet, der andere wäre ein Spitzel der anderen Seite“. | |
| Die Uiguren in der Diaspora stehen unter Druck. Qahiri erzählt von | |
| uigurischen Bekannten, die verzweifelten und nicht mehr länger schweigen | |
| wollen. Sie sind nicht allein: Seit Anfang Februar fragen die Exiluiguren | |
| immer lauter nach ihren Angehörigen. Damals hieß es in den türkischen | |
| sozialen Medien, ein bekannter uigurischer Musiker sei in einem der Lager | |
| gestorben. Türkische Medien berichteten darüber, selbst das türkische | |
| Außenministerium äußerte sich. Kurz darauf wurde ein Video des Sängers | |
| veröffentlicht, in dem er erklärt, er sei bei bester Gesundheit. Uiguren | |
| aus aller Welt forderten daraufhin ein Lebenszeichen ihrer Verwandten: | |
| China, zeig mir, dass meine Eltern noch leben. China, was passierte mit | |
| meiner Schwester? Eine neue Bewegung mit neuem Hashtag: #MeTooUyghur. | |
| ## Ungewisse Zukunft | |
| Ein paar Informationen bekam Qahiri dann doch. Eine Pekinger Freundin, die | |
| bei der Polizei arbeitet, fand für ihn heraus, dass für Ende Februar eine | |
| geheime Verhandlung vor dem Volksgericht Kashgar angesetzt war. Die | |
| Staatsanwaltschaft beschuldige Mutällip Sidiq Qahiri der „Propaganda zur | |
| Spaltung des Landes“. Mithilfe einer türkischen Menschenrechtsaktivistin, | |
| deren Mutter seit 2017 interniert ist, veröffentlichte Qahiri auf Facebook | |
| einen Aufruf. Er fordert darin eine öffentliche Verhandlung und einen | |
| unabhängigen Anwalt für seinen Vater. | |
| Sonst kann er nichts tun. Manchmal schleichen sich Schuldgefühle in seine | |
| Gedanken. Bei seinem letzten Besuch in Kashgar stritt er mit seinem Vater | |
| wegen Kleinigkeiten, es war kein schöner Abschied. Aber wann weiß man | |
| schon, dass etwas das letzte Mal sein wird? Qahiri schämt sich heute für | |
| sein Verhalten, ungeschehen machen kann er es nicht. Es gehört zu dieser | |
| Ohnmacht, die von ihm Besitz ergriffen hat. „Ich bin ein Baum, der vom Wald | |
| abgeschnitten ist“, sagt er. „Ich bin ein Einzelbaum geworden.“ | |
| Wie sein Leben nach der Promotion weitergehen wird, ist ungewiss. Qahiris | |
| Forschungsgebiet, die uigurische Literatur, ist die Nische eines | |
| Nischenfachs. Er will der Nachfolger seines Vaters werden. Ob er das an der | |
| Universität Göttingen kann, ist fraglich, Stellen gibt es kaum. Die | |
| Bundesregierung hat Abschiebungen von Uiguren und anderen muslimischen | |
| Minderheiten nach China ausgesetzt, seit im April letzten Jahres ein Uigure | |
| rechtswidrig abgeschoben wurde und gleich nach seiner Ankunft verschwand. | |
| ## Verschiedene Wahrheitsversionen | |
| Zurück nach Xinjiang kann Qahiri nicht. Schon wegen seines Vaters war er | |
| verdächtig, nun hat er sich selbst als Aktivist noch sichtbarer gemacht. | |
| Dann landet am 1. März um 16.30 Uhr eine E-Mail von seinem Bruder in seinem | |
| Postfach. Das erste Lebenszeichen aus seiner Familie seit fast 17 Monaten. | |
| Die Nachricht ist kurz, ohne jede Anrede, ohne Gruß: „Mein Vater war im | |
| Krankenhaus. Er soll mit dir reden. Ruf ihn an.“ Einen Tag später spricht | |
| Qahiri mit seinem Vater über WeChat, das chinesische Pendant zu WhatsApp. | |
| Er filmt den Videoanruf heimlich mit. | |
| „Wir konnten seit fast zwei Jahren nicht mehr miteinander reden“, sagt er | |
| zu seinem Vater, „und falls wir uns nicht mehr sehen, bleibe stark. Wenn | |
| ich dich auf irgendeine Weise verletzt habe, vergib mir …“ An dieser Stelle | |
| bricht seine Stimme, für einen Moment kann er nicht weiterreden. „Schau“, | |
| sagt sein Vater und beugt sich vor. Sein Kopf ist kahl rasiert, und er ist | |
| so dünn, dass nur wenig an den Mann erinnert, dessen Foto Qahiri so oft in | |
| die Kameras gehalten hat, „ich möchte, dass du an deine Mutter denkst. An | |
| deine jüngeren Brüder und älteren Schwestern, und an mich. Wenn du dich | |
| wirklich um uns sorgst, dann wirst du von morgen an das tun, was ich dir | |
| sage. Schreibe eine Stellungnahme, dass alles in den Medien über mich | |
| gelogen ist.“ | |
| Tahir müsse sich gegen die Lügen der ausländischen Medien wehren. Tue er | |
| das nicht, werde er „auf ihn als Sohn verzichten“. 47 Minuten telefonieren | |
| sie, 47 Minuten lobt sein Vater die Partei. „Der Staat ist wie ein großer | |
| Baum, und du bist ein Blatt, wenn es abfällt, findet es die Wurzel des | |
| Baums. Wie weit du auch von China weg bist, irgendwann kommst du zurück, du | |
| darfst dein Land nicht verraten.“ Glauben kann Qahiri die Worte seines | |
| Vaters nicht. Was ist passiert? „Alles ist unklar, verschiedene | |
| Wahrheitsversionen“. Wieder Kafka. Doch Qahiri hat sich entschieden. Kurz | |
| nach dem Telefonat nimmt er an #MeTooUyghur teil und fordert die | |
| vollständige Rehabilitation seines Vaters. Qahiri, der Name, den er mit | |
| seinem Vater teilt, hat noch eine weitere Bedeutung: Zorn. | |
| 2 May 2019 | |
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| Friederike Mayer | |
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