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# taz.de -- Uiguren im Exil: Ein Baum ohne Wald
> Regelmäßig verschwinden in China Uiguren. Tahir Qahiri kämpft für die
> Freiheit seines Vaters – und gegen die eigene Verzweiflung.
Bild: Kontakt zu Exilanten ist gefährlich für die Zurückgebliebenen – Tahi…
Göttingen taz | Der Anruf kommt, als er gerade in der Unibibliothek
Göttingen an seiner Doktorarbeit schreibt. Eine Nummer aus Amerika, es
kommt ihm seltsam vor. Am anderen Ende meldet sich ein Journalist aus
Washington, Exiluigure wie er, der fragt, was er zur Verhaftung seines
Vaters sagen könne. „Es war wie ein Schlag ins Gesicht“, sagt Tahir Qahiri,
38, wenige Monate später. Sein Vater verhaftet! Er hatte gehofft, dass es
nicht seinen Vater treffen würde, einen bekannten Sprachforscher in
Xinjiang, seiner uigurischen Heimat.
Fast viereinhalbmal so groß wie Deutschland ist das Gebiet im Nordwesten
Chinas, das „Autonome Region“ genannt wird und in dem die chinesische
Zentralregierung doch mit aller Macht jegliche Autonomie zerstören will.
Über eine Million Uiguren könnten mittlerweile in sogenannten
Umerziehungslagern sitzen, schätzt die Uno. Die Unterdrückung der
muslimischen Minderheiten, zu denen neben den etwa 11 Millionen Uiguren
auch Kasachen und Kirgisen gehören, hat in den vergangenen Jahren,
begründet mit dem Kampf gegen Terror, ein beispielloses Ausmaß angenommen.
Tahir Qahiri lebt seit zwölf Jahren in Deutschland. Er hat in Göttingen
Germanistik und Turkologie studiert und promoviert jetzt über uigurische
Literatur. Als der amerikanische Journalist ihn anruft, hat er schon seit
einem Jahr keinen Kontakt mehr zu seiner Familie – weder zu seinen Eltern
noch zu seinen vier Geschwistern. Sein Vater hatte ihn zuletzt gebeten,
nicht mehr anzurufen. Kontakt zu Exilanten ist gefährlich für die
Zurückgebliebenen.
Die Angst breitet sich in Qahiri aus und lässt ihn barsch werden, als der
Reporter fragt, ob er mehr darüber herausfinden und seine Familie
kontaktieren könne: „Das ist Ihr Job, recherchieren Sie!“ In den nächsten
Tagen kann Qahiri kaum schlafen, vergisst zu essen. Er raucht eine
Zigarette nach der anderen, weint und klammert sich an der Ungewissheit
fest. Immer wieder wählt er die Nummer seines Vaters, vergeblich. Der Anruf
aus Amerika wird das Leben des uigurischen Doktoranden in Göttingen
verändern.
## Hermetisch abgeriegelt
Sieben Tage später. Gewissheit. Am 22. November sendet der amerikanische
Journalist Shohret Hoshur einen Bericht zur Verhaftung von Mutällip Sidiq
Qahiri. Hoshur spielt Audiomitschnitte seiner Anrufe bei Polizeistellen und
der Universität Kashgar ein. Dutzende Stellen hat er dafür angerufen, die
meisten antworten ausweichend oder abweisend, doch drei Mitarbeiter
bestätigen, dass der Wissenschaftler drei Monate zuvor verhaftet wurde.
Warum? Zählt er zu den Hunderten Intellektuellen, die in den letzten
anderthalb Jahren wegen „Islampropaganda“ und „Verbreitung der arabischen
Kultur“ eingesperrt wurden?
Shohret Hoshur, der amerikanische Journalist, gilt als einer der wenigen,
die verlässliche Informationen aus der hermetisch abgeriegelten Region
erreichen. Der 54-Jährige floh in den 1990er Jahren aus Xinjiang wegen
zweier Zeitungsartikel, die er geschrieben hatte. Heute arbeitet er für den
US-Sender Radio Free Asia (RFA) und sendet aus dem Ausland Nachrichten über
seine Heimat. Aus Xinjiang dringt nur wenig nach außen, was nicht offiziell
sein darf. Hoshurs Recherchen gleichen mühsamen Spurensuchen, seine
Informanten nehmen große Risiken auf sich, und um eine Nachricht zu
bestätigen, muss er oft Hunderte Male bei den Lokalbehörden anrufen.
Wie bei Mutällip Sidiq Qahiri. Dessen Sohn hört die Nachricht in der
Unibibliothek in Göttingen, gegen Mitternacht, er geht zitternd nach Hause,
kann die ganze Nacht nicht schlafen. Mutällip Sidiq Qahiri, 69, ist kein
Regimekritiker. Seit über 30 Jahren gehört er der Kommunistischen Partei
an, er ist ein angesehener und bekannter Wissenschaftler. Sein wichtigstes
Werk, ein Namenslexikon, listet auf 900 Seiten uigurische Personennamen auf
und erklärt ihre Herkunft, Bedeutung und Aussprache. Es sind Namen, die
arabische und persische Ursprünge haben und von der wechselvollen
Geschichte der Turkvölker erzählen, zu denen die Uiguren gehören.
## Die Bedeutung von Namen
Namen sind wichtig in Xinjiang, sagt Qahiri, man könne an ihnen sehen, „wie
multikulturell Uiguren sind“. Sein Vater habe als Erster die vorher nur
mündlich überlieferten Namen sortiert und aufgeschrieben. Namen erzählen
von der Geschichte der Region, die früher Teil der Seidenstraße war, und
sie erzählen etwas über das Heute: Viele der arabischen Namen wurden 2014
verboten; es sind Namen wie Medina, Fatima oder Dschahida, die Kämpferin,
die weibliche Form von Dschihad. Sie gelten nun als „extremistisch“, Kinder
mit diesen Namen müssen umbenannt werden.
„Die Kommunistische Partei will die Uiguren assimilieren, sie will, dass
die Leute chinesische Namen annehmen“, sagt Qahiri. Namen waren in
Xinjiang immer auch politisch. Der Name von Qahiris Vater lautete in den
1950er Jahren, als er ein kleiner Junge war, Qahir. Das missfiel dem Rektor
der Grundschule: Der Name sei sehr altmodisch, sehr islamisch, denn er
bedeutet „Einwohner Kairos“, also der Hauptstadt eines arabischen Landes.
Das passe nicht ins sozialistische Zeitalter, entschied der Rektor, und der
kleine Qahir musste seinen Namen wechseln und hieß fortan Mutällip. Doch
als 1996 sein erster wissenschaftlicher Aufsatz erschien, veröffentlichte
er ihn unter dem Namen Qahiri und nahm seinen alten Namen als Nachnamen.
War das ein Fehler?
Der Vorwurf der Islampropaganda sei „schlicht und einfach Quatsch“, sagt
Qahiris Doktorvater, Jens Peter Laut. Mutällip Sidiq Qahiri sei ein
angesehener Wissenschaftler, dessen Namensbuch sei ein Standardwerk. „Es
ist ähnlich wie in der Türkei“, sagt Laut, „wenn Sie jemanden loswerden
wollen, dann ist derjenige Gülen-Anhänger.“ Er wisse von vielen uigurischen
Wissenschaftlern, die spurlos verschwanden, auch ein Stipendiat und einer
seiner früheren Doktoranden sind darunter. Auch vor Ort forschen und nach
alten Dokumenten suchen würde er derzeit nicht, sagt Laut. „Alles, was
uigurisch ist, gilt als verdächtig.“
## Seidenstraße durch Xinjiang
Das war nicht immer so. Die chinesische Reform- und Öffnungspolitik der
1980er Jahre ermöglichte es Mutällip Sidiq Qahiri, zu studieren und
Karriere zu machen. „Seine Forschung wurde drei Jahrzehnte lang von der
chinesischen Regierung unterstützt“, sagt sein Sohn. Das Namenslexikon
erschien bei einem chinesischen Verlag 2010, das Jahr, in dem Mutällip
Sidiq Qahiri in den Ruhestand ging. Neben zahlreichen Büchern über
Personennamen hatte er auch elf Lehrbücher für das moderne Hocharabisch
verfasst. Der Journalist Hoshur sagt: „Er war ein berühmter Wissenschaftler
in einem heiklen Bereich. Alle verbotenen Namen standen in seinem Buch.
Angesichts der aktuellen Lage in der Region hätte es mich überrascht, wenn
man ihn nicht eingesperrt hätte.“
Göttingen. Eine grüne Tafel steht in der Ecke des großen Seminarraums, die
Fensterfront im neunten Stock gibt den Blick frei auf die
Universitätsstadt, die sich in der Ferne in grünen Hügeln verliert. Tahir
Qahiri, kurze schwarze Haare, eckige Brille, grüner Pulli über einem Hemd
mit uigurischen Stickereien, begrüßt seine Studierenden, vier sind
gekommen. Sie alle studieren Turkologie und lernen Uigurisch bei Qahiri.
Thema des Seminars ist die Romantrilogie „Anayurt“, Heimatland. Der Autor
Zordun Sabir beschreibt darin die Bauernaufstände in Xinjiang in den 1940er
Jahren. Qahiri schreibt auch seine Doktorarbeit über das Buch. In China
könnte er das nicht, wie viele andere Bücher ist „Anayurt“ dort verboten.
Die Geschichte Chinas und Xinjiangs, das seit 1949 Teil der Volksrepublik
ist, ist geprägt von Gewalt. Nach einer Phase relativer Autonomie kam es
vor allem in den vergangenen Jahren immer wieder zu Unruhen und Anschlägen.
Die chinesische Führung macht dafür extremistische uigurische Gruppen
verantwortlich und legitimiert dami einen rigorosen Antiterrorkampf. Für
Peking ist Stabilität in der Region wichtig: nicht nur wegen der
Bodenschätze, sondern auch strategisch, weil [1][Chinas neue Seidenstraße]
durch Xinjiang führt.
## Öffentlichkeit schaffen
Nachdem Qahiri mehrmals erfolglos versucht hat, seinen Vater zu erreichen,
hebt dieser am 18. Oktober 2017 endlich ab: „Ruf mich nicht an, mein Sohn.
Du musst dich auf deine Promotion konzentrieren.“ Jeder Anruf aus dem
Ausland ist gefährlich. Jeder Kontakt ins Ausland ist verdächtig. Es ist
der Tag, an dem Qahiri das letzte Mal mit seinem Vater spricht, und auch
der, an dem er wieder mit dem Rauchen beginnt.
Seine Studierenden wissen von der Verhaftung seines Vaters. Auch seinem
Doktorvater hat er davon berichtet. Blass im Gesicht sei er zu ihm gekommen
und habe ihn um Hilfe gebeten, sagt Laut. Qahiri wollte den Fall seines
Vaters bekannt machen. Laut habe ihm gesagt, er solle vorsichtig sein. Ihm
abzuraten würde nichts bringen: „Er würde das trotzdem machen. Er ist ja
eher impulsiv als gemäßigt.“
Und Qahiri macht es trotzdem. Es ist das Einzige, was er tun kann, um nicht
völlig zu verzweifeln. Das Einzige, mit dem er seinem Vater helfen zu
können glaubt: Öffentlichkeit. Ans Schwarze Brett der Uni hat er eine kurze
Meldung der FAZ über seinen Vaters gepinnt, „Weg ins Lager“ steht darüber.
Er hat unzählige Zeitungen angeschrieben, immer wieder. Mit der
Gesellschaft für bedrohte Völker sprach er über seinen Vater und darüber,
dass er für Völkerverständigung ist und kein Separatist. Qahiri macht sich
Sorgen. Sein Vater hat nur noch eine Niere und muss nach einer Operation
regelmäßig Herzmedikamente einnehmen. „Ich hoffe, dass er eine medizinische
Behandlung bekommt, wenn der Staat den Druck der Medien spürt“, sagt
Qahiri. Ob das wirklich hilft, ist ungewiss.
## Perfektionierte staatliche Überwachung
In seiner Heimatstadt Kashgar war er das letzte Mal 2016. Er erkannte den
Ort seiner Kindheit kaum wieder, so vieles hatte sich verändert seit seinem
Besuch zwei Jahre zuvor. Militär patrouillierte auf den Straßen,
Polizeiposten an jeder Ecke. Überall wurden Ausweise kontrolliert und
Taschen durchwühlt, in der Bibliothek, im Supermarkt, im Café. Zwei Tage
nach seiner Ankunft musste er zur Polizei gehen und melden, dass er aus
Deutschland wiedergekommen war. Er wurde zwei Stunden lang verhört. Warum
war er in Deutschland, wen kennt er dort? Für seinen neuen Personalausweis
nahmen sie nicht nur Fingerabdrücke, sie machten auch Sprachaufnahmen von
ihm und scannten seine Augen. Für die Sicherheit, sagten die Polizisten.
In Xinjiang hat China das staatliche Überwachungssystem perfektioniert.
Gesichtserkennung, Telefonüberwachung, umfangreiche Sammlungen
biometrischer Daten der gesamten Bevölkerung: Hightechkontrolle und Big
Data, zusammen mit einer autoritären Regierung verschmelzen zur Dystopie
eines allmächtigen Staates. Die Menschenrechtsverletzungen hätten ein
Ausmaß erreicht, das es in China seit der Kulturrevolution nicht gegeben
habe, schreibt Human Rights Watch in einem Report von 2018. Es ist
verboten, seine Kinder religiös zu erziehen, einen Bart zu tragen, den
Koran zu besitzen.
Die uigurische Bevölkerung ist in verschiedene Risikogruppen eingeteilt,
viele Muslime bekommen regelmäßig Besuch von chinesischen Parteikadern, die
bei ihnen übernachten und so das Familienleben überwachen. Der
Sozialwissenschaftler Adrian Zenz spricht von einem „kulturellen Genozid“.
Lange hatte die chinesische Führung die Existenz der Umerziehungslager
bestritten und nur von „Ausbildungszentren“ gesprochen. Erst vor einigen
Monaten wurden sie quasi nachträglich legitimiert; neue Vorschriften zur
„Entradikalisierung“ erlauben nun Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und
ideologische Umerziehung. Ehemalige Gefangene berichten von Gehirnwäsche in
den Lagern, von Misshandlungen und auch von Folter. Sollten die Schätzungen
stimmen, wäre jeder zehnte Uigure dort interniert.
## Keine Auskunft am Telefon
Qahiri in Göttingen ist frei. Doch in seinem Kopf verschwimmen Realität und
Fiktion immer öfter, er ist Gefangener seiner eigenen Gedanken. „Das
Schicksal meines Vaters gleicht dem von Josef K. in Kafkas ‚Prozess‘“,
sagt Qahiri, der seine Magisterarbeit über Kafka geschrieben hat. Was ist
wahr, was nicht? „Was sonst in Krimis oder Horrorfilmen vorkommt, passiert
plötzlich in der Realität“, sagt er. Er könne die Grenze nicht mehr klar
ziehen. Es sei wie eine unsichtbare Macht, gegen die er ankämpft, die er
aber nicht fassen kann.
Auch von seiner Mutter weiß Qahiri nichts, auch ihr Handy ist
ausgeschaltet. Die seiner Geschwister läuten noch, aber niemand hebt ab.
Manchmal stellt er sich vor, wie die Polizei bei seinen Eltern die
Bibliothek verwüstet, Bücher mitnimmt. Über 15.000 Bücher hat sein Vater
gesammelt und sorgfältig katalogisiert. Als kleiner Junge saß Qahiri oft
bei ihm im Zimmer, während der Vater arbeitete oder sich auf
Parteisitzungen vorbereitete. „Er hat immer viel gearbeitet, die
Wissenschaft war das Wichtigste für ihn.“
Doch sein großes Werk, das Namenslexikon, ist verboten, seit 2017 steht es
auf der Liste der gefährlichen Bücher. Qahiri ruft an bei der Abteilung für
politische Sicherheit der Universität, von der er glaubt, dass sie seinen
Vater hat verhaften lassen. „Sie wollten wissen, wer ich bin, alle meine
persönlichen Daten“, erzählt er. Wenn er nach seinem Vater fragte, hieß es
„Kommen Sie her, am Telefon können wir nichts sagen.“ In seiner
Verzweiflung wählte Qahiri irgendwann die Notrufnummer und rief: „Sagen Sie
mir, wo sind die verhafteten Professoren der Universität Kashgar?“
## Überwachung selbst im Exil
Fünf Stunden Zeitunterschied liegen zwischen Göttingen und Kashgar. Für
Qahiri geraten Zeit und Raum durcheinander. Manchmal, wenn er in Göttingen
eine Straße entlanggeht, fühlt er sich nach Kashgar versetzt. Schlafen kann
er ohnehin kaum noch. Nachts wacht er plötzlich auf und denkt: Was macht
Vater jetzt? Wird er gefoltert, lebt er noch? Er träumt, wie er mit seiner
Mutter und den Schwestern in der Wohnung in Kashgar sitzt, nur seine Brüder
kommen nicht vor. Wo sind seine Brüder? So viele junge Männer wurden
verhaftet. Seit er von der Verhaftung seines Vaters erfuhr, hat Qahiri
sieben Kilo abgenommen. Er hadert mit seiner Ohnmacht, als ältester Sohn
nichts tun zu können. Hadert damit, frei sein zu können und sich doch
gefangen zu fühlen.
Die Überwachung der Uiguren endet nicht an den Grenzen Xinjiangs. Human
Rights Watch berichtet vom Druck der chinesischen Regierung auf andere
Staaten, dort lebende Uiguren nach China abzuschieben. In Xinjiang selbst
ist jeder verdächtig, der einmal im Ausland war, und jeder, dessen
Angehörige dort leben. Doch die Uiguren im Exil sind gespalten, sagt Laut,
„jeder befürchtet, der andere wäre ein Spitzel der anderen Seite“.
Die Uiguren in der Diaspora stehen unter Druck. Qahiri erzählt von
uigurischen Bekannten, die verzweifelten und nicht mehr länger schweigen
wollen. Sie sind nicht allein: Seit Anfang Februar fragen die Exiluiguren
immer lauter nach ihren Angehörigen. Damals hieß es in den türkischen
sozialen Medien, ein bekannter uigurischer Musiker sei in einem der Lager
gestorben. Türkische Medien berichteten darüber, selbst das türkische
Außenministerium äußerte sich. Kurz darauf wurde ein Video des Sängers
veröffentlicht, in dem er erklärt, er sei bei bester Gesundheit. Uiguren
aus aller Welt forderten daraufhin ein Lebenszeichen ihrer Verwandten:
China, zeig mir, dass meine Eltern noch leben. China, was passierte mit
meiner Schwester? Eine neue Bewegung mit neuem Hashtag: #MeTooUyghur.
## Ungewisse Zukunft
Ein paar Informationen bekam Qahiri dann doch. Eine Pekinger Freundin, die
bei der Polizei arbeitet, fand für ihn heraus, dass für Ende Februar eine
geheime Verhandlung vor dem Volksgericht Kashgar angesetzt war. Die
Staatsanwaltschaft beschuldige Mutällip Sidiq Qahiri der „Propaganda zur
Spaltung des Landes“. Mithilfe einer türkischen Menschenrechtsaktivistin,
deren Mutter seit 2017 interniert ist, veröffentlichte Qahiri auf Facebook
einen Aufruf. Er fordert darin eine öffentliche Verhandlung und einen
unabhängigen Anwalt für seinen Vater.
Sonst kann er nichts tun. Manchmal schleichen sich Schuldgefühle in seine
Gedanken. Bei seinem letzten Besuch in Kashgar stritt er mit seinem Vater
wegen Kleinigkeiten, es war kein schöner Abschied. Aber wann weiß man
schon, dass etwas das letzte Mal sein wird? Qahiri schämt sich heute für
sein Verhalten, ungeschehen machen kann er es nicht. Es gehört zu dieser
Ohnmacht, die von ihm Besitz ergriffen hat. „Ich bin ein Baum, der vom Wald
abgeschnitten ist“, sagt er. „Ich bin ein Einzelbaum geworden.“
Wie sein Leben nach der Promotion weitergehen wird, ist ungewiss. Qahiris
Forschungsgebiet, die uigurische Literatur, ist die Nische eines
Nischenfachs. Er will der Nachfolger seines Vaters werden. Ob er das an der
Universität Göttingen kann, ist fraglich, Stellen gibt es kaum. Die
Bundesregierung hat Abschiebungen von Uiguren und anderen muslimischen
Minderheiten nach China ausgesetzt, seit im April letzten Jahres ein Uigure
rechtswidrig abgeschoben wurde und gleich nach seiner Ankunft verschwand.
## Verschiedene Wahrheitsversionen
Zurück nach Xinjiang kann Qahiri nicht. Schon wegen seines Vaters war er
verdächtig, nun hat er sich selbst als Aktivist noch sichtbarer gemacht.
Dann landet am 1. März um 16.30 Uhr eine E-Mail von seinem Bruder in seinem
Postfach. Das erste Lebenszeichen aus seiner Familie seit fast 17 Monaten.
Die Nachricht ist kurz, ohne jede Anrede, ohne Gruß: „Mein Vater war im
Krankenhaus. Er soll mit dir reden. Ruf ihn an.“ Einen Tag später spricht
Qahiri mit seinem Vater über WeChat, das chinesische Pendant zu WhatsApp.
Er filmt den Videoanruf heimlich mit.
„Wir konnten seit fast zwei Jahren nicht mehr miteinander reden“, sagt er
zu seinem Vater, „und falls wir uns nicht mehr sehen, bleibe stark. Wenn
ich dich auf irgendeine Weise verletzt habe, vergib mir …“ An dieser Stelle
bricht seine Stimme, für einen Moment kann er nicht weiterreden. „Schau“,
sagt sein Vater und beugt sich vor. Sein Kopf ist kahl rasiert, und er ist
so dünn, dass nur wenig an den Mann erinnert, dessen Foto Qahiri so oft in
die Kameras gehalten hat, „ich möchte, dass du an deine Mutter denkst. An
deine jüngeren Brüder und älteren Schwestern, und an mich. Wenn du dich
wirklich um uns sorgst, dann wirst du von morgen an das tun, was ich dir
sage. Schreibe eine Stellungnahme, dass alles in den Medien über mich
gelogen ist.“
Tahir müsse sich gegen die Lügen der ausländischen Medien wehren. Tue er
das nicht, werde er „auf ihn als Sohn verzichten“. 47 Minuten telefonieren
sie, 47 Minuten lobt sein Vater die Partei. „Der Staat ist wie ein großer
Baum, und du bist ein Blatt, wenn es abfällt, findet es die Wurzel des
Baums. Wie weit du auch von China weg bist, irgendwann kommst du zurück, du
darfst dein Land nicht verraten.“ Glauben kann Qahiri die Worte seines
Vaters nicht. Was ist passiert? „Alles ist unklar, verschiedene
Wahrheitsversionen“. Wieder Kafka. Doch Qahiri hat sich entschieden. Kurz
nach dem Telefonat nimmt er an #MeTooUyghur teil und fordert die
vollständige Rehabilitation seines Vaters. Qahiri, der Name, den er mit
seinem Vater teilt, hat noch eine weitere Bedeutung: Zorn.
2 May 2019
## LINKS
[1] /Internationaler-Gipfel-in-Peking/!5587625
## AUTOREN
Friederike Mayer
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